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bewuften in der Menschenseele unter gewissen Veranstaltungen zu
einer Quelle von Lust und somit zu einer Technik der Witz-
bildung werden kann. Wir heißen heute in der Psychoanalyse ein
Gewebe von Vorstellungen mit dem daranhångenden Affekt einen
„Komplex“ und sind bereit zu behaupten, daß viele der ge-
schütztesten Witze ,Komplexwitze" sind, auch ihre be-
freiende und erheiternde Wirkung der geschickten Bloflegung von
sonst verdrängten Komplexen verdanken. Der Erweis dieses Satzes
an Beispielen würde an dieser Stelle zu weit führen, aber als das
Ergebnis einer solchen Untersuchung darf man es aussprechen, daß
die erotischen und anderen Witze, die im Volke umlaufen, vor-
treffliche Hilfsmittel zur Erforschung des unbewufiten Seclenlebens
der Menschen darstellen, ganz ähnlich wie die Träume und die
Mythen und Sagen, mit deren Verwertung sich die Psychoanalyse
schon jetzt beschäftigt.So darf man sich also der Hoffnung hingeben, daß der Wert des
Folklore fiir die Psyche immer deutlicher erkannt und dic Be-
ziehungen zwischen dieser Forschung und der Psychoanalyse sich
bald inniger gestalten werden.Ich bin, gechrter Herr Doktor, Ihr in besonderer Hochachtung
ergebener Freud.GELEITWORT
zu „Der Unrat in Sitte, Brandy, Glauben und Gewohnheitsrecht
der Völker“ von J. G. Bourke, verdeutscht und neubearbeitet von
Friedrich S. Krauß und H. Ihm (Beiwerke zum Studium der
Anthropophyteia, VT. Band), Leipzig 1913Als ich im Jahre 1885 als Schüler Charcots in Paris weilte,
zogen mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen
und Reden Brouardels am stärksten an, der uns an dem
Leichenmaterial der Morgue zu zeigen pflegte, wieviel es Wissens-
wertes für den Arzt gäbe, wovon doch die Wissenschaft keine Notiz
zu nchmen beliebte. Als er einmal die Kennzeichen erörterte, aus
denen man Stand, Charakter und Herkunft des namenlosen Leich-
nams erraten könne, hörte ich ihn sagen: „Les genous sales sontS.
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le signe d'une fille honnéte Er ließ die schmutzigen Knice Zeugnis
ablegen fiir die Tugend des Mädchens!Die Mitteilung, daß körperliche Reinlichkeit sich weit eher mit
der Sünde als mit der Tugend vergesellschafte, beschäftigte mich
oftmals später, als ich durch psychoanalytische Arbeit Einsicht in
die Art gewann, wie sich die Kulturmenschen heute mit dem Problem
ihrer Leiblichkeit auseinandersetzen。 Sie werden offenbar durch alles
geniert, was allzu deutlich an die tierische Natur des Menschen
mahnt. Sie wollen es den ,,vollendeteren Engeln“ gleichtun, die in
der letzten Szene des Faust klagen:„Uns bleibt ein Erdenrest
zu tragen peinlich,und wir’ er von Asbest,
er ist nicht reinlich.“Da sie aber von solcher Vollendung weit entfernt bleiben miissen,
haben sie den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest
möglichst zu verleugnen, ihn vorcinander zu verbergen, obwohl ihn
jeder vom anderen kennt, und ihm die Aufmerksamkeit und Pflege
zu entziehen, auf welche er als integrierender Bestandteil ihres
Wesens ein Anrecht hätte, Es wire gewiß vorteilhafter gewesen,
sich zu ihm zu bekennen und ihm so viel Veredlung angedeihen
zu lassen, als seine Natur gestattet.Es ist gar nicht einfach zu übersehen oder darzustellen, welche
Folgen für die Kultur diese Behandlung des „peinlichen Erden-
restes“ mit sich gebracht hat, als dessen Kern man die sexuellen
und die exkrementellen Funktionen bezeichnen darf. Heben
wir nur die eine Folge hervor, die uns hier am nächsten angeht,
daß es der Wissenschaft versagt worden ist, sich mit diesen ver-
n Seiten des Menschenlebens zu beschäftigen, so daß derjenige,
welcher diese Dinge studiert, als kaum weniger „unanstindig” gilt,
wie wer das Unanständige wirklich tut.Immerhin, Psychoanalyse und Folkloristik haben sich nicht ab-
halten lassen, auch diese Verbote zu übertreten, und haben uns
dann allerlei lehren können, was für die Kenntnis des Menschen
unentbehrlich ist. Beschränken wir uns hier auf die Ermittlungen
über das Exkrementelle, so können wir als Hauptergebnis der16%
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psychoanalytischen Untersuchungen mitteilen, daß das Menschenkind
genötigt ist, während seiner ersten Entwicklung jene Wandlungen
im Verhältnis des Menschen zum Exkrementellen zu wiederholen,
welche wahrscheinlich mit der Abhebung des Homo sapiens von der
Mutter Erde ihren Anfang genommen haben. In frithesten Kind-
heitjahren ist von einem Schämen wegen der exkrementellen Funk-
tionen, von einem Ekel vor den Exkrementen noch keine Spur.
Das kleine Kind bringt diesen wie anderen Sekretionen seines
Körpers ein großes Interesse entgegen, beschäftigt sich gerne mit
ihnen und weiß aus diesen Beschäftigungen mannigfaltige Lust zu
ziehen, Als Teile seines Körpers und als Leistungen seines Orga-
nismus haben die Exkremente Anteil an der — von uns narzißtisch
genannten 一 Hochschátzung, mit der das Kind alles zu seiner
Person gehörige bedenkt. Das Kind ist etwa stolz auf seine Aus-
scheidungen, verwendet sie im Dienste seiner Selbstbehauptung
gegen die Erwachsenen. Unter dem Einfluß der Erziehung verfallen
die koprophilen Triebe und Neigungen des Kindes allmählich
der Verdrängung; das Kind lernt sie geheimhalten, sich ihrer
schämen und vor den Objekten derselben Ekel empfinden. Der Ekel
geht aber, streng genommen, nie so weit, daß er die eigenen Aus-
scheidungen träfe, er begnügt sich mit der Verwerfung dieser
Produkte, wenn sie von anderen stammen. Das Interesse, das bisher
den Exkrementen galt, wird auf andere Objekte iibergeleitet,
z. B. vom Kot aufs Geld, welches dem Kind ja erst spät bedeutungs-
voll wird. Aus der Verdrängung der koprophilen Neigungen ent-
wickeln sich — oder verstärken sich — wichtige Beiträge zur
Charakterbildung.Dic Psychoanalyse fügt noch hinzu, daß das exkrementelle
Interesse beim Kinde anfinglich von den sexuellen Interessen nicht
getrennt ist; die Scheidung zwischen den beiden tritt erst spiter
auf, aber sic bleibt nur unvollkommen; die ursprüngliche, durch
die Anatomie des menschlichen Körpers festgelegte Gemeinschaft
schlägt noch beim normalen Erwachsenen in vielen Stücken durch.
Endlich darf nicht vergessen werden, daß diese Entwicklungen
ebensowenig wie irgendwelche andere ein tadelloses Ergebnis liefern
können; ein Stück der alten Vorliebe bleibt erhalten, ein AnteilS.
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der koprophilen Neigungen zeigt sich auch im spåteren Leben
wirksam und äußert sich in den Neurosen, Perversionen, Unarten,
Gewohnheiten der Erwachsenen.Die Folkloristik hat ganz andere Wege der Forschung einge-
schlagen und doch dieselben Resultate wie die psychoanalytische
Arbeit erreicht. Sie zeigt uns, wie unvollkommen die Verdrängung
der koprophilen Neigungen bei verschiedenen Völkern und zu ver-
schicdenen Zeiten ausgefallen ist, wie sehr sich die Behandlung der
exkrementellen Stoffe auf anderen Kulturstufen der infantilen Weise
annåhert. Sie beweist uns aber auch dic Fortdauer der primitiven,
wahrhaft unausrottbaren, koprophilen Interessen, indem sie zu
unserem Erstaunen vor uns ausbreitet, in welcher Fülle von Ver-
wendungen in Zauberbrauch, Volkssitte, Kulthandlung und Heil-
kunst die einstige Hochschätzung der menschlichen Ausscheidungen
sich neuen Ausdruck geschaffen hat. Auch die Beziehung dieses
Gebietes zum Sexualleben scheint durchweg erhalten zu sein. Mit
dieser Förderung unserer Einsichten ist eine Gefährdung unserer
Sittlichkeit offenbar nicht verbunden.Das meiste und beste, was wir über die Rolle der Aus-
scheidungen im Leben der Menschen wissen, ist in dem Buche von
J. G. Bourke ,Scatologic Rites of all Nations" zusammen-
getragen. Es ist daher nicht nur ein mutiges, sondern auch ein ver-
dienstvolles Unternehmen, dieses Werk den deutschen Lesern zu-
gänglich zu machen.
freud-1931-sexualtheorie
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