Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne 1910-004/1931
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    BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES
    LIEBESLEBENS

    I.

    Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne

    (1910)

    Wir haben es bisher den Dichtern überlassen, uns zu schil-
    dern, nach welchen „Liebesbedingungen“ die Menschen ihre 
    Objektwahl treffen, und wie sie die Anforderungen ihrer 
    Phantasie mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Die 
    Dichter verfügen auch über manche Eigenschaften, welche sie 
    zur Lösung einer solchen Aufgabe befähigen, vor allem über 
    die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener Seelen-
    regungen bei anderen und den Mut, ihr eigenes Unbewußtes 
    laut werden zu lassen. Aber der Erkenntniswert ihrer Mit-
    teilungen wird durch einen Umstand herabgesetzt. Die Dichter 
    sind an die Bedingung gebunden, intellektuelle und ästhe-
    tische Lust sowie bestimmte Gefühlswirkungen zu erzielen, 
    und darum können sie den Stoff der Realität nicht unver-
    ändert darstellen, sondern müssen Teilstücke desselben iso-
    lieren, störende Zusammenhänge auflösen, das Ganze mildern 
    und Fehlendes ersetzen. Es sind dies Vorrechte der soge-
    nannten „poetischen Freiheit“. Auch können sie nur wenig 
    Interesse für die Herkunft und Entwicklung solcher seelischer 
    Zustände äußern, die sie als fertige beschreiben. Somit wird

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    es doch unvermeidlich, daß die Wissenschaft mit plumperen 
    Händen und zu geringerem Lustgewinne sich mit denselben 
    Materien beschäftige, an deren dichterischer Bearbeitung sich 
    die Menschen seit Tausenden von Jahren erfreuen. Diese Be-
    merkungen mögen zur Rechtfertigung einer streng wissen-
    schaftlichen Bearbeitung auch des menschlichen Liebeslebens 
    dienen. Die Wissenschaft ist eben die vollkommenste Los-
    sagung vom Lustprinzip, die unserer psychischen Arbeit 
    möglich ist.

    Während der psychoanalytischen Behandlungen hat man 
    reichlich Gelegenheit, sich Eindrücke aus dem Liebesleben der 
    Neurotiker zu holen, und kann sich dabei erinnern, daß man 
    ähnliches Verhalten auch bei durchschnittlich Gesunden oder 
    selbst bei hervorragenden Menschen beobachtet oder erfahren 
    hat. Durch Häufung der Eindrücke infolge zufälliger Gunst 
    des Materials treten dann einzelne Typen deutlicher hervor. 
    Einen solchen Typus der männlichen Objektwahl will ich hier 
    zuerst beschreiben, weil er sich durch eine Reihe von „Liebes-
    bedingungen“ auszeichnet, deren Zusammentreffen nicht ver-
    ständlich, ja eigentlich befremdend ist, und weil er eine ein-
    fache psychoanalytische Aufklärung zuläßt.

    1) Die erste dieser Liebesbedingungen ist als geradezu spezi-
    fisch zu bezeichnen; sobald man sie vorfindet, darf man nach 
    dem Vorhandensein der anderen Charaktere dieses Typus 
    suchen. Man kann sie die Bedingung des „Geschädigten 
    Dritten“ nennen; ihr Inhalt geht dahin, daß der Be-
    treffende niemals ein Weib zum Liebesobjekt wählt, welches 
    noch frei ist, also ein Mädchen oder eine alleinstehende Frau, 
    sondern nur ein solches Weib, auf das ein anderer Mann als 
    Ehegatte, Verlobter, Freund Eigentumsrechte geltend machen 
    kann. Diese Bedingung zeigt sich in manchen Fällen so un-
    erbittlich, daß dasselbe Weib zuerst übersehen oder selbst

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    verschmäht werden kann, solange es niemandem angehört, 
    während es sofort Gegenstand der Verliebtheit wird, sobald 
    es in eine der genannten Beziehungen zu einem anderen 
    Manne tritt.

    2) Die zweite Bedingung ist vielleicht minder konstant, 
    aber nicht weniger auffällig. Der Typus wird erst durch ihr 
    Zusammentreffen mit der ersten erfüllt, während die erste 
    auch für sich allein in großer Häufigkeit vorzukommen 
    scheint. Diese zweite Bedingung besagt, daß das keusche und 
    unverdächtige Weib niemals den Reiz ausübt, der es zum 
    Liebesobjekt erhebt, sondern nur das irgendwie sexuell an-
    rüchige, an dessen Treue und Verläßlichkeit ein Zweifel ge-
    stattet ist. Dieser letztere Charakter mag in einer bedeutungs-
    vollen Reihe variieren, von dem leisen Schatten auf dem Ruf 
    einer dem Flirt nicht abgeneigten Ehefrau bis zur offenkundig 
    polygamen Lebensführung einer Kokotte oder Liebeskünstlerin, 
    aber auf irgend etwas dieser Art wird von den zu unserem 
    Typus Gehörigen nicht verzichtet. Man mag diese Bedingung 
    mit etwas Vergröberung die der „Dirnenliebe“ heißen.

    Wie die erste Bedingung Anlaß zur Befriedigung von ago-
    nalen, feindseligen Regungen gegen den Mann gibt, dem man 
    das geliebte Weib entreißt, so steht die zweite Bedingung, die 
    der Dirnenhaftigkeit des Weibes, in Beziehung zur Betätigung 
    der Eifersucht, die für Liebende dieses Typus ein Be-
    dürfnis zu sein scheint. Erst wenn sie eifersüchtig sein können, 
    erreicht die Leidenschaft ihre Höhe, gewinnt das Weib seinen 
    vollen Wert, und sie versäumen nie, sich eines Anlasses zu 
    bemächtigen, der ihnen das Erleben dieser stärksten Empfin-
    dungen gestattet. Merkwürdigerweise ist es nicht der recht-
    mäßige Besitzer der Geliebten, gegen den sich diese Eifersucht 
    richtet, sondern neu auftauchende Fremde, mit denen man die 
    Geliebte in Verdacht bringen kann. In grellen Fällen zeigt 
    der Liebende keinen Wunsch, das Weib für sich allein zu

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    besitzen, und scheint sich in dem dreieckigen Verhältnis durch-
    aus wohl zu fühlen. Einer meiner Patienten, der unter den 
    Seitensprüngen seiner Dame entsetzlich gelitten hatte, hatte 
    doch gegen ihre Verheiratung nichts einzuwenden, sondern 
    förderte diese mit allen Mitteln; gegen den Mann zeigte er 
    dann durch Jahre niemals eine Spur von Eifersucht. Ein 
    anderer typischer Fall war in seinen ersten Liebesbeziehungen 
    allerdings sehr eifersüchtig gegen den Ehegatten gewesen und 
    hatte die Dame genötigt, den ehelichen Verkehr mit diesem 
    einzustellen; in seinen zahlreichen späteren Verhältnissen 
    benahm er sich aber wie die anderen und faßte den legitimen 
    Mann nicht mehr als Störung auf.

    Die folgenden Punkte schildern nicht mehr die vom Liebes-
    objekt geforderten Bedingungen, sondern das Verhalten des 
    Liebenden gegen das Objekt seiner Wahl.

    3) Im normalen Liebesleben wird der Wert des Weibes 
    durch seine sexuelle Integrität bestimmt und durch die An-
    näherung an den Charakter der Dirnenhaftigkeit herabgesetzt. 
    Es erscheint daher als eine auffällige Abweichung vom Nor-
    malen, daß von den Liebenden unseres Typus die mit diesem 
    Charakter behafteten Frauen als höchstwertige Liebesobjekte 
    behandelt werden. Die Liebesbeziehungen zu diesen 
    Frauen werden mit dem höchsten psychischen Aufwand bis 
    zur Aufzehrung aller anderen Interessen betrieben; sie sind 
    die einzigen Personen, die man lieben kann, und die Selbst-
    anforderung der Treue wird jedesmal wieder erhoben, so oft 
    sie auch in der Wirklichkeit durchbrochen werden mag. In 
    diesen Zügen der beschriebenen Liebesbeziehungen prägt sich 
    überdeutlich der zwanghafteCharakter aus, welcher ja 
    in gewissem Grade jedem Falle von Verliebtheit eignet. Man 
    darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung nicht die 
    Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebesverhältnis 
    das Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder sich nur einmal

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    innerhalb desselben abspiele. Vielmehr wiederholen sich 
    Leidenschaften dieser Art mit den gleichen Eigentümlichkeiten 
    – die eine das genaue Abbild der anderen – mehrmals im 
    Leben der diesem Typus Angehörigen, ja die Liebesobjekte 
    können nach äußeren Bedingungen, zum Beispiel Wechsel von 
    Aufenthalt und Umgebung, einander so häufig ersetzen, daß 
    es zur Bildung einer langen Reihe kommt.

    4) Am überraschendsten wirkt auf den Beobachter die bei 
    den Liebenden dieses Typus sich äußernde Tendenz, die Ge-
    liebte zu „retten“. Der Mann ist überzeugt, daß die Ge-
    liebte seiner bedarf, daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt 
    verlieren und rasch auf ein bedauernswertes Niveau herab-
    sinken würde. Er rettet sie also, indem er nicht von ihr läßt. 
    Die Rettungsabsicht kann sich in einzelnen Fällen durch die 
    Berufung auf die sexuelle Unverläßlichkeit und die sozial ge-
    fährdete Position der Geliebten rechtfertigen; sie tritt aber 
    nicht minder deutlich hervor, wo solche Anlehnungen an die 
    Wirklichkeit fehlen. Einer der zum beschriebenen Typus 
    gehörigen Männer, der seine Damen durch kunstvolle Ver-
    führung und spitzfindige Dialektik zu gewinnen verstand, 
    scheute dann im Liebesverhältnis keine Anstrengung, um die 
    jeweilige Geliebte durch selbstverfaßte Traktate auf dem 
    Wege der „Tugend“ zu erhalten.

    Überblickt man die einzelnen Züge des hier geschilderten 
    Bildes, die Bedingungen der Unfreiheit und der Dirnenhaftig-
    keit der Geliebten, die hohe Wertung derselben, das Bedürfnis 
    nach Eifersucht, die Treue, die sich doch mit der Auflösung 
    in eine lange Reihe verträgt, und die Rettungsabsicht, so wird 
    man eine Ableitung derselben aus einer einzigen Quelle für 
    wenig wahrscheinlich halten. Und doch ergibt sich eine solche 
    leicht bei psychoanalytischer Vertiefung in die Lebensgeschichte 
    der in Betracht kommenden Personen. Diese eigentümlich 
    bestimmte Objektwahl und das so sonderbare Liebesverhalten

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    haben dieselbe psychische Abkunft wie im Liebesleben des 
    Normalen, sie entspringen aus der infantilen Fixierung der 
    Zärtlichkeit an die Mutter und stellen einen der Ausgänge 
    dieser Fixierung dar. Im normalen Liebesleben erübrigen nur 
    wenige Züge, welche das mütterliche Vorbild der Objekt-
    wahl unverkennbar verraten, so zum Beispiel die Vorliebe 
    junger Männer für gereiftere Frauen; die Ablösung der Libido 
    von der Mutter hat sich verhältnismäßig rasch vollzogen. 
    Bei unserem Typus hingegen hat die Libido auch nach dem Ein-
    tritt der Pubertät so lange bei der Mutter verweilt, daß den 
    später gewählten Liebesobjekten die mütterlichen Charaktere 
    eingeprägt bleiben, daß diese alle zu leicht kenntlichen Mutter-
    surrogaten werden. Es drängt sich hier der Vergleich mit der 
    Schädelformation des Neugeborenen auf; nach protrahierter 
    Geburt muß der Schädel des Kindes den Ausguß der mütter-
    lichen Beckenenge darstellen.

    Es obliegt uns nun, wahrscheinlich zu machen, daß die 
    charakteristischen Züge unseres Typus, Liebesbedingungen wie 
    Liebesverhalten, wirklich der mütterlichen Konstellation ent-
    springen. Am leichtesten dürfte dies für die erste Bedingung, 
    die der Unfreiheit des Weibes oder des geschädigten Dritten, 
    gelingen. Man sieht ohne weiteres ein, daß bei dem in der 
    Familie aufwachsenden Kinde die Tatsache, daß die Mutter 
    dem Vater gehört, zum unabtrennbaren Stück des mütterlichen 
    Wesens wird, und daß kein anderer als der Vater selbst der 
    geschädigte Dritte ist. Ebenso ungezwungen fügt sich der 
    überschätzende Zug, daß die Geliebte die Einzige, Unersetz-
    liche ist, in den infantilen Zusammenhang ein, denn niemand 
    besitzt mehr als eine Mutter, und die Beziehung zu ihr ruht 
    auf dem Fundament eines jedem Zweifel entzogenen und nicht 
    zu wiederholenden Ereignisses.

    Wenn die Liebesobjekte bei unserem Typus vor allem 
    Muttersurrogate sein sollen, so wird auch die Reihenbildung

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    verständlich, welche der Bedingung der Treue so direkt zu 
    widersprechen scheint. Die Psychoanalyse belehrt uns auch 
    durch andere Beispiele, daß das im Unbewußten wirksame 
    Unersetzliche sich häufig durch die Auflösung in eine un-
    endliche Reihe kundgibt, unendlich darum, weil jedes Surrogat 
    doch die erstrebte Befriedigung vermissen läßt. So erklärt sich 
    die unstillbare Fragelust der Kinder in gewissem Alter daraus, 
    daß sie eine einzige Frage zu stellen haben, die sie nicht über 
    ihre Lippen bringen, die Geschwätzigkeit mancher neurotisch 
    geschädigter Personen aus dem Drucke eines Geheimnisses, das 
    zur Mitteilung drängt, und das sie aller Versuchung zum 
    Trotze doch nicht verraten.

    Dagegen scheint die zweite Liebesbedingung, die der Dirnen-
    haftigkeit des gewählten Objekts, einer Ableitung aus dem 
    Mutterkomplex energisch zu widerstreben. Dem bewußten 
    Denken des Erwachsenen erscheint die Mutter gern als Per-
    sönlichkeit von unantastbarer sittlicher Reinheit, und wenig 
    anderes wirkt, wenn es von außen kommt, so beleidigend, 
    oder wird, wenn es von innen aufsteigt, so peinigend emp-
    funden wie ein Zweifel an diesem Charakter der Mutter. 
    Gerade dieses Verhältnis von schärfstem Gegensatze zwischen 
    der „Mutter“ und der „Dirne“ wird uns aber anregen, die 
    Entwicklungsgeschichte und das unbewußte Verhältnis dieser 
    beiden Komplexe zu erforschen, wenn wir längst erfahren 
    haben, daß im Unbewußten häufig in Eines zusammenfällt, 
    was im Bewußtsein in zwei Gegensätze gespalten vorliegt. 
    Die Untersuchung führt uns dann in die Lebenszeit zurück, 
    in welcher der Knabe zuerst eine vollständigere Kenntnis 
    von den sexuellen Beziehungen zwischen den Erwachsenen 
    gewinnt, etwa in die Jahre der Vorpubertät. Brutale Mit-
    teilungen von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer 
    Tendenz machen ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechts-
    lebens bekannt, zerstören die Autorität der Erwachsenen, die 

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    sich als unvereinbar mit der Enthüllung ihrer Sexualbetätigung 
    erweist. Was in diesen Eröffnungen den stärksten Einfluß auf 
    den Neueingeweihten nimmt, das ist deren Beziehung zu den 
    eigenen Eltern. Dieselbe wird oft direkt von dem Hörer ab-
    gelehnt, etwa mit den Worten: Es ist möglich, daß deine 
    Eltern und andere Leute so etwas miteinander tun, aber von 
    meinen Eltern ist es ganz unmöglich.

    Als selten fehlendes Korollar zur „sexuellen Aufklärung“ 
    gewinnt der Knabe auch gleichzeitig die Kenntnis von der 
    Existenz gewisser Frauen, die den geschlechtlichen Akt er-
    werbsmäßig ausüben und darum allgemein verachtet werden. 
    Ihm selbst muß diese Verachtung ferne sein; er bringt für 
    diese Unglücklichen nur eine Mischung von Sehnsucht und 
    Grausen auf, sobald er weiß, daß auch er von ihnen in das 
    Geschlechtsleben eingeführt werden kann, welches ihm bisher 
    als der ausschließliche Vorbehalt der „Großen“ galt. Wenn 
    er dann den Zweifel nicht mehr festhalten kann, der für 
    seine Eltern eine Ausnahme von den häßlichen Normen der 
    Geschlechtsbetätigung fordert, so sagt er sich mit zynischer 
    Korrektheit, daß der Unterschied zwischen der Mutter und 
    der Hure doch nicht so groß sei, daß sie im Grunde das 
    nämliche tun. Die aufklärenden Mitteilungen haben nämlich 
    die Erinnerungsspuren seiner frühinfantilen Eindrücke und 
    Wünsche in ihm geweckt und von diesen aus gewisse seelische 
    Regungen bei ihm wieder zur Aktivität gebracht. Er beginnt 
    die Mutter selbst in dem neugewonnenen Sinne zu begehren 
    und den Vater als Nebenbuhler, der diesem Wunsche im 
    Wege steht, von neuem zu hassen; er gerät, wie wir sagen, 
    unter die Herrschaft des Ödipuskomplexes. Er vergißt es der 
    Mutter nicht und betrachtet es im Lichte einer Untreue, daß 
    sie die Gunst des sexuellen Verkehres nicht ihm, sondern dem 
    Vater geschenkt hat. Diese Regungen haben, wenn sie nicht 
    rasch vorüberziehen, keinen anderen Ausweg, als sich in Phantasien

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    auszuleben, welche die Sexualbetätigung der Mutter 
    unter den mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben, 
    deren Spannung auch besonders leicht zur Lösung im onanisti-
    schen Akte führt. Infolge des beständigen Zusammenwirkens 
    der beiden treibenden Motive, der Begehrlichkeit und der 
    Rachsucht, sind Phantasien von der Untreue der Mutter die 
    bei weitem bevorzugten; der Liebhaber, mit dem die Mutter 
    die Untreue begeht, trägt fast immer die Züge des eigenen 
    Ichs, richtiger gesagt, der eigenen, idealisierten, durch Alters-
    reifung auf das Niveau des Vaters gehobenen Persönlichkeit. 
    Was ich an anderer Stelle1 als „Familienroman“ geschildert 
    habe, umfaßt die vielfältigen Ausbildungen dieser Phantasie-
    tätigkeit und deren Verwebung mit verschiedenen egoistischen 
    Interessen dieser Lebenszeit. Nach Einsicht in dieses Stück 
    seelischer Entwicklung können wir es aber nicht mehr wider-
    spruchsvoll und unbegreiflich finden, daß die Bedingung der 
    Dirnenhaftigkeit der Geliebten sich direkt aus dem Mutter-
    komplex ableitet. Der von uns beschriebene Typus des männ-
    lichen Liebeslebens trägt die Spuren dieser Entwicklungs-
    geschichte an sich und läßt sich einfach verstehen als Fixierung 
    an die Pubertätsphantasien des Knaben, die späterhin den 
    Ausweg in die Realität des Lebens doch noch gefunden haben. 
    Es macht keine Schwierigkeiten anzunehmen, daß die eifrig 
    geübte Onanie der Pubertätsjahre ihren Beitrag zur Fixierung 
    jener Phantasien geleistet hat.

    Mit diesen Phantasien, welche sich zur Beherrschung des 
    realen Liebeslebens aufgeschwungen haben, scheint die Ten-
    denz, die Geliebte zu retten, nur in lockerer, oberflächlicher 
    und durch bewußte Begründung erschöpfbarer Verbindung zu 
    stehen. Die Geliebte bringt sich durch ihre Neigung zur Un-
    beständigkeit und Untreue in Gefahren, also ist es begreiflich,

    1)O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909. 
    (Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 5.) 2. Auflage 1922.

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    daß der Liebende sich bemüht, sie vor diesen Gefahren zu 
    behüten, indem er ihre Tugend überwacht und ihren schlechten 
    Neigungen entgegenarbeitet. Indes zeigt das Studium der 
    Deckerinnerungen, Phantasien und nächtlichen Träume der 
    Menschen, daß hier eine vortrefflich gelungene „Rationali-
    sierung“ eines unbewußten Motivs vorliegt, die einer gut 
    geratenen sekundären Bearbeitung im Traume gleichzusetzen 
    ist. In Wirklichkeit hat das Rettungsmotiv seine 
    eigene Bedeutung und Geschichte und ist ein selbständiger 
    Abkömmling des Mutter‑ oder, richtiger gesagt, des Eltern-
    komplexes. Wenn das Kind hört, daß es sein Leben den 
    Eltern verdankt, daß ihm die Mutter „das Leben 
    geschenkt“ hat, so vereinen sich bei ihm zärtliche mit 
    großmannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden Regungen, 
    um den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern dieses Ge-
    schenk zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleichwertiges zu 
    vergelten. Es ist, wie wenn der Trotz des Knaben sagen 
    wollte: Ich brauche nichts vom Vater, ich will ihm alles 
    zurückgeben, was ich ihn gekostet habe. Er bildet dann die 
    Phantasie, den Vater aus einer Lebensgefahr 
    zu retten, wodurch er mit ihm quitt wird, und diese 
    Phantasie verschiebt sich häufig genug auf den Kaiser, König 
    oder sonst einen großen Herrn und wird nach dieser Ent-
    stellung bewußtseinsfähig und selbst für den Dichter ver-
    wertbar. In der Anwendung auf den Vater überwiegt bei 
    weitem der trotzige Sinn der Rettungsphantasie, der Mutter 
    wendet sie meist ihre zärtliche Bedeutung zu. Die Mutter hat 
    dem Kinde das Leben geschenkt, und es ist nicht leicht, dies 
    eigenartige Geschenk durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen. 
    Bei geringem Bedeutungswandel, wie er im Unbewußten er-
    leichtert ist – was man etwa dem bewußten Ineinander-
    fließen der Begriffe gleichstellen kann – gewinnt das Retten 
    der Mutter die Bedeutung von: ihr ein Kind schenken oder 

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    machen, natürlich ein Kind, wie man selbst ist. Die Ent-
    fernung vom ursprünglichen Sinne der Rettung ist keine allzu 
    große, der Bedeutungswandel kein willkürlicher. Die Mutter 
    hat einem ein Leben geschenkt, das eigene, und man schenkt 
    ihr dafür ein anderes Leben, das eines Kindes, das mit dem 
    eigenen Selbst die größte Ähnlichkeit hat. Der Sohn erweist 
    sich dankbar, indem er sich wünscht, von der Mutter einen 
    Sohn zu haben, der ihm selbst gleich ist, d. h., in der 
    Rettungsphantasie identifiziert er sich völlig mit dem Vater. 
    Alle Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen, 
    selbstherrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt, 
    sein eigener Vater zu sein. Auch das Moment der 
    Gefahr ist bei dem Bedeutungswandel nicht verloren gegangen; 
    der Geburtsakt selbst ist nämlich die Gefahr, aus der man 
    durch die Anstrengung der Mutter gerettet wurde. Die Geburt 
    ist ebenso die allererste Lebensgefahr wie das Vorbild aller 
    späteren, vor denen wir Angst empfinden, und das Erleben 
    der Geburt hat uns wahrscheinlich den Affektausdruck, den 
    wir Angst heißen, hinterlassen. Der Macduff der schotti-
    schen Sage, den seine Mutter nicht geboren hatte, der aus 
    seiner Mutter Leib geschnitten wurde, hat darum auch die 
    Angst nicht gekannt.

    Der alte Traumdeuter Artemidoros hatte sicherlich 
    Recht mit der Behauptung, der Traum wandle seinen Sinn 
    je nach der Person des Träumers. Nach den für den Ausdruck 
    unbewußter Gedanken geltenden Gesetzen kann das „Retten“ 
    seine Bedeutung variieren, je nachdem es von einer Frau oder 
    von einem Manne phantasiert wird. Es kann ebensowohl 
    bedeuten: ein Kind machen = zur Geburt bringen (für den 
    Mann) wie: selbst ein Kind gebären (für die Frau).

    Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser 
    lassen sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in 
    Träumen und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann

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    im Traume eine Frau aus dem Wasser rettet, so heißt das: 
    er macht sie zur Mutter, was nach den vorstehenden Erörte-
    rungen gleichsinnig ist dem Inhalte: er macht sie zu seiner 
    Mutter. Wenn eine Frau einen anderen (ein Kind) aus dem 
    Wasser rettet, so bekennt sie sich damit wie die Königstochter 
    in der Mosessage2 als seine Mutter, die ihn geboren hat.

    Gelegentlich enthält auch die auf den Vater gerichtete 
    Rettungsphantasie einen zärtlichen Sinn. Sie will dann den 
    Wunsch ausdrücken, den Vater zum Sohne zu haben, d. h. 
    einen Sohn zu haben, der so ist wie der Vater. Wegen all 
    dieser Beziehungen des Rettungsmotivs zum Elternkomplex 
    bildet die Tendenz, die Geliebte zu retten, einen wesentlichen 
    Zug des hier beschriebenen Liebestypus.

    Ich halte es nicht für notwendig, meine Arbeitsweise zu 
    rechtfertigen, die hier wie bei der Aufstellung der Analerotik 
    darauf hinausgeht, aus dem Beobachtungsmaterial 
    zunächst extreme und scharf umschriebene Typen heraus-
    zuheben. Es gibt in beiden Fällen weit zahlreichere Individuen, 
    in denen nur einzelne Züge dieses Typus oder diese nur in 
    unscharfer Ausprägung festzustellen sind, und es ist selbst-
    verständlich, daß erst die Darlegung des ganzen Zusammen-
    hanges, in den diese Typen aufgenommen sind, deren richtige 
    Würdigung ermöglicht.

    2)Rank, l. c.