Die Verneinung 1925-003/1931
  • S.

    DIE VERNEINUNG
     

    (1925)
     

    Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der
    analytischen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlaß zu einigen
    interessanten Beobachtungen. „Sie werden jetzt denken, ich
    will etwas Beleidigendes sagen, aber ich habe wirklich nicht
    diese Absicht." Wir verstehen, das ist die Abweisung eines
    eben auftauchenden Einfalles durch Projektion. Oder „,Sie
    fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist
    es nicht." Wir berichtigen: Also ist es die Mutter. Wir
    nehmen uns die Freiheit, bei der Deutung von der Verneinung
    abzusehen und den reinen Inhalt des Einfalls herauszugreifen.
    Es ist so, als ob der Patient gesagt hätte:,,Mir ist zwar die
    Mutter zu dieser Person eingefallen, aber ich habe keine Lust,
    diesen Einfall gelten zu lassen."
     

    Gelegentlich kann man sich eine gesuchte Aufklärung über
    das unbewußte Verdrängte auf eine sehr bequeme Weise ver-
    schaffen. Man fragt: Was halten Sie wohl für das Aller-
    unwahrscheinlichste in jener Situation? Was, meinen Sie, ist
    Ihnen damals am fernsten gelegen? Geht der Patient in die
    Falle und nennt das, woran er am wenigsten glauben kann, so
    hat er damit fast immer das Richtige zugestanden. Ein
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    400
     

    hübsches Gegenstück zu diesem Versuch stellt sich oft beim
    Zwangsneurotiker her, der bereits in das Verständnis seiner
    Symptome eingeführt worden ist. Ich habe eine neue
    Zwangsvorstellung bekommen. Mir ist sofort dazu einge-
    fallen, sie könnte dies Bestimmte bedeuten. Aber nein, das
    kann ja nicht wahr sein, sonst hätte es mir nicht einfallen
    können." Was er mit dieser der Kur abgelauschten Begrün-
    dung verwirft, ist natürlich der richtige Sinn der neuen
    Zwangsvorstellung.
     

    Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann
    also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung,
    daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art,
    das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon
    eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine An-
    nahme des Verdrängten. Man sieht, wie sich hier die intel-
    lektuelle Funktion vom affektiven Vorgang scheidet. Mit
    Hilfe der Verneinung wird nur die eine Folge des Verdrän-
    gungsvorganges rückgängig gemacht, daß dessen Vorstellungs-
    inhalt nicht zum Bewußtsein gelangt. Es resultiert daraus
    eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei
    Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung. Im
    Verlauf der analytischen Arbeit schaffen wir oft eine andere,
    schr wichtige und ziemlich befremdende Abänderung der-
    selben Situation. Es gelingt uns, auch die Verneinung zu
    besiegen und die volle intellektuelle Annahme des Verdräng-
    ten durchzusetzen, der Verdrängungsvorgang selbst ist
    damit noch nicht aufgehoben.
     

    Da es die Aufgabe der intellektuellen Urteilsfunktion ist,
     

    1) Derselbe Vorgang liegt dem bekannten Vorgang des
    Berufens" zugrunde. Wie schön, daß ich meine Migräne so
    lange nicht gehabt habe!" Das ist aber die erste Ankündigung des
    Anfalls, dessen Herannahen man bereits verspürt, aber noch nicht
    glauben will.
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    401
     

    Gedankeninhalte zu bejahen oder zu verneinen, haben uns
    die vorstehenden Bemerkungen zum psychologischen Ur-
    sprung dieser Funktion geführt. Etwas im Urteil verneinen,
    heißt im Grunde: das ist etwas, was ich am liebsten ver-
    drängen möchte. Die Verurteilung ist der intellektuelle Ersatz
    der Verdrängung, ihr Nein ein Merkzeichen derselben, ein
    Ursprungszertifikat etwa wie das ,,made in Germany". Ver-
    mittels des Verneinungssymbols macht sich das Denken von
    den Einschränkungen der Verdrängung frei und bereichert
    sich um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht entbehren
    kann.
     

    Die Urteilsfunktion hat im wesentlichen zwei Entschei-
    dungen zu treffen. Sie soll einem Ding eine Eigenschaft zu-
    oder absprechen, und sie soll einer Vorstellung die Existenz
    in der Realität zugestehen oder bestreiten. Die Eigenschaft,
    über die entschieden werden soll, könnte ursprünglich gut
    oder schlecht, nützlich oder schädlich gewesen sein. In der
    Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: das
    will ich essen oder will es ausspucken, und in weitergehender
    Übertragung: das will ich in mich einführen und das aus
    mir ausschließen. Also: es soll in mir oder außer mir sein.
    Das ursprüngliche Lust-Ich will, wie ich an anderer Stelle
    ausgeführt habe, alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte
    von sich werfen. Das Schlechte, das dem Ich Fremde, das
    Außenbefindliche, ist ihm zunächst identisch².
     

    Die andere der Entscheidungen der Urteilsfunktion, die
    über die reale Existenz eines vorgestellten Dinges, ist ein
    Interesse des endgültigen Real-Ichs, das sich aus dem an-
    fänglichen Lust-Ich entwickelt. (Realitätsprüfung.) Nun
    handelt es sich nicht mehr darum, ob etwas Wahrgenom-
    menes (ein Ding) ins Ich aufgenommen werden soll oder
    2) Vgl. hiezu die Ausführungen in „Triebe und Triebschicksale"
    [Seite 58 ff dieses Bandes.]
     

    Freud, Theoretische Schriften 26
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    402
     

    nicht, sondern ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhan-
    denes auch in der Wahrnehmung (Realität) wiedergefunden
    werden kann. Es ist, wie man sieht, wieder eine Frage des
    Außen und Innen. Das Nichtreale, bloß Vorgestellte,
    Subjektive, ist nur innen; das andere, Reale, auch im
    Draußen vorhanden. In dieser Entwicklung ist die Rück-
    sicht auf das Lustprinzip beiseite gesetzt worden. Die Er-
    fahrung hat gelehrt, es ist nicht nur wichtig, ob ein Ding
    (Befriedigungsobjekt) die „gute" Eigenschaft besitzt, also die
    Aufnahme ins Ich verdient, sondern auch, ob es in der
    Außenwelt da ist, so daß man sich seiner nach Bedürfnis be-
    mächtigen kann. Um diesen Fortschritt zu verstehen, muß
    man sich daran erinnern, daß alle Vorstellungen von Wahr-
    nehmungen stammen, Wiederholungen derselben sind. Ur-
    sprünglich ist also schon die Existenz der Vorstellung eine
    Bürgschaft für die Realität des Vorgestellten. Der Gegensatz
    zwischen Subjektivem und Objektivem besteht nicht von
    Anfang an. Er stellt sich erst dadurch her, daß das Denken
    die Fähigkeit besitzt, etwas einmal Wahrgenommenes durch
    Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu
    machen, während das Objekt draußen nicht mehr
    vorhanden zu sein braucht. Der erste und nächste
    Zweck der Realitätsprüfung ist also nicht, ein dem
    Vorgestellten entsprechendes Objekt in der realen
    Wahrnehmung zu finden, sondern es wiederzu-
    finden, sich zu überzeugen, daß es noch vorhanden
    ist. Ein weiterer Beitrag zur Entfremdung zwischen dem
    Subjektiven und dem Objektiven rührt von einer anderen
    Fähigkeit des Denkvermögens her. Die Reproduktion der
    Wahrnehmung in der Vorstellung ist nicht immer deren
    getreue Wiederholung; sie kann durch Weglassungen modi-
    fiziert, durch Verschmelzungen verschiedener Elemente ver-
    ändert sein. Die Realitätsprüfung hat dann zu kontrollieren,
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    403
     

    wie weit diese Entstellungen reichen. Man erkennt aber als
    Bedingung für die Einsetzung der Realitätsprüfung, daß
    Objekte verloren gegangen sind, die einst reale Befriedigung
    gebracht hatten.
     

    Das Urteilen ist die intellektuelle Aktion, die über die
    Wahl der motorischen Aktion entscheidet, dem Denkauf-
    schub ein Ende setzt und vom Denken zum Handeln über-
    leitet. Auch über den Denkaufschub habe ich bereits an
    anderer Stelle gehandelt. Er ist als eine Probeaktion zu be-
    trachten, ein motorisches Tasten mit geringen Abfuhrauf-
    wänden. Besinnen wir uns: wo hatte das Ich ein solches
    Tasten vorher geübt, an welcher Stelle die Technik erlernt,
    die es jetzt bei den Denkvorgängen anwendet? Dies geschah
    am sensorischen Ende des seelischen Apparats, bei den
    Sinneswahrnehmungen. Nach unserer Annahme ist ja die
    Wahrnehmung kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich
    schickt periodisch kleine Besetzungsmengen in das Wahr-
    nehmungssystem, mittels deren es die äußeren Reize ver-
    kostet, um sich nach jedem solchen tastenden Vorstoß wieder
    zurückzuziehen.
     

    Das Studium des Urteils eröffnet uns vielleicht zum ersten-
    mal die Einsicht in die Entstehung einer intellektuellen
    Funktion aus dem Spiel der primären Triebregungen. Das
    Urteilen ist die zweckmäßige Fortentwicklung der ursprüng-
    lich nach dem Lustprinzip erfolgten Einbeziehung ins Ich
    oder Ausstoẞung aus dem Ich. Seine Polarität scheint der
    Gegensätzlichkeit der beiden von uns angenommenen Trieb-
    gruppen zu entsprechen. Die Bejahung als Ersatz der Ver-
    einigung gehört dem Eros an, die Verneinung Nach-
    folge der Ausstoßung. dem Destruktionstrieb. Die allge-
    meine Verneinungslust, der Negativismus mancher Psycho-
    tiker ist wahrscheinlich als Anzeichen der Triebentmischung
    durch Abzug der libidinösen Komponenten zu verstehen.
     

  • S.

    Die Verneinung
     

    404
     

    Die Leistung der Urteilsfunktion wird aber erst dadurch
    ermöglicht, daß die Schöpfung des Verneinungssymbols dem
    Denken einen ersten Grad von Unabhängigkeit von den
    Erfolgen der Verdrängung und somit auch vom Zwang des
    Lustprinzips gestattet hat.
     

    Zu dieser Auffassung der Verneinung stimmt es sehr gut,
    daß man in der Analyse kein „Nein" aus dem Unbewußten
    auffindet, und daß die Anerkennung des Unbewußten von
    seiten des Ichs sich in einer negativen Formel ausdrückt.
    Kein stärkerer Beweis für die gelungene Aufdeckung des
    Unbewußten, als wenn der Analysierte mit dem Satze: Das
    habe ich nicht gedacht, oder: Daran habe ich
    nicht (nie) gedacht, darauf reagiert.