Notiz über den ›Wunderblock‹ 1925-001/1931
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    NOTIZ ÜBER DEN
    „WUNDERBLOCK“

    (1925)

    Wenn ich meinem Gedächtnis mißtraue — der Neurotiker
    tut dies bekanntlich in auffälligem Ausmaße, aber auch der
    Normale hat allen Grund dazu — so kann ich dessen Funk-
    tion ergänzen und versichern, indem ich mir eine schriftliche
    Aufzeichnung mache. Die Fläche, welche diese Aufzeichnung
    bewahrt, die Schreibtafel oder das Blatt Papier, ist dann
    gleichsam ein materialisiertes Stück des Erinnerungsapparates,
    den ich sonst unsichtbar in mir trage. Wenn ich mir nur den
    Ort merke, an dem die so fixierte „Erinnerung“ unter-
    gebracht ist; so kann ich sie jederzeit nach Belieben „repro-
    duzieren“ und bin sicher, daß sie unverändert geblieben,
    also den Entstellungen entgangen ist, die sie vielleicht in
    meinem Gedächtnis erfahren hätte.

    Wenn ich mich dieser Technik zur Verbesserung meiner
    Gedächtnisfunktion in ausgiebiger Weise bedienen will,
    bemerke ich, daß mir zwei verschiedene Verfahren zu Gebote
    stehen. Ich kann erstens eine Schreibfläche wählen, welche
    die ihr anvertraute Notiz unbestimmt lange unversehrt be-
    wahrt, also ein Blatt Papier, das ich mit Tinte beschreibt. Ich

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    erhalte dann eine „dauerhafte Erinnerungsspur“. Der Nach-
    teil dieses Verfahrens besteht darin, daß die Aufnahmsfähig-
    keit der Schreibfläche sich bald erschöpft. Das Blatt ist voll-
    geschrieben, hat keinen Raum für neue Aufzeichnungen und
    ich sehe mich genötigt‚ ein anderes noch unbeschriebenes
    Blatt in Verwendung zu nehmen. Auch kann der Vorzug
    dieses Verfahrens, das eine „Dauerspur“ liefert, seinen Wert
    für mich verlieren, nämlich wenn mein Interesse an der Notiz
    nach einiger Zeit erloschen ist und ich sie nicht mehr „im
    Gedächtnis behalten“ will. Das andere Verfahren ist von
    beiden Mängeln frei. Wenn ich zum Beispiel mit Kreide auf
    eine Schiefertafel schreibe, so habe ich eine Aufnahmsfläche,
    die unbegrenzt lange aufnahmsfähig bleibt und deren Auf-
    zeichnungen ich zerstören kann, sobald sie mich nicht mehr
    interessieren, ohne die Schreibfläche selbst verwerfen zu
    müssen. Der Nachteil ist hier, daß ich eine Dauerspur nicht
    erhalten kann. Will ich neue Notizen auf die Tafel bringen,
    so muß ich die, mit denen sie bereits bedeckt ist, wegwischen.
    Unbegrenzte Aufnahmsfähigkeit und Erhaltung von Dauer-
    spuren scheinen sich also für die Vorrichtungen, mit denen
    wir unser Gedächtnis substituieren, auszuschließen, es muß
    entweder die aufnehmende Fläche erneut oder die Aufzeich-
    nung vernichtet werden.

    Die Hilfsapparate, welche wir zur Verbesserung oder Ver-
    stärkung unserer Sinnesfunktionen erfunden haben, sind alle
    so gebaut wie das Sinnesorgan selbst oder Teile desselben
    (Brille, photographische Kamera, Hörrohr usw.). An diesem
    Maß gemessen, scheinen die Hilfsvorrichtungen für unser
    Gedächtnis besonders mangelhaft zu sein, denn unser seeli-
    scher Apparat leistet gerade das, was diese nicht können;
    er ist in unbegrenzter Weise aufnahmsfähig für immer neue
    Wahrnehmungen und schafft doch dauerhafte — wenn auch
    nicht unveränderliche — Erinnerungsspuren von ihnen. Ich

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    habe schon in der „Traumdeutung" man die Vermutung aus-
    gesprochen, daß diese ungewöhnliche Fähigkeit auf die
    Leistung zweier verschiedener Systeme (Organe des seelischen
    Apparates) aufzuteilen sei. Wir besäßen ein System W-Bw,
    welches die Wahrnehmungen aufnimmt, aber keine Dauer-
    spur von ihnen bewahrt, so daß es sich gegen jede neue
    Wahrnehmung wie ein unbeschriebenes Blatt verhalten kann.
    Die Dauerspuren der aufgenommenen Erregungen kämen in
    dahinter gelegenen „Erinnerungssystemen“ zustande. Später
    („Jenseits des Lustprinzips“) habe ich die Bemerkung hinzu-
    gefügt, das unerklärliche Phänomen des Bewußtseins entstehe
    im Wahrnehmungssystem an Stelle der Dauerspuren.

    Vor einiger Zeit ist nun unter dem Namen Wunder-
    block
    ein kleines Gerät in den Handel gekommen, das
    mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die
    Sehiefertafel. Es will nicht mehr sein als eine Schreibtafel,
    von der man die Aufzeichnungen mit einer bequemen Han-
    tierung entfernen kann. Untersucht man es aber näher, so
    findet man in seiner Konstruktion eine bemerkenswerte
    Übereinstimmung mit dem von mir supponierten Bau unseres
    Wahrnehmungsapparats und überzeugt sich, daß es wirklich
    beides liefern kann, eine immer bereite Aufnahmsfläche und
    Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen.

    Der Wunderblock ist eine in einen Papierrand gefaßte
    Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse, über
    welche ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, am
    oberen Ende an der Wachstafel fest haftend, am unteren ihr
    frei anliegend. Dieses Blatt ist der interessanten Anteil des
    kleinen Apparats. Es besteht selbst aus zwei Schichten, die
    außer an den beiden queren Rändern von einander abge-
    hoben werden können. Die obere Schicht ist eine durch-
    sichtige Zelluloidplatte, die untere ein dünnes, also durch-
    scheinendes Wachspapier. Wenn der Apparat nicht gebraucht

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    wird, klebt die untere Fläche des Wachspapiers der oberen
    Fläche der Wachstafel leicht an.

    Man gebraucht diesen Wunderblock, indem man die
    Aufschreibung auf der Zelluloiclplatte des die Wachstafel
    deckenden Blattes ausführt. Dun bedarf es keines Bleistifts
    oder einer Kreide, denn das Schreiben beruht nicht darauf,
    daß Material an die aufnehmende Fläche abgegeben wird. Es
    ist eine Rückkehr zur Art, wie die Alten auf Ton- und
    Wachstäfelchen schrieben. Ein spitzer Stilus ritzt die Ober-
    fläche, deren Vertiefungen die „Schrift“ ergeben. Beim Wun-
    derblock geschieht dieses Ritzen nicht direkt, sondern unter
    Vermittlung des darüber liegenden Deckblattes. Der Stilus
    drückt an den von ihm berührten Stellen die Unterfläche
    des Wachspapiers en die Wachstafel an und diese Furchen
    werden an der sonst glatten weißlichgrauen Oberfläche des
    Zelluloids als dunkle Schrift sichtbar. Will man die Auf-
    schreibung zerstören, so genügt es, das Zusammengesetzte
    Deckblatt von seinem freien unteren Rand her mit leichtem
    Griff von der Wachstafel abzuheben. Der innige Kontakt
    zwischen Wachspapier und Wachstafel an den geritzten
    Stellen, auf dem das Sichtbarwerden der Schrift beruhte,
    wird damit gelöst und stellt sich auch nicht her, wenn die
    beiden einander wieder berühren. Der Wunderblock ist nun
    schriftfrei und bereit, neue Aufzeichnungen aufzunehmen.

    Die kleinen Unvollkommenheiten des Geräts haben für
    uns natürlich kein Interesse, de wir nur dessen Annäherung
    an die Struktur des seelischen Wahmehmungsapparats ver-
    folgen wollen.

    Wenn man, während der Wunderblock beschrieben ist,
    die Zelluloidplatte vorsichtig vom Wechspapier abhebt, so
    sieht man die Schrift ebenso deutlich auf der Oberfläche des
    letzteren und kann die Frage stellen, wozu die Zelluloidplatte
    des Deckblattes iiberhaupt notwendig ist. Der Versuch zeigt

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    dann, daß das dünne Papier sehr leicht in Falten gezogen
    oder zerrissen werden würde, wenn man es direkt mit dem
    Stilus beschriebe. Das Zelluloidblatt ist also eine schützende
    Hülle für das Wachspapier, die schädigende Einwirkungen
    von außen abhalten soll. Das Zelluloid ist ein „Reizschutz“;
    die eigentlich reizaufnehmende Schicht ist das Papier. Ich
    darf nun darauf hinweisen, daß ich im „Jenseits des Lust-
    prinzips“ ausgeführt habe, unser seelischer Wahrnehmungs-
    apparat bestehe aus zwei Schichten, einem äußeren Reiz-
    schutz, der die Größe der ankommenden Erregungen herab-
    setzen soll, und aus der reizaufnehmenden Oberfläche dahin-
    ter, dem System W-Bw.

    Die Analogie hätte nicht viel Wert, wenn sie sich nicht
    weiter verfolgen ließe. Hebt man das ganze Deckblatt —
    Zelluloid und Wachspapier — von der Wachstafel ab, so
    verschwindet die Schrift und stellt sich, wie erwähnt, auch
    später nicht wieder her. Die Oberfläche des Wunderblocks
    ist schriftfrei und von neuem aufnahmsfähig. Es ist aber
    leicht festzustellen, daß die Dauerspur des Geschriebenen auf
    der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Be-
    lichtung lesbar ist. Der Block liefert also nicht nur eine
    immer von neuem verwendbare Aufnahmsfläche wie die
    Schiefertafel, sondern auch Dauerspuren der Aufschreibung
    wie der gewöhnliche Papierblock; er löst das Problem, die
    beiden Leistungen zu vereinigen, indem er sie auf zwei
    gesonderte, mit einander verbundene Be-
    standteile — Systeme — verteilt
    . Das ist aber
    ganz die gleiche Art, wie nach meiner oben erwähnten An-
    nahme unter seelischer Apparat die Wahrnehmungsfunktion
    erledigt. Die reizaufnehmende Schicht — das System W-Bw
    — bildet keine Dauerspuren, die Grundlagen der Erinnerung
    kommen in anderen, anstoßenden Systemen zustande.

    Es braucht uns dabei nicht zu stören, daß die Dauerspuren

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    der empfangenen Aufzeichnungen beim Wunderblock nicht
    verwertet werden; es genügt, daß sie vorhanden sind. Irgend-
    wo muß ja die Analogie eines solchen Hilfsapparats mit dem
    vorbildlichen Organ ein Ende finden. Der Wunderblock
    kann ja auch nicht die einmal verlöschte Schrift von innen
    her wieder „reproduzieren“; er wäre wirklich ein Wunder-
    block, wenn er das wie unser Gedächtnis vollbringen könnte.
    Immerhin erscheint es mit jetzt nicht allzu gewagt, das aus
    Zelluloid und Wachspapier bestehende Deckblatt mit dem
    System W-Bw und seinem Reizschutz, die Wachstafel mit
    dem Unbewußten dahinter, das Sichtbarwerden der Schrift
    und ihr Verschwinden mit dem Aufleuchten und Vergehen
    des Bewußtseins bei der Wahrnehmung gleichzustellen. Ich
    gestehe aber, daß ich geneigt bin, die Vergleichung noch
    weiter zu treiben.

    Beim Wunderblock verschwindet die Schrift jedesmal,
    wenn der innige Kontakt zwischen dem den Reiz empfan-
    genden Papier und. der den Eindruck bewahrenden Wachs-
    talel aufgehoben wird. Das trifft mit einer Vorstellung zu-
    sammen, die ich mir längst über die Funktionsweise des
    seelischen Wahrnehmungsapparats gemacht, aber bisher für
    mich behalten habe. Ich habe angenommen, daß Besetzungs-
    innervationen in raschen periodischen Stößen aus dem Inne-
    ren in das völlig durchlässige System W-Bw geschickt und
    wieder zurückgezogen werden. Solange das System in solcher
    Weise besetzt ist, empfängt es die von Bewußtsein begleiteten
    Wahrnehmungen und leitet die Erregung weiter in die un-
    bewußten Erinnerungssysteme; sobald die Besetzung zurück-
    gezogen wird‚ erlischt das Bewußtsein und die Leistung des
    Systems ist sistiert. Es wäre so, als ob das Unbewußte mittels
    des Systems W-Bw der Außenwelt Fühler entgegenstrecken
    würde, die rasch zurückgezogen werden, nachdem sie deren
    Erregungen verkostet haben. Ich ließ also die Unterbrechun-

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    gen, die beim Wunderblock von außen her geschehen, durch
    die Diskontinuität der Innervntionsströmung zustande kom-
    men, und an Stelle einer wirklichen Kontaktaufhebung stand
    in meiner Annahme die periodisch eintretende Unerregbar-
    keit des Wahrnehmungssystems. Ich vermutete ferner, daß
    diese diskontinuierliche Arbeitsweise des Systems W-Bw der
    Entstehung der Zeitvorstellung zugrunde liegt.

    Denkt man sich, daß während eine Hand die Oberfläche
    des Wunderblocks beschreibt, eine andere periodisch das
    Deckblatt desselben von der Wachstafel abhebt, so wäre das
    eine Versinnlichung der Art, wie ich mir die Funktion
    unseres seelischen Wahrnehmungsapparats vorstellen wollte.