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DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE
Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl
Vortrag auf dem Psychoanalytischen
Kongreß zu München 1913, zuerst ver-
üffentlicht in der „Internationalen Zeit-
schrift für ärztliche Psychoanalyse“, I,
1913.Das Problem, warum und wieso ein Meusch an einer
Neurose erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von der
Psychoanalyse beantwortet werden sollen. Es ist aber wahr-
scheinlich, daB diese Antwort erst iiber ein anderes und
spezielleres wird gegeben werden können, über das Problem,
warum diese und jene Person gerade an der einen bestimmten
Neurose und an keiner anderen erkranken muB. Dies ist
das Problem der Neurosenwahl.Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich ist
hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir unter-
scheiden die fiir die Neurosen in Betracht kommenden Krank-
heitsursachen in solche, die der Mensch ins Leben mitbringt,
und solche, die das Leben an ihn heranbringt, konstitutionelle
und akzidentelle, durch deren Zusammenwirken erst in der
Regel die Krankheitsverursachung hergestellt wird. Nun besagtS.
4 Sigm. Freud
der eben angekündigte Satz, daß die Gründe für die Ent-
scheidung der Neurosenwahl durchwegs von der ersteren Art
sind, also von der Natur der Dispositionen, und unabhängig
von den pathogen wirkenden Erlebnissen.Worin suchen wir die Herkunft dieser Dispositionen? Wir sind
aufmerksam darauf geworden, daß die in Betracht kommenden
psychischen Funktionen — vor allem die Sexualfunktion, aber
ebenso verschiedene wichtige Ichfunktionen — eine lange
und komplizierte Entwicklung durchzumachen haben, bis sie
zu dem fiir den normalen Erwachsenen charakteristischen
Zustand gelangen. Wir nehmen nun an, daß diese Entwick-
lungen nicht immer so tadellos vollzogen werden, daß die
gesamte Funktion der fortschrittlichen Veränderung unterliege.
Wo ein Stick derselben die vorige Stufe festhält, da ergibt
sich eine sogenannte ,, Fixierungsstelle“, zu welcher die Funktion
im Falle der Erkrankung durch äuBerliche Störung regre-
dieren kann.Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen.
Die Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie
anderer Krankheiten bestårkt uns in dieser Auffassung. Bei
der Frage, welche Faktoren solche Störungen der Ent-
wicklung hervorrufen können, macht aber die psychoanalyti-
sche Arbeit halt und überläßt dies Problem der biologischen
Forschung."Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits vor
einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl herangewagt.
Unsere Arbeitsrichtung, welche dahin geht, die normalen Ver-1) Seitdem die Arbeiten von W. Flief die Bedeutung bestimmter Zeit-
größen für die Biologie aufgedeckt haben, ist es denkbar geworden, daß
sich Entwicklungsstórung auf zeitliche Abünderung von Entwicklungsschiiben
zurückführt.S.
Die Disposition zur Zwangsneurose 5
håltnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns dazu
geführt, einen ganz besonderen und unerwarteten Angriffs-
punkt zu wählen, Die Reihenfolge, in welcher die Haupt-
formen der Psychoneurosen gewöhnlich aufgeführt werden,
— Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia praecox —
entspricht (wenn auch nicht vóllig genau) der Zeitfolge, in
der diese Affektionen im Leben hervorbrechen. Die hyste-
rischen Krankheitsformen können schon in der ersten Kind-
heit beobachtet werden, die Zwangsneurose offenbart ihre ersten
Symptome gewóhnlich in der zweiten Periode der Kindheit
(von sechs bis acht Jahren an); die beiden anderen, von mir
als Paraphrenie zusammengefaBten Psychoneurosen zeigen sich
erst nach der Pubertät und im Alter der Reife. Diese zuletzt
auftretenden Affektionen haben sich nun unserer Forschung
nach den in die Neurosenwahl auslaufenden Dispositionen zu-
erst zugänglich erwiesen. Die ihnen beiden eigentümlichen
Charaktere des GräBenwahns, der Abwendung von der Welt
der Objekte und der Erschwerung der Übertragung haben
uns zum Schlusse genötigt, daß deren disponierende Fixierung
in einem Stadium der Libidoentwicklung vor der Her-
stellung der Objektwahl, also in der Phase des Autoerotismus
und des NarziBmus zu suchen ist. Diese so spit auftretenden Er-
krankungsformen gehen also auf sehr frühzeitige Hemmungen
und Fixierungen zurück.Demnach würden wir darauf hingewiesen, die Disposition
für Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen
Übertragungsneurosen mit frühzeitiger Symptombildung, in
den jüngeren Phasen der Libidoentwicklung zu vermuten.
Allein worin wire hier die Entwicklungshemmung zu finden
und vor allem, welches würe der Phasenunterschied, der dieS.
6 Sigm. Freud
Disposition zur Zwangsneurose im Gegensatz zur Hysterie
begründen sollte? Darüber war lange nichts zu erfahren,
und meine frither unternommenen Versuche, diese beiden
Dispositionen zu erraten, 2. B. daß die Hysterie durch Passivität,
die Zwangsneurose durch Aktivität im infantilen Erleben
bedingt sein sollte, muBten bald als verfehlt abgewiesen werden.Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Einzel-
beobachtung zurück. Ich habe lange Zeit hindurch eine Kranke
studiert, deren Neurose eine ungewöhnliche Wandlung durch-
gemacht hatte. Dieselbe begann nach einem traumatischen
Erlebnis als glatte Angsthysterie und behielt diesen Charakter
durch einige Jahre bei. Eines Tages aber verwandelte sie
sich plötzlich in eine Zwangsneurose von der schwersten
Art. Ein solcher Fall mußte nach mehr als einer Richtung
bedeutsam werden. Einerseits konnte er vielleicht den Wert
eines bilinguen Dokuments beanspruchen und zeigen, wie
ein identischer Inhalt von den beiden Neurosen in verschiedenen
Sprachen ausgedriickt wird. Anderseits drohte er, unserer
Theorie der Disposition durch Entwicklungshemmung über-
haupt zu widersprechen, wenn man sich nicht zur Annahme
entschlieBen wollte, daB eine Person auch mehr als eine
einzige schwache Stelle in ihrer Libidoentwicklung mitbringen
könne. Ich sagte mir, daß man kein Recht habe, diese letztere
Möglichkeit abzuweisen, war aber auf das Verständnis dieses
Krankheitsfalles sehr gespannt.Als dieses im Laufe der Analyse kam, mußte ich sehen,
daB die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt
hatte. Die Zwangsneurose war nicht eine weitere Reaktion
auf das nåmliche Trauma, welches zuerst die Angsthysterie
hervorgerufen hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis, welchesS.
Die Disposition zur Zwangsneurose 7
das erste völlig entwertet hatte. (Also, eine — allerdings
noch diskutierbare — Ausnahme von unserem Satze, der die
Unabhängigkeit der Neurosenwahl vom Erleben behauptet.)Ich kann leider — aus bekannten Motiven — auf die
Krankengeschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie
ich gern möchte, sondern muß mich auf nachstehende Mit-
teilungen beschränken. Die Patientin war bis zu ihrer
Erkrankung eine glückliche, fast völlig befriedigte Frau gewesen.
Sie wünschte sich Kinder aus Motiven infantiler Wunsch-
fixierung und erkrankte, als sie erfuhr, daß sie von ihrem
ausschließend geliebten Manne keine Kinder bekommen könne.
Die Angsthysterie, mit welcher sie auf diese Versagung
reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen lernte, der
Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen sich der
festgehaltene Wunsch nach einem Kinde durchsetzte. Sie tat
nun alles dazu, um ihren Mann nicht erraten zu lassen, daß
sie infolge der durch ihn determinierten Versagung erkrankt
sei. Aber ich habe nicht ohne gute Gründe behauptet, .daß jeder
Mensch in seinem eigenen Unbewußten ein Instrument besitzt,
mit dem er die Äußerungen des Unbewußten beim anderen
zu deuten vermag; der Mann verstand ohne Geständnis oder
Erklärung, was die Angst seiner Frau bedeute, kränkte sich
darüber, ohne es zu zeigen, und reagierte nun seinerseitsneurotisch, indem er zum erstenmal --- beim Eheverkehr
versagte. Unmittelbar darauf reiste er ab, die Frau hielt ihn
får dauernd impotent geworden und produzierte die ersten
Zwangssymptome an dem Tage vor seiner erwarteten Rückkunft.Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in einem peinlichen
Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst energischenSchutzmaBregeln gegen böse Schädigungen, welche andere
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8 Sigm. Freud
von ihr zu befürchten hätten, also in Reaktionsbildungen
gegen analerotische und sadistische Regungen. In
solchen Formen mußte sich ihr Sexualbedürfnis äußern,
nachdem ihr Genitalleben durch die Impotenz des für sie
einzigen Mannes eine volle Entwertung erfahren hatte.An diesen Punkt hat das kleine, von mir neugebildete
Stückchen Theorie angekniipft, welches natürlich nur schein-
bar auf dieser einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine
große Summe früherer Eindrücke zusammenfaßt, die aber
erst nach dieser letzten Erfahrung fähig wurden, eine Ein-
sicht zu ergeben. Ich sagte mir, daß mein Entwicklungs-
schema der libidinösen Funktion einer neuen Einschaltung
bedarf. Ich hatte zuerst nur unterschieden die Phase des
Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partialtriebe, jeder
für sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe suchen,
und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur Objekt-
wahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der
Fortpflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns, wie
bekannt, genötigt, dazwischen ein Stadium des NarziBmus
einzuschieben, in dem die Objektwahl bereits erfolgt ist,
aber das Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammenfillt,
Und nun sehen wir die Notwendigkeit ein, ein weiteres
Stadium vor der Endgestaltung gelten zu lassen, in dem die
Partialtriebe bereits zur Objektwahl zusammengefaDt sind,
das Objekt sich der eigenen Person schon als eine fremde
gegenüberstellt, aber der Primat der Genitalzonen
noch nicht aufgerichtet ist. Die Partialtriebe, welche
dieseprügenitale Organisation des Sexuallebens beherrschen,
sind vielmehr die analerotischen und die sadistischen.Ich weiB, daB jede solche Aufstellung zunüchst befremdend
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Die Disposition zur Zwangsneurose 9
klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen zu
unserem bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am
Ende ist ihr Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige,
längst geahnte Neuerung erkannt wird. Wenden wir uns
also mit ähnlichen Erwartungen zur Diskussion der „prä-
genitalen Sexualordnung“.a) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zuletzt
mit besonderer Schirfe von E. Jones hervorgehoben worden,
welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß und
Analerotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose
spielen. Dies leitet sich nun unmittelbar aus unserer Auf
stellung ab, wenn es diese Partialtriebe sind, welche in der
Neurose die Vertretung der Genitaltriebe wieder über-
nommen haben, deren Vorgünger sie in der Entwicklung
waren.Hier fügt sich nun das bisher zurückgehaltene Stück aus
der Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexualleben
der Patientin begann im zartesten Kindesalter mit sadistischen
Schlagephantasien. Nach deren Unterdrückung setzte eine
ungewöhnlich lange Latenzzeit ein, in welcher das Mädchen
eine hochreichende moralische Entwicklung durchmachte,
ohne zum weiblichen Sexualempfinden zu erwachen. Mit der
in jungen Jahren geschlossenen Ehe begaun eine Periode
normaler Sexualbetütigung als glückliche Frau, die durch
eine Reihe von Jahren anhielt, bis die erste große Versagung
die hysterische Neurose brachte. Mit der darauf folgenden
Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexualleben, wie
erwühnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück.1) E. Jones: HaB und Analerotik in der Zwangsneurose. (Intern. Zeit-
schrift für ürztl. Psychoanalyse, I, 1915, H. 5.)S.
10 Sigm. Freud
Es ist nicht schwer, den Charakter zu bestimmen, in
welchem sich dieser Fall von Zwangsneurose von den häu-
figeren anderen unterscheidet, die in jüngeren Jahren
beginnen und von da an chronisch mit mehr oder weniger
auffälligen Exazerbationen verlaufen. In diesen anderen Fällen
wird die Sexualorganisation, welche die Disposition zur
Zwangsneurose enthält, einmal hergestellt, nie wieder völlig
überwunden; in unserem Falle ist sie zuerst durch die höhere
Entwicklungsstufe abgelöst und dann durch Regression von
dieser her wieder aktiviert worden.b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß
an biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht
vergessen, daß der Gegensatz von männlich und weiblich,
welcher von der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird, auf
der Stufe der prägenitalen Objektwahl noch nicht vorhanden
sein kann. An seiner Statt finden wir den Gegensatz von
Strebungen mit aktivem und passivem Ziel, der sich später-
hin mit dem Gegensatz der Geschlechter verlöten wird. Die
Aktivität wird vom gemeinen Bemächtigungstrieb beigestellt,
den wir eben Sadismus heißen, wenn wir ihn im Dienste
der Sexualfunktion finden; er hat auch im vollentwickelten
normalen Sexualleben wichtige Helferdienste zu verrichten.
Die passive Strömung wird von der Analerotik gespeist,
deren erogene Zone der alten, undifferenzierten Kloake ent-
spricht. Die Betonung dieser Analerotik auf der prägenitalen
Organisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame
Prädisposition zur Homosexualität hinterlassen, wenn die
nächste Stufe der Sexualfunktion, die des Primats der
Genitalien, erreicht wird. Der Aufbau dieser letzten Phase
über der vorigen und die dabei erfolgende Umarbeitung derS.
Die Disposition zur Zwangsneurose 11
Libidobesetzungen . bietet der analytischen Forschung die
interessantesten Aufgaben.Man kann der Meinung sein, daß man sich allen hier in
Betracht kommenden Schwierigkeiten und Komplikationen
entzieht, wenn man eine prägenitale Organisation des Sexual-
lebens verleugnet und das Sexualleben mit der Genital- und
Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen, wie auch mit ihr
beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit
Rücksicht auf die nicht miBverständlichen Ergebnisse der
analytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß
der Sexualverdringung dazu genötigt werden, sexuelle Stre-
bungen durch andere nicht sexuelle Triebe auszudriicken,
die letzteren also kompensatorisch zu sexualisieren. Wenn
man so verfåhrt, hat man sich aber auBerhalb der Psycho-
analyse begeben. Man steht wieder dort, wo man sich vor
der Psychoanalyse befand, und muB auf das durch sie
vermittelte Verständnis des Zusammenhanges zwischen
Gesundheit, Perversion und Neurose verzichten. Die Psycho-
analyse steht und fållt mit der Anerkennung der sexuellen
Partialtriebe, der erogenen Zonen und der sø gewonnenen
Ausdehnung des Begriffes ,,Sexualfunktion“ im Gegensatz
zur engeren , Genitalfunktion%. Übrigens reicht die Beob-
achtung der normalen Entwicklung des Kindes fiir sich allein
hin, um eine solche Versuchung zuriickzuweisen.c) Auf dem Gebiete der Charakterentwicklung müssen
wir denselben Triebkråften begegnen, deren Spiel wir in den
Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Schei-
dung der beiden wird aber durch den einen Umstand
geboten, daB beim Charakter wegfållt, was dem Neurosen-
mechanismus eigentümlich ist, das MiBglücken der Verdrän-S.
12 Sigm. Freud
gung und die Wiederkehr des Verdrångten. Bei der Charakter-
bildung tritt die Verdrängung entweder nicht in Aktion
oder sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrångte durch
Reaktionsbildungen und Sublimierungen zu ersetzen. Darum
sind die Prozesse der Charakterbildung undurchsichtiger und
der Analyse unzugånglicher als die neurotischen.Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung begegnet
uns aber eine gute Analogie zu dem von uns beschriebenen
Krankheitsfalle, also eine Bekråftigung der prågenitalen
sadistisch-analerotischen Sexualorganisation. Es ist bekannt
und hat den Menschen viel Stoff zur Klage gegeben, daB
die Frauen häufig, nachdem sie ihre Genitalfunktionen auf-
gegeben haben, ihren Charakter in eigentiimlicher Weise
verändern. Sie werden zänkisch, quälerisch und rechthaberisch,
kleinlich und geizig, zeigen also typische sadistische und
analerotische Ziige, die ihnen vorher in der Epoche der
Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Satiriker
haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den „alten
Drachen gerichtet, zu dem das holde Madchen, die liebende
Frau, die zärtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß
diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallebens auf
die prägenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht, in
welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden
haben. Sie wåre also nicht nur die Vorlåuferin der genitalen
Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablösung,
nachdem die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.Der Vergleich einer solchen Charakterveränderung mit
der Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll. In beiden Fållen
das Werk der Regression, aber im ersten Falle volle Regression
nach glatt vollzogener Verdrängung (oder Unterdrückung);S.
Die Disposition zur Zwangsneurose 13
im Falle der Neurose: Konflikt, Bemühung, die Regression
nicht gelten zu lassen, Reaktionsbildungen gegen dieselbe und
Symptombildungen durch Kompromisse von beiden Seiten
her, Spaltung der psychischen Tätigkeiten in bewußtseins-
fähige und unbewußte.d) Unsere Aufstellung einer prägenitalen Sexualorganisation
ist nach zwei Richtungen hin unvollständig. Sie nimmt
erstens keine Rücksicht auf das Verhalten anderer Partial-
triebe, an dem manches der Erforschung und Erwähnung
wert wire, und begnügt sich, den auffälligen Primat von
Sadismus und Analerotik herauszuheben. Besonders vom WiB-
trieb gewinnt man häufig den Eindruck, als ob er im
Mechanismus der Zwangsneurose den Sadismus geradezu
ersetzen. kónnte. Er ist ja im Grunde ein sublimierter, ins
Intellektuelle gehobener SpräBling des Bemächtigungstriebes,
seine Zurückweisung in der Form des Zweifels nimmt im
Bilde der Zwangsneurose einen breiten Raum ein.Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen,
daß die entwicklungsgeschichtliche Disposition für eine
Neurose nur dann vollstindig ist, wenn sie die Phase der
Ichentwicklung, in ‘welcher die Fixierung eintritt, ebenso
berücksichtigt wie die der Libidoentwicklung. Unsere Auf-
stellung hat sich aber nur auf die letztere bezogen, sie ent-
hält also nicht die ganze Kenntnis, die wir fordern dürfen.
Die Entwicklungsstadien der Ichtriebe sind uns bis jetzt sehr
wenig bekannt; ich weiß nur von einem vielversprechenden
Versuch von Ferenczi, sich diesen Fragen zu nähern.‘ Ich
weiß nicht, ob es zu gewagt erscheint, wenn ich den vor-1) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. (Internat. Zeitschr.
für årztl. Psychoanalyse, I, 1913, H. 2.)S.
14 Sigm. Freud
handenen Spuren folgend die Annahme ausspreche, daB ein
zeitliches Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libido-
entwicklung in die Disposition zur Zwangsneurose einzu-
tragen ist. Eine solche Voreiligkeit wiirde von den Ichtrieben
her zur Objektwahl nötigen, während die Sexualfunktion
ihre letzte Gestaltung noch nicht erreicht hat, und somit
eine Fixierung auf der Stufe der prägenitalen Sexualordnung
hinterlassen. Erwägt man, daß die Zwangsneurotiker eine
Übermoral entwickeln müssen, um ihre Objektliebe gegen
die hinter ihr lauernde Feindseligkeit zu verteidigen, so
wird man geneigt sein, ein gewisses MaB von diesem Voran-
eilen der Ichentwicklung als typisch für die menschliche
Natur hinzustellen und die Fähigkeit zur Entstehung der
Moral in dem Umstand begründet zu finden, daß nach der
Entwicklung der Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht
ist dies die Bedeutung eines Satzes von W. Stekel, der
mir seinerzeit unfaBbar erschien, daß der Haß und nicht
die Liebe die primäre Gefühlsbeziehung zwischen den
Menschen sei."e) Får die Hysterie erübrigt nach dem Vorstehenden die
innige Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwicklung,
die durch den Primat der Genitalien und die Einführung
der Fortpflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb
unterliegt in der hysterischen Neurose der Verdrångung,
mit welcher eine Regression auf die prågenitale Stufe nicht
verbunden ist. Die Liicke in der Bestimmung der Disposition
infolge unserer Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch
fåhlbarer als bei der Zwangsneurose.Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daß eine
1) W. Stekel: Die Sprache des Traumes, 1911, S. 556.
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Die Disposition zur Zwangsneurose 15
andere Regression auf ein fritheres Niveau auch der Hysterie
zukommt. Die Sexualität des weiblichen Kindes steht, wie
wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leit-
organs (der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die des
Knaben. Ein letzter Entwicklungsschub zur Zeit der Puber-
tit muß diese männliche Sexualität wegschaffen und die
von der Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden erogenen
Zone erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in der
hysterischen Neurose der Frauen eine Reaktivierung dieser
verdringten männlichen Sexualität statt hat, gegen welche
sich dann der Abwehrkampf von seiten der ichgerechten
Triebe richtet. Doch erscheint es mir vorzeitig, an dieser
Stelle in die Diskussion der Probleme der hysterischenDisposition einzutreten.
Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl
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