Das Tabu der Virginität 1918-003/1931
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    gleichbare Differenz zwischen den Anforderungen der beiden
    Triebe — des sexuellen und des egoistischen — zu immer
    höheren Leistungen befähigt werden, allerdings unter einer
    beständigen Gefährdung, welcher die Schwächeren gegen-
    wärtig in der Form der Neurose erliegen.

    Die Wissenschaft hat weder die Absicht zu schrecken noch
    zu trösten. Aber ich bin selbst gern bereit, zuzugeben, daß so
    weittragende Schlußfolgerungen, wie die obenstehenden, auf
    breiterer Basis aufgebaut sein sollten, und daß vielleicht andere
    Entwicklungseinrichtungen der Menschheit das Ergebnis der
    hier isoliert behandelten zu korrigieren vermögen.

    III
    Das Tabu der Virginität
    (1918)

    Wenige Einzelheiten des Sexuallebens primitiver Völker
    wirken so befremdend auf unser Gefühl wie deren Ein-
    schätzung der Virginität, der weiblichen Unberiihrtheit. Uns
    erscheint die Wertschätzung der Virginität von seiten des
    werbenden Mannes so feststehend und selbstverständlich, daß
    wir beinahe in Verlegenheit geraten, wenn wir dieses Urteil
    begründen sollen. Die Forderung, das Mädchen dürfe in die
    Ehe mit dem einen Manne nicht die Erinnerung an Sexual-
    verkehr mit einem anderen mitbringen, ist ja nichts anderes
    als die konsequente Fortführung des ausschließlichen Besitz-
    rechtes auf ein Weib, welches das Wesen der Monogamie aus-
    macht, die Erstreckung dieses Monopols auf die Vergangenheit.

    Es fällt uns dann nicht schwer, was zuerst ein Vorurteil zu
    sein schien, aus unseren Meinungen über das Liebesleben des
    Weibes zu rechtfertigen. Wer zuerst die durch lange Zeit müh-
    selig zurückgehaltene Liebessehnsucht der Jungfrau befriedigt
    und dabei die Widerstände überwunden hat, die in ihr durch

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    96 Beiträge zur Psychologie

    die Einflüsse von Milieu und Erziehung aufgebaut waren, der
    wird von ihr in ein dauerndes Verhältnis gezogen, dessen
    Möglichkeit sich keinem anderen mehr eröffnet. Auf Grund
    dieses Erlebnisses stellt sich bei der Frau ein Zustand von
    Hôrigkeit her, der die ungestårte Fortdauer ihres Besitzes
    verbiirgt und sie widerstandsfåhig macht gegen neue Eindrücke
    und fremde Versuchungen.

    Den Ausdruck ,,geschlechtliche Hörigkeit“ hat 1892
    м. Krafft-Ebing* zur Bezeichnung der Tatsache ge-
    wählt, daß eine Person einen ungewöhnlich hohen Grad von
    Abhängigkeit und Unselbständigkeit gegen eine andere Person
    erwerben kann, mit welcher sie im Sexualverkehr steht. Diese
    Hörigkeit kann gelegentlich sehr weit gehen, bis zum Verlust
    jedes selbständigen Willens und bis zur Erduldung der schwer-
    sten Opfer am eigenen Interesse; der Autor hat aber nicht
    versäumt zu bemerken, daß ein gewisses Maß solcher Ab-
    hängigkeit „durchaus notwendig ist, wenn die Verbindung
    einige Dauer haben soll“. Ein solches Maß von sexueller
    Hörigkeit ist in der Tat unentbehrlich zur Aufrechterhaltung
    der kulturellen Ehe und zur Hintanhaltung der sie be-
    drohenden polygamen Tendenzen, und in unserer sozialen
    Gemeinschaft wird dieser Faktor regelmäßig in Anrechnung
    gebracht.

    Ein „ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit und Charakter-
    schwäche“ einerseits, uneingeschrinkter Egoismus beim anderen
    Teil, aus diesem Zusammentreffen leitet v. Krafft-Ebing
    die Entstehung der sexuellen Hórigkeit ab. Analytische Er-
    fahrungen gestatten es aber nicht, sich mit diesem einfachen
    Erklårungsversuch zu begnügen. Man kann vielmehr erkennen,
    daß die Größe des überwundenen Sexualwiderstandes das
    entscheidende Moment ist, dazu die Konzentration und Ein-

    8) у. Krafft-Ebing: Bemerkungen über ,geschlechtliche
    Hårigkeit" und Masochismus. (Jahrb. für Psychiatrie, X. Bd., 1892.)

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    maligkeit des Vorganges der Überwindung. Die Hårigkeit ist
    demgemäß ungleich häufiger und intensiver beim Weibe als
    beim Manne, bei letzterem aber in unseren Zeiten immer
    häufiger als in der Antike. Wo wir die sexuelle Hôrigkeit
    bei Månnern studieren konnten, erwies sie sich als Erfolg der
    Überwindung einer psychischen Impotenz durch ein be-
    stimmtes Weib, an welches der betreffende Mann von da an
    gebunden blieb. Viele auffällige Eheschließungen und manches
    tragische Schicksal — selbst von weitreichendem Belange —
    scheint in diesem Hergange seine Aufklärung zu finden.

    Das nun zu erwähnende Verhalten primitiver Völker be-
    schreibt man nicht richtig, wenn man aussagt, sie legten keinen
    Wert auf die Virginität, und zum Beweise dafür vorbringt,
    daß sie die Defloration der Mädchen außerhalb der Ehe und
    vor dem ersten ehelichen Verkehre vollziehen lassen. Es
    scheint im Gegenteile, daß auch für sie die Defloration ein
    bedeutungsvoller Akt ist, aber sie ist Gegenstand eines Tabu,
    eines religiös zu nennenden Verbotes geworden. Anstatt sie
    dem Bräutigam und späteren Ehegatten des Mädchens vor-
    zubehalten, fordert die Sitte, daß diesereinersolchen
    Leistung ausweiche?

    Es liegt nicht in meiner Absicht, die literarischen Zeugnisse
    für den Bestand dieses Sittenverbotes vollständig zu sammeln,
    die geographische Verbreitung desselben zu verfolgen und alle
    Formen, in denen es sich äußert, aufzuzählen. Ich begnüge
    mich also mit der Feststellung, daß eine solche, außerhalb der
    späteren Ehe fallende Beseitigung des Hymens bei den heute
    lebenden primitiven Völkern etwas sehr Verbreitetes ist. So

    9) Crawley: The mystic rose, a study of primitive marriage.
    London 1902; Bartels-Ploß; Das Weib in der Natur- und
    Völkerkunde. 1891; verschiedene Stellen in Frazer: Taboo and
    the perils of the soul, und Havelock Ellis: Studies in the
    psychology of sex.

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie

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    98 Beiträge zur Psychologie

    äußert Crawley: This marriage ceremony consists in
    perforation of the hymen by some appointed person other
    than the husband; it is most common in the lowest stages
    of culture, especially in Australia.

    Wenn aber die Defloration nicht durch den ersten ehelichen
    Verkehr erfolgen soll, so muß sie vorher 一 auf irgendeine
    Weise und von irgendwelcher Seite — vorgenommen worden
    sein. Ich werde einige Stellen aus r a w le y s obenerwähntem
    Buche anführen, welche über diese Punkte Auskunft geben, die
    uns aber auch zu einigen kritischen Bemerkungen berechtigen.

    S. 191: „Bei den Dieri und einigen Nachbarstimmen (in
    Australien) ist es allgemeiner Brauch, das Hymen zu zerstören,
    wenn das Mädchen die Pubertät erreicht hat. Bei den Port-
    land- und Glenelg-Stämmen fällt es einer alten Frau zu, dies
    bei der Braut zu tun, und mitunter werden auch weiße Männer
    in solcher Absicht aufgefordert, Mädchen zu entjungfern.^*

    S. 307: „Die absichtliche Zerreißung des Hymens wird
    manchmal in der Kindheit, gewöhnlich aber zur Zeit der
    Pubertät ausgeführt... Sie wird oft — wie in Australien 一
    mit einem offiziellen Begattungsakte kombiniert. 2

    S. 348 (von australischen Stämmen, bei denen die bekannten
    exogamischen Heiratsbeschránkungen bestehen, nach Mit-
    teilung von Spencer und Gillen): „Das Hymen wird
    künstlich durchbohrt, und die Männer, die bei dieser Opera-
    tion zugegen waren, führen dann in festgesetzter Reihenfolge

    10) I. c. p. 347.

    11) „Thus in the Dieri and neighbouring tribes it is the universal
    custom when a girl reaches puberty to rupture the hymen. (Journ.
    Anthrop. Inst, XXIV, 169.) In the Portland and Glenelg tribes
    this is done to the bride by an old woman; and sometimes white
    men are asked for this reason to deflower maidens. Brough
    Smith, op. cit, II, 319.)

    12) The artificial rupture of the hymen sometimes takes place
    in infancy, but generally at puberty ... It is often combined, as
    in Australia, with a ceremonial act of intercourse.

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    einen (wohlgemerkt: zeremoniellen) Koitus mit dem Mädchen
    aus... Der ganze Vorgang hat sozusagen zwei Akte: Die
    Zerstörung des Hymens und darauf den Geschlechtsverkehr.“!?

    S. 349: „Bei den Masai (im åquatorialen Afrika) gehört die
    Vornahme dieser Operation zu den wichtigsten Vorbereitungen
    fiir die Ehe. Bei den Sakais (Malaien), den Battas (Sumatra)
    und den Alfoers auf Celebes wird die Defloration vom Vater
    der Braut ausgefiihrt. Auf den Philippinen gab es bestimmte
    Männer, die den Beruf hatten, Bråute zu deflorieren, falls das
    Hymen nicht schon in der Kindheit von einer dazu beauf-
    tragten alten Frau zerstört worden war. Bei einigen Eskimo-
    stimmen wurde die Entjungferung der Braut dem Ang ek ok
    oder Priester überlassen.“!*

    Die Bemerkungen, die ich angekündigt habe, beziehen sich
    auf zwei Punkte. Es ist erstens zu bedauern, daß in diesen
    Angaben nicht sorgfältiger zwischen der bloßen Zerstörung
    des Hymens ohne Koitus und dem Koitus zum Zwecke solcher
    Zerstórung unterschieden wird. Nur an einer Stelle hórten wir
    ausdrücklich, daß der Vorgang sich in zwei Akte zerlegt, in
    die (manuelle oder instrumentale) Defloration und den darauf-
    folgenden Geschlechtsakt. Das sonst sehr reichliche Material
    bei Bartels-Plo$ wird für unsere Zwecke nahezu un-

    13) The bymen is artificially perforated, and then assisting men
    bave access (ceremonial, be it observed) to the girl in a stated
    order ... Tbe act is im two parts, perforation and intercourse.

    14) An important preliminary of marriage amongst the Masai
    is the performance of this operation on the girl. (J. Thomson,
    op. cit. 258.) This defloration is performed by the father of the
    bride amongst the Sakais, Battas, and Alfoers of Celebes. )8
    u. Bartels, op. cit. II, 490.) In the Philippines there were
    certain men whose profession it was to deflower brides, in case
    the hymen had not been ruptured in childhood by an old woman
    who was sometimes employed for this. (Featherman, op.
    cit. II, 474.) The defloration of the bride was amongst some
    Eskimo tribes entrusted to the angekok, or priest. (id. III, 406.)

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    100 Beiträge zur Psychologie

    brauchbar, weil in dieser Darstellung die psychologische
    Bedeutsamkeit des Deflorationsaktes gegen dessen anatomi-
    schen Erfolg völlig verschwindet. Zweitens möchte man gerne
    darüber belehrt werden, wodurch sich der „zeremonielle” (rein
    formale, feierliche, offizielle) Koitus bei diesen Gelegenheiten
    vom regelrechten Geschlechtsverkehr unterscheidet. Die Autoren,
    zu denen ich Zugang hatte, waren entweder zu schämig, sich
    darüber zu äußern, oder haben wiederum die psychologische
    Bedeutung solcher sexueller Details unterschätzt. Wir können
    hoffen, daß die Originalberichte der Reisenden und Missionäre
    ausführlicher und unzweideutiger sind, aber bei der heutigen
    Unzugänglichkeit dieser meist fremdländischen Literatur kann
    ich nichts Sicheres darüber sagen. Übrigens darf man sich
    über die Zweifel in diesem zweiten Punkte mit der Erwägung
    hinwegsetzen, daß ein zeremonieller Scheinkoitus doch nur den
    Ersatz und vielleicht die Ablösung für einen in früheren Zeiten
    voll ausgeführten darstellen würde.5

    Zur Erklärung dieses Tabu der Virginität kann man ver-
    schiedenartige Momente heranziehen, die ich in flüchtiger Dar-
    stellung würdigen will. Bei der Defloration der Mädchen wird
    in der Regel Blut vergossen; der erste Erklärungsversuch beruft
    sich denn auch auf die Blutscheu der Primitiven, die das Blut
    für den Sitz des Lebens halten. Dieses Bluttabu ist durch viel-
    fache Vorschriften, die mit der Sexualität nichts zu tun haben,
    erwiesen, es hängt offenbar mit dem Verbote, nicht zu morden,
    zusammen und bildet eine Schutzwehr gegen den ursprüng-
    lichen Blutdurst, die Mordlust des Urmenschen. Bei dieser
    Auffassung wird das Tabu der Virginitit mit dem fast aus-
    nahmslos eingehaltenen Tabu der Menstruation zusammen-

    15) Für zahlreiche andere Fille von Hochzeitszeremoniell leidet
    es keinen Zweifel, daß anderen Personen als dem Bräutigam, z. B.
    den Gehilfen und Gefährten desselben (den ,,Kranzelherren'* unserer
    Sitte), die sexuelle Verfügung über die Braut voll eingeräumt wird.

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    des Liebeslebens 101

    gebracht. Der Primitive kann das rätselhafte Phänomen des
    blutigen Monatsflusses nicht von sadistisdhen Vorstellungen
    ferne halten. Die Menstruation, zumal die erste, deutet er
    als den Biß eines geisterhaften Tieres, vielleicht als Zeichen
    des sexuellen Verkehrs mit diesem Geist. Gelegentlich gestattet
    ein Bericht, diesen Geist als den eines Ahnen zu erkennen, und
    dann verstehen wir in Anlehnung an andere Einsichten,'* daß
    das menstruierende Mädchen als Eigentum dieses Ahnengeistes
    tabu ist.

    Von anderer Seite werden wir aber gewarnt, den Einfluß
    eines Moments wie die Blutscheu nicht zu überschätzen. Diese
    hat es doch nicht vermocht, Gebräuche, wie die Beschneidung
    der Knaben und die noch grausamere der Mädchen (Exzision
    der Klitoris und der kleinen Labien), die zum Teile bei den
    nämlichen Völkern geübt werden, zu unterdrücken oder die
    Geltung von anderem Zeremoniell, bei dem Blut vergossen
    wird, aufzuheben. Es wire also auch nicht zu verwundern,
    wenn sie bei der ersten Kohabitation zugunsten des Ehe-
    mannes überwunden würde.

    Ein zweite Erklärung sicht gleichfalls vom Sexuellen ab,
    greift aber viel weiter ins Allgemeine aus. Sie führt an, daß
    der Primitive die Beute einer beständig lauernden Angst-
    bereitschaft ist, ganz ähnlich wie wir es in der psychoanalyti-
    schen Neurosenlehre vom Angstneurotiker behaupten. Diese
    Angstbereitschaft wird sich am stärksten bei allen Gelegen-
    heiten zeigen, die irgendwie vom Gewohnten abweichen, die
    etwas Neues, Unerwartetes, Unverstandenes, Unheimliches mit
    sich bringen. Daher stammt auch das weit in die späteren
    Religionen hineinreichende Zeremoniell, das mit dem Beginne
    jeder neuen Verrichtung, dem Anfange jedes Zeitabschnittes,
    dem Erstlingsertrag von Mensch, Tier und Frucht verknüpft
    ist. Die Gefahren, von denen sich der Angstliche bedroht

    16) Siehe Totem und Tabu. 1913.

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    102 Beiträge zur Psychologie

    glaubt, treten niemals stärker in seiner Erwartung auf als
    zu Beginn der gefahrvollen Situation, und dann ist es auch
    allein zweckmäßig, sich gegen sie zu schützen. Der erste
    Sexualverkehr in der Ehe hat nach seiner Bedeutung gewiß
    einen Anspruch darauf, von diesen Vorsichtsmaßregeln ein-
    geleitet zu werden. Die beiden Erklärungsversuche, der aus
    der Blutscheu und der aus der Erstlingsangst, widersprechen
    einander nicht, verstärken einander vielmehr. Der erste
    Sexualverkehr ist gewiß ein bedenklicher Akt, um so mehr,
    wenn bei ihm Blut fließen muß.

    Eine dritte Erklärung — es ist die von Crawley bevor-
    zugte — macht darauf aufmerksam, daß das Tabu der Vir-
    ginität in einen großen, das ganze Sexualleben umfassenden
    Zusammenhang gehört. Nicht nur der erste Koitus mit dem
    Weibe ist tabu, sondern der Sexualverkehr überhaupt; bei-
    nahe könnte man sagen, das Weib sei im ganzen tabu. Das
    Weib ist nicht nur tabu in den besonderen, aus seinem Ge-
    schlechtsleben abfolgenden Situationen der Menstruation, der
    Schwangerschaft, der Entbindung und des Kindbettes, auch
    außerhalb derselben unterliegt der Verkehr mit dem Weibe
    so ernsthaften und so reichlichen Einschränkungen, daß wir
    allen Grund haben, die angebliche Sexualfreiheit der Wilden
    zu bezweifeln. Es ist richtig, daß die Sexualität der Primi-
    tiven bei bestimmten Anlissed sich über alle Hemmungen
    hinaussetzt; gewöhnlich aber scheint sie stärker durch Verbote
    eingeschnürt als auf hóheren Kulturstufen. Sowie der Mann
    etwas Besonderes unternimmt, eine Expedition, eine Jagd,
    einen Kriegszug, muß er sich vom Weibe, zumal vom Sexual-
    verkehr mit dem Weibe fernhalten; es würde sonst seine Kraft
    låhmen und ihm Miferfolg bringen. Auch in den Gebräuchen
    des täglichen Lebens ist ein Streben nach dem Auseinander-
    halten der Geschlechter unverkennbar. Weiber leben mit
    Weibern, Männer mit Männern zusammen; ein Familienleben

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    in unserem Sinne soll es bei vielen primitiven Stimmen kaum
    geben. Die Trennung geht mitunter so weit, daf das eine
    Geschlecht die persönlichen Namen des anderen Geschlechts
    nicht aussprechen darf, daß die Frauen eine Sprache mit
    besonderem Wortschatze entwickeln. Das sexuelle Bedürfnis
    darf diese Trennungsschranken immer wieder von neuem
    durchbrechen, aber bei manchen Stimmen müssen selbst die
    Zusammenkünfte der Ehegatten außerhalb des Hauses und im
    Geheimen stattfinden.

    Wo der Primitive ein Tabu hingesetzt hat, da fürchtet er
    eine Gefahr, und es ist nicht abzuweisen, daf sich in all diesen
    Vermeidungsvorschriften eine prinzipielle Scheu vor dem
    Weibe äußert. Vielleicht ist diese Scheu darin begründet, daß
    das Weib anders ist als der Mann, ewig unverstindlich und
    geheimnisvoll, fremdartig und darum feindselig erscheint. Der
    Mann fürchtet, vom Weibe geschwächt, mit dessen Weiblich-
    keit angesteckt zu werden und sich dann untüchtig zu zeigen.
    Die erschlaffende, Spannungen lósende Wirkung des Koitus
    mag für diese Befürchtung vorbildlich sein, und die Wahr-
    nehmung des Einflusses, den das Weib durch den Geschlechts-
    verkehr auf den Mann gewinnt, die Rücksicht, die es sich da-
    durch erzwingt, die Ausbreitung dieser Angst rechtfertigen.
    An all dem ist nichts, was veraltet wire, was nicht unter
    uns weiter lebte.

    Viele Beobachter der heute lebenden Primitiven haben das
    Urteil gefällt, daß deren Liebesstreben verhältnismäßig schwach
    sei und niemals die Intensititen erreiche, die wir bei der
    Kulturmenschheit zu finden gewohnt sind. Andere haben dieser
    Schützung widersprochen, aber jedenfalls zeugen die auf-
    gezählten Tabugebräuche von der Existenz einer Macht, die
    sich der Liebe widersetzt, indem sie das Weib als fremd und
    feindselig ablehnt.

    In Ausdrücken, welche sich nur wenig von der gebriuch-

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    104 Beiträge zur Psychologie

    lichen Terminologie der Psychoanalyse unterscheiden, legt
    Crawley dar, daß jedes Individuum sich durch ein „taboo
    of personal isolation“ von den anderen absondert, und daß
    gerade die kleinen Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die
    Gefühle von Fremdheit und Feindseligkeit zwischen ihnen
    begründen. Es wire verlockend, dieser Idee nachzugehen und
    aus diesem „Narzißmus der kleinen Unterschiede“ die Feind-
    seligkeit abzuleiten, die wir in allen menschlichen Beziehungen
    erfolgreich gegen die Gefühle von Zusammengehórigkeit
    streiten und das Gebot der allgemeinen Menschenliebe iiber-
    wältigen sehen. Von der Begründung der narziBtischen, reich-
    lich mit Geringschätzung versetzten Ablehnung des Weibes
    durch den Mann glaubt die Psychoanalyse ein Hauptstück
    erraten zu haben, indem sie auf den Kastrationskomplex und
    dessen Einfluß auf die Beurteilung des Weibes verweist.

    Wir merken indes, daß wir mit diesen letzten Erwägungen
    weit über unser Thema hinausgegriffen haben. Das allgemeine
    Tabu des Weibes wirft kein Licht auf die besonderen Vor-
    schriften fiir den ersten Sexualakt mit dem jungfråulichen
    Individuum. Hier bleiben wir auf die beiden ersten Er-
    klårungen der Blutscheu und der Erstlingsscheu angewiesen,
    und selbst von diesen müßten wir aussagen, daß sie den Kern
    des in Rede stehenden Tabugebotes nicht treffen. Diesem liegt
    ganz offenbar die Absicht zugrunde, gerade dem spi-
    teren Ehemanne etwas zu versagen oder zu
    ersparen, was von dem ersten Sexualakt nicht loszulósen
    ist, wiewohl sich nach unserer eingangs gemachten Bemerkung
    von dieser selben Beziehung eine besondere Bindung des
    Weibes an diesen einen Mann ableiten müßte.

    Es ist diesmal nicht unsere Aufgabe, die Herkunft und
    letzte Bedeutung der Tabuvorschriften zu erórtern. Ich habe
    dies in meinem Buche ,,Totem und Tabu“ getan, dort die
    Bedingung einer ursprünglichen Ambivalenz für das Tabu

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    des Liebeslebens 105

    gewürdigt und die Entstehung desselben aus den vorzeitlichen
    Vorgängen verfochten, welche zur Gründung der menschlichen
    Familie geführt haben. Aus den heute beobachteten Tabu-
    gebräuchen der Primitiven läßt sich eine solche Vorbedeutung
    nicht mehr erkennen. Wir vergessen bei solcher Forderung
    allzu leicht, daß auch die primitivsten Völker in einer von
    der urzeitlichen weit entfernten Kultur leben, die zeitlich
    ebenso alt ist wie die unsrige, und gleichfalls einer späteren,
    wenn auch andersartigen Entwicklungsstufe entspricht.

    Wir finden heute das Tabu bei den Primitiven bereits zu
    einem kunstvollen System ausgesponnen, ganz wie es unsere
    Neurotiker in ihren Phobien entwickeln, und alte Motive
    durch neuere, harmonisch zusammenstimmende, ersetzt. Mit
    Hinwegsetzung über jene genetischen Probleme wollen wir
    darum auf die Einsicht zurückgreifen, daß der Primitive dort
    ein Tabu anbringt, wo er eine Gefahr befürchtet. Diese Gefahr
    ist, allgemein gefaßt, eine psychische, denn der Primitive ist
    nicht dazu gedrängt, hier zwei Unterscheidungen vorzu-
    nehmen, die uns als unausweichlich erscheinen. Er sondert die
    materielle Gefahr nicht von der psychischen und die reale
    nicht von der imaginären. In seiner konsequent durch-
    geführten animistischen Weltauffassung stammt ja jede Gefahr
    aus der feindseligen Absicht eines gleich ihm beseelten Wesens,
    sowohl die Gefahr, die von einer Naturkraft droht, wie die
    von anderen Menschen oder Tieren. Anderseits aber ist er
    gewohnt, seine eigenen inneren Regungen von Feindseligkeit
    in die Außenwelt zu projizieren, sie also den Objekten, die
    er als unliebsam oder auch nur als fremd empfindet, zuzu-
    schieben. Als Quelle solcher Gefahren wird nun auch das
    Weib erkannt und der erste Sexualakt mit dem Weib als
    eine besonders intensive Gefahr ausgezeichnet.

    Ich glaube nun, wir werden einigen Aufschluß darüber er-
    halten, welches diese gesteigerte Gefahr ist, und warum sie

  • S.

    106 Beiträge zur Psychologie

    gerade den späteren Ehemann bedroht, wenn wir das Ver-
    halten der heute lebenden Frauen unserer Kulturstufe unter
    den gleichen Verhältnissen genauer untersuchen. Ich stelle als
    das Ergebnis dieser Untersuchung voran, daß eine solche
    Gefahr wirklich besteht, so daß der Primitive sich mit dem
    Tabu der Virginität gegen eine richtig geahnte, wenn auch
    psychische Gefahr verteidigt.

    Wir schätzen es als die normale Reaktion ein, daß die Frau
    nach dem Koitus auf der Höhe der Befriedigung den Mann
    umarmend an sich preßt, sehen darin einen Ausdruck ihrer
    Dankbarkeit und eine Zusage dauernder Hörigkeit. Wir wissen
    aber, es ist keineswegs die Regel, daß auch der erste Verkehr
    dies Benehmen zur Folge hätte; sehr häufig bedeutet er bloß
    eine Enttäuschung für das Weib, das kühl und unbefriedigt
    bleibt, und es bedarf gewöhnlich längerer Zeit und häufigerer
    Wiederholung des Sexualaktes, bis sich bei diesem die Be-
    friedigung auch für das Weib einstellt. Von diesen Fällen
    bloß anfänglicher und bald vorübergehender Frigidität führt
    eine stetige Reihe bis zu dem unerfreulichen Ergebnis einer
    stetig anhaltenden Frigidität, die durch keine zärtliche Be-
    mühung des Mannes überwunden wird. Ich glaube, diese
    Frigidität des Weibes ist noch nicht genügend verstanden und
    fordert bis auf jene Fälle, die man der ungenügenden Potenz
    des Mannes zur Last legen muß, die Aufklärung, womöglich
    durch ihr nahestehende Erscheinungen, heraus.

    Die so häufigen Versuche, vor dem ersten Sexualverkehr die
    Flucht zu ergreifen, möchte ich hier nicht heranziehen, weil
    sie mehrdeutig und in erster Linie, wenn auch nicht durchaus,
    als Ausdruck des allgemeinen weiblichen Abwehrbestrebens
    aufzufassen sind. Dagegen glaube ich, daß gewisse pathologi-
    sche Fälle ein Licht auf das Rätsel der weiblichen Frigidität
    werfen, in denen die Frau nach dem ersten, ja nach jedem
    neuerlichen Verkehr ihre Feindseligkeit gegen den Mann un-

  • S.

    des Liebeslebens 107

    verhohlen zum Ausdruck bringt, indem sie ihn beschimpft,
    die Hand gegen ihn erhebt oder ihn tatsichlich schligt. In
    einem ausgezeichneten Falle dieser Art, den ich einer ein-
    gehenden Analyse unterziehen konnte, geschah dies, obwohl
    die Frau den Mann sehr liebte, den Koitus selbst zu fordern
    pflegte und in ihm unverkennbar hohe Befriedigung fand.
    Ich meine, daß diese sonderbare kontråre Reaktion der Erfolg
    der nämlichen Regungen ist, die sich fiir gewöhnlich nur als
    Frigidität äußern können, d. h. imstande sind, die zårtliche
    Reaktion aufzuhalten, ohne sich dabei selbst zur Geltung
    zu bringen. In dem pathologischen Falle ist sozusagen in seine
    beiden Komponenten zerlegt, was sich bei der weit håufigeren
    Frigidität zu einer Hemmungswirkung vereinigt, ganz ähnlich,
    wie wir es an den sogenannten „zweizeitigen” Symptomen
    der Zwangsneurose långst erkannt haben. Die Gefahr, welche
    so durch die Defloration des Weibes rege gemacht wird, be-
    stünde darin, sich die Feindseligkeit desselben zuzuziehen, und
    gerade der spitere Ehemann hitte allen Grund, sich solcher
    Feindschaft zu entziehen.

    Die Analyse läßt nun ohne Schwierigkeit erraten, welche
    Regungen des Weibes am Zustandekommen jenes paradoxen
    Verhaltens beteiligt sind, in dem ich die Aufklärung der Frigi-
    dität zu finden erwarte. Der erste Koitus macht eine Reihe
    solcher Regungen mobil, die für die erwünschte weibliche
    Einstellung unverwendbar sind, von denen einige sich auch
    bei spåterem Verkehr nicht zu wiederholen brauchen. In erster
    Linie wird man hier an den Schmerz denken, welcher der
    Jungfrau bei der Defloration zugefügt wird, ja vielleicht
    geneigt sein, dies Moment fiir entscheidend zu halten und von
    der Suche nach anderen abzustehen. Man kann aber eine
    solche Bedeutung nicht gut dem Schmerze zuschreiben, muß
    vielmehr an seine Stelle die narzifitische Kränkung setzen, die
    aus der Zerstörung eines Organs erwächst, und die in dem

  • S.

    108 Beiträge zur Psychologie

    Wissen um die Herabsetzung des sexuellen Wertes der De-
    florierten selbst eine rationelle Vertretung findet. Die Hochzeits-
    gebräuche der Primitiven enthalten aber eine Warnung vor
    solcher Überschätzung. Wir haben gehört, daß in manchen
    Fällen das Zeremoniell ein zweizeitiges ist; nach der
    (mit Hand oder Instrument) durchgeführten Zerreißung des
    Hymens folgt noch ein offizieller Koitus oder Scheinverkehr
    mit den Vertretern des Mannes, und dies beweist uns, daß
    der Sinn der Tabuvorschrift durch die Vermeidung der ana-
    tomischen Defloration nicht erfüllt ist, daß dem Ehemann
    noch etwas anderes erspart werden soll als die Reaktion der
    Frau auf die schmerzhafte Verletzung.

    Wir finden als weiteren Grund für die Enttäuschung durch
    den ersten Koitus, daß für ihn, beim Kulturweibe wenigstens,
    Erwartung und Erfüllung nicht zusammenstimmen können.
    Der Sexualverkehr war bisher aufs stärkste mit dem Verbot
    assoziiert, der legale und erlaubte Verkehr wird darum nicht
    als das nämliche empfunden. Wie innig diese Verknüpfung
    sein kann, erhellt in beinahe komischer Weise aus dem Be-
    streben so vieler Bräute, die neuen Liebesbeziehungen vor
    allen Fremden, ja selbst vor den Eltern geheim zu halten, wo
    eine wirkliche Nötigung dazu nicht besteht und ein Einspruch
    nicht zu erwarten ist. Die Mädchen sagen es offen, daß ihre
    Liebe an Wert für sie verliert, wenn andere davon wissen.
    Gelegentlich kann dieses Motiv übermächtig werden und die
    Entwicklung der Liebesfähigkeit in der Ehe überhaupt ver-
    hindern. Die Frau findet ihre zärtliche Empfindlichkeit erst in
    einem unerlaubten, geheim zu haltenden Verhältnis wieder, wo
    sie sich allein des eigenen, unbeeinflußten Willens sicher weiß.

    Indes, auch dieses Motiv führt nicht tief genug; außerdem
    läßt es, an Kulturbedingungen gebunden, eine gute Beziehung
    zu den Zuständen der Primitiven vermissen. Um so be-
    deutungsvoller ist das nächste, auf der Entwicklungsgeschichte

  • S.

    des Liebeslebens 109

    der Libido fußende Moment. Es ist uns durch die Bemühungen
    der Analyse bekannt geworden, wie regelmäßig und wie
    mächtig die frühesten Unterbringungen der Libido sind. Es
    handelt sich dabei um festgehaltene Sexualwiinsche der Kind-
    heit, beim Weibe zumeist um Fixierung der Libido an den
    Vater oder an den ihn ersetzenden Bruder, Wiinsche, die
    hiufig genug auf anderes als den Koitus gerichtet waren oder
    ihn nur als unscharf erkanntes Ziel einschlossen. Der Ehemann
    ist sozusagen immer nur ein Ersatzmann, niemals der Rich-
    tige; den ersten Satz auf die Liebesfihigkeit der Frau hat ein
    anderer, in typischen Fällen der Vater, er höchstens den
    zweiten. Es kommt nun darauf an, wie intensiv diese Fixie-
    rung ist und wie zähe sie festgehalten wird, damit der Ersatz-
    mann als unbefriedigend abgelehnt werde. Die Frigidität steht
    somit unter den genetischen Bedingungen der Neurose. Je
    mächtiger das psychische Element im Sexualleben der Frau
    ist, desto widerstandsfåhiger wird sich ihre Libidoverteilung
    gegen die Erschiitterung des ersten Sexualaktes erweisen, desto
    weniger überwältigend wird ihre körperliche Besitznahme
    wirken können. Die Frigiditit mag sich dann als neurotische
    Hemmung festsetzen oder den Boden fir die Entwicklung
    anderer Neurosen abgeben, und auch nur mäßige Herab-
    setzungen der månnlichen Potenz kommen dabei als Helfer
    sehr in Betracht.

    Dem Motiv des friiheren Sexualwunsches scheint die Sitte
    der Primitiven Rechnung zu tragen, welche die Defloration
    einem Altesten, Priester, heiligen Mann, also einem Vater-
    ersatz (siehe oben) überträgt. Von hier aus scheint mir ein
    gerader Weg zum vielbestrittenen Ius primae noctis des mittel-
    alterlichen Gutsherrn zu führen. A. J. Storfer" hat die-
    selbe Auffassung vertreten, überdies die weitverbreitete Insti-

    17) Zur Sonderstellung des Vatermordes. 1911. (Schriften zur
    angewandten Seelenkunde, XII.)

  • S.

    110 Beiträge zur Psychologie

    tution der „Tobiasehe” (der Sitte der Enthaltsamkeit in den
    ersten drei Nächten) als eine Anerkennung der Vorrechte des
    Patriarchen gedeutet, wie vor ihm bereits C. G. Jung?
    Es entspricht dann nur unserer Erwartung, wenn wir unter
    den mit der Defloration betrauten Vatersurrogaten auch das
    Götterbild finden. In manchen Gegenden von Indien mußte
    die Neuvermåhlte das Hymen dem hölzernen Lingam opfern,
    und nach dem Berichte des heiligen Augustinus bestand im
    römischen Heiratszeremoniell (seiner Zeit?) dieselbe Sitte mit
    der Abschwichung, daf sich die junge Frau auf den riesigen
    Steinphallus des Priapus nur zu setzen brauchte.??

    In noch tiefere Schichten greift ein anderes Motiv zuriick,
    welches nachweisbar an der paradoxen Reaktion gegen den
    Mann die Hauptschuld trägt, und dessen Einfluß sich nach
    meiner Meinung noch in der Frigiditit der Frau äußert. Durch
    den ersten Koitus werden beim Weibe noch andere alte
    Regungen als die beschriebenen aktiviert, die der weiblichen
    Funktion und Rolle überhaupt widerstreben.

    Wir wissen aus der Analyse vieler neurotischer Frauen, daß
    sie ein frithes Stadium durchmachen, in dem sie den Bruder
    um das Zeichen der Minnlichkeit beneiden und sich wegen
    seines Fehlens (eigentlich seiner Verkleinerung) benachteiligt
    und zurückgesetzt fühlen. Wir ordnen diesen ,,Penisneid“ dem
    »Kastrationskomplex" ein. Wenn man unter „männlich“ das
    Mannlichseinwollen mitversteht, so paßt auf dieses Verhalten
    die Bezeichnung „männlicher Protest", die Alf. Adler ge-
    prågt hat, um diesen Faktor zum Triger der Neurose iiber-
    haupt zu proklamieren. In dieser Phase machen die Mädchen
    aus ihrem Neid und der daraus abgeleiteten Feindseligkeit

    18) Die Bedeutung des Vaters fiir das Schicksal des Einzelnen.
    (Jahrbuch fiir Psychoanalyse, I, 1909.)

    19) 9104 und Bartels: Das Weib I, XII, und Dulaure:
    Des Divinités génératrices. Paris 1885 (réimprimé), p. 142 u. ff.

  • S.

    des Liebeslebens 111

    gegen den begiinstigten Bruder oft kein Hehl: sie versuchen
    es auch, aufrechtstehend wie der Bruder zu urinieren, um ihre
    angebliche Gleichberechtigung zu vertreten. In dem bereits er-
    wähnten Falle von uneingeschränkter Aggression gegen den
    sonst geliebten Mann nach dem Koitus konnte ich feststellen,
    daß diese Phase vor der Objektwahl bestanden hatte. Erst
    später wandte sich die Libido des kleinen Mädchens dem
    Vater zu, und dann wiinschte sie sich anstatt des Penis —
    ein Kind?

    Ich würde nicht überrascht sein, wenn sich in anderen
    Fillen die Zeitfolge dieser Regungen umgekehrt finde und
    dies Stiick des Kastrationskomplexes erst nach erfolgter Objekt-
    wahl zur Wirkung kåme. Aber die minnliche Phase des
    Weibes, in der es den Knaben um den Penis beneidet, ist jeden-
    falls die entwicklungsgeschichtlich frühere und steht dem ur-
    spriinglichen Narzifimus näher als der Objektliebe.

    Vor einiger Zeit gab mir ein Zufall Gelegenheit, den Traum
    einer Neuvermåhlten zu erfassen, der sich als Reaktion auf ihre
    Entjungferung erkennen ließ. Er verriet ohne Zwang den
    Wunsch des Weibes, den jungen Ehemann zu kastrieren und
    seinen Penis bei sich zu behalten. Es war gewiß auch Raum
    får die harmlosere Deutung, es sei die Verlingerung und
    Wiederholung des Aktes gewiinscht worden, allein manche
    Einzelheiten des Traumes gingen iiber diesen Sinn hinaus, und
    der Charakter wie das spåtere Benehmen der Tråumerin
    legten Zeugnis fiir die ernstere Auffassung ab. Hinter diesem
    Penisneid kommt nun die feindselige Erbitterung des Weibes
    gegen den Mann zum Vorschein, die in den Beziehungen der
    Geschlechter niemals ganz zu verkennen ist, und von der in
    den Bestrebungen und literarischen Produktionen der ,,Eman-
    zipierten“ die deutlichsten Anzeichen vorliegen. Diese Feind-

    20) Siehe: Uber Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik.
    Intern. Zeitschr. f. PsA. IV, 1916/17 (S. 116 ff. dieses Bandes).

  • S.

    112 Beiträge zur Psychologie

    seligkeit des Weibes führt Ferenczi — ich weiß nicht, ob
    als erster — in einer paliobiologischen Spekulation bis auf die
    Epoche der Differenzierung der Geschlechter zurück. An-
    fänglich, meint er, fand die Kopulation zwischen zwei gleich-
    artigen Individuen statt, von denen sich aber eines zum stär-
    keren entwickelte und das schwächere zwang, die geschlecht-
    liche Vereinigung zu erdulden. Die Erbitterung über dies
    Unterlegensein setze sich noch in der heutigen Anlage des
    Weibes fort. Ich halte es für vorwurfsfrei, sich solcher Spekula-
    tionen zu bedienen, solange man es vermeidet, sie zu über-
    werten.

    Nach dieser Aufzählung der Motive für die in der Frigidität
    spurweise fortgesetzte paradoxe Reaktion des Weibes auf die
    Defloration, darf man es zusammenfassend aussprechen, daß
    sich die unfertige Sexualität des Weibes an dem
    Manne entlädt, der sie zuerst den Sexualakt kennen lehrt.
    Dann ist aber das Tabu der Virginität sinnreich genug, und
    wir verstehen die Vorschrift, welche gerade den Mann solche
    Gefahren vermeiden heißt, der in ein dauerndes Zusammen-
    leben mit dieser Frau eintreten soll. Auf höheren Kulturstufen
    ist die Schätzung dieser Gefahr gegen die Verheißung der
    Hörigkeit und gewiß auch gegen andere Motive und Ver-
    lockungen zurückgetreten; die Virginität wird als ein Gut
    betrachtet, auf welches der Mann nicht verzichten soll. Aber die
    Analyse der Ehestörungen lehrt, daß die Motive, welche das
    Weib dazu nötigen wollen, Rache für ihre Defloration zu
    nehmen, auch im Seelenleben des Kulturweibes nicht ganz
    erloschen sind. Ich meine, es muß dem Beobachter auffallen,
    in einer wie ungewöhnlich großen Anzahl von Fällen das Weib
    in einer ersten Ehe frigid bleibt und sich unglücklich fühlt,
    während sie nach Lösung dieser Ehe ihrem zweiten Manne
    eine zärtliche und beglückende Frau wird. Die archaische Re-
    aktion hat sich sozusagen am ersten Objekt erschöpft.

  • S.

    des Liebeslebens 113

    Das Tabu der Virginitit ist aber auch sonst in unserem
    Kulturleben nicht untergegangen. Die Volksseele weiß von ihm
    und Dichter haben sich gelegentlich dieses Stoffes bedient.
    Anzengruber stellt in einer Komödie dar, wie sich ein
    einfåltiger Bauernbursche abhalten läßt, die ihm zugedachte
    Braut zu heiraten, weil sie „a Dirn’ is, was ihrem ersten ’s
    Leben kost“, Er willigt darum ein, daß sie einen anderen
    heirate, und will sie dann als Wittfrau nehmen, wo sie un-
    gefährlich ist. Der Titel des Stückes: „Das Jungferngift" er-
    innert daran, daß Schlangenbåndiger die Giftschlange vorerst
    in ein Tüchlein beißen lassen, um sie dann ungefährdet zu
    handhaben.?*

    Das Tabu der Virginitåt und ein Stück seiner Motivierung
    hat seine måchtigste Darstellung in einer bekannten dramati-
    schen Gestalt gefunden, in der Judith in Hebbels Tragôdie
    „Judith und Holofernes". Judith ist eine jener Frauen, deren
    Virginitit durch ein Tabu geschiitzt ist. Ihr erster Mann wurde
    in der Brautnacht durch eine råtselhafte Angst gelähmt und
    wagte es nie mehr, sie zu berühren. „Meine Schönheit ist die
    der Tollkirsche“, sagt sie. „Ihr Genuß bringt Wahnsinn und
    Tod.“ Als der assyrische Feldherr ihre Stadt bedringt, fait
    sie den Plan, ihn durch ihre Schönheit zu verführen und zu

    21) Eine meisterhaft knappe Erzählung von A. Schnitzler
    („Das Schicksal des Freiherrn v. Leisenbogh“) verdient trotz der
    Abweichung in der Situation hier angereiht zu werden. Der durch
    einen Unfall verungliickte Liebhaber einer in der Liebe viel-
    erfahrenen Schauspielerin hat ihr gleichsam cine neue Virginitåt
    geschaffen, indem er den Todesfludh über den Mann ausspricht,
    der sie zuerst nach ihm besitzen wird. Das mit diesem Tabu belegte
    Weib getraut sich auch eine Weile des Liebesverkehres nicht.
    Nachdem sie sich aber in einen Sånger verliebt hat, greift sie zur
    Auskunft, vorher dem Freiherrn у. Leisenbogh eine Nacht zu
    schenken, der sich seit Jahren erfolglos um sie bemüht. An ihm
    erfüllt sich auch der Fluch; er wird vom Schlag getroffen, sobald
    er das Motiv seines unverhofften Liebesgliickes erfährt.

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 8

  • S.

    114 Beiträge zur Psychologie

    verderben, verwendet so ein patriotisches Motiv zur Ver-
    deckung eines sexuellen. Nach der Defloration durch den
    gewaltigen, sich seiner Stärke und Rücsichtslosigkeit rüh-
    menden Mann findet sie in ihrer Empörung die Kraft, ihm
    den Kopf abzuschlagen, und wird so zur Befreierin ihres
    Volkes. Köpfen ist uns als symbolischer Ersatz fiir Kastrieren
    wohlbekannt; danach ist Judith das Weib, das den Mann
    kastriert, von dem sie defloriert wurde, wie es auch der von
    mir berichtete Traum einer Neuvermåhlten wollte. Hebbel
    hat die patriotische Erzählung aus den Apokryphen des Alten
    Testaments in klarer Absichtlichkeit sexualisiert, denn dort
    kann Judith nach ihrer Rückkehr rühmen, daß sie nicht ver-
    unreinigt worden ist, auch fehlt im Text der Bibel jeder Hin-
    weis auf ihre unheimliche Hochzeitsnacht. Wahrscheinlich hat
    er aber mit dem Feingefühl des Dichters das uralte Motiv
    verspürt, das in jene tendenzióse Erzählung eingegangen war,
    und dem Stoff nur seinen früheren Gehalt wiedergegeben.

    I. Sadger hat in einer trefflichen Analyse ausgeführt,
    wie Hebbel durch seinen eigenen Elternkomplex in seiner
    Stoffwahl bestimmt wurde, und wie er dazu kam, so regel-
    mäßig im Kampfe der Geschlechter für das Weib Partei zu
    nehmen und sich in dessen verborgenste Seelenregungen ein-
    zufiihlen.*? Er zitiert auch die Motivierung, die der Dichter
    selbst für die von ihm eingeführte Abänderung des Stoffes
    gegeben hat, und findet sie mit Recht gekünstelt und wie dazu
    bestimmt, etwas dem Dichter selbst Unbewuftes nur äußerlich
    zu rechtfertigen und im Grunde zu verdecken. Sadgers
    Erklärung, warum die nach der biblischen Erzählung ver-
    witwete Judith zur jungfráulichen Witwe werden mußte, will
    ich nicht antasten. Er weist auf die Absicht der kindlichen
    Phantasie hin, den sexuellen Verkehr der Eltern zu verleugnen
    und die Mutter zur unberührten Jungfrau zu machen. Aber ich

    22) Von der Pathographie zur Psychographie. Imago I, 1912.

  • S.

    des Liebeslebens 115

    setze fort: Nachdem der Dichter die Jungfräulichkeit seiner
    Heldin festgelegt hatte, verweilte seine nachfühlende Phan-
    tasie bei der feindseligen Reaktion, die durch die Verletzung
    der Virginitåt ausgelöst wird.

    Wir diirfen also abschliefend sagen: Die Defloration hat
    nicht nur die eine kulturelle Folge, das Weib dauernd an den
    Mann zu fesseln; sie entfesselt auch eine archaische Reaktion
    von Feindseligkeit gegen den Mann, welche pathologische
    Formen annehmen kann, die sich häufig genug durch Hem-
    mungserscheinungen im Liebesleben der Ehe äußern, und der
    man es zuschreiben darf, daß zweite Ehen so oft besser geraten
    als die ersten. Das befremdende Tabu der Virginitit, die
    Scheu, mit welcher bei den Primitiven der Ehemann der De-
    floration aus dem Wege geht, finden in dieser feindseligen
    Reaktion ihre volle Rechtfertigung.

    Es ist nun interessant, daf man als Analytiker Frauen
    begegnen kann, bei denen die entgegengesetzten Reaktionen
    von Hårigkeit und Feindseligkeit beide zum Ausdruck ge-
    kommen und in inniger Verkniipfung miteinander geblieben
    sind. Es gibt solche Frauen, die mit ihren Männern völlig zer-
    allen scheinen und doch nur vergebliche Bemühungen machen
    бппеп, sich von ihnen zu lösen. So oft sie es versuchen, ihre
    Liebe einem anderen Manne zuzuwenden, tritt das Bild des
    ersten, doch nicht mehr geliebten, hemmend dazwischen. Die
    Analyse lehrt dann, daß diese Frauen allerdings noch in Hôrig-
    eit an ihren ersten Männern hängen, aber nicht mehr aus
    Zärtlichkeit. Sie kommen von ihnen nicht frei, weil sie ihre
    Rache an ihnen nicht vollendet, in ausgeprigten Fillen die
    rachsiichtige Regung sich nicht einmal zum Bewußtsein ge-
    bracht haben.

    8