Die Disposition zur Zwangsneurose 1913-010/1926
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    DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE

    Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl

    Vortrag auf dem Psychoanalytischen
    Kongreß zu München 1913, zuerst ver-
    üffentlicht in der „Internationalen Zeit-
    schrift für ärztliche Psychoanalyse“, I,
    1913.

    Das Problem, warum und wieso ein Meusch an einer
    Neurose erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von der
    Psychoanalyse beantwortet werden sollen. Es ist aber wahr-
    scheinlich, daB diese Antwort erst iiber ein anderes und
    spezielleres wird gegeben werden können, über das Problem,
    warum diese und jene Person gerade an der einen bestimmten
    Neurose und an keiner anderen erkranken muB. Dies ist
    das Problem der Neurosenwahl.

    Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich ist
    hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir unter-
    scheiden die fiir die Neurosen in Betracht kommenden Krank-
    heitsursachen in solche, die der Mensch ins Leben mitbringt,
    und solche, die das Leben an ihn heranbringt, konstitutionelle
    und akzidentelle, durch deren Zusammenwirken erst in der
    Regel die Krankheitsverursachung hergestellt wird. Nun besagt

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    der eben angekündigte Satz, daß die Gründe für die Ent-
    scheidung der Neurosenwahl durchwegs von der ersteren Art
    sind, also von der Natur der Dispositionen, und unabhängig
    von den pathogen wirkenden Erlebnissen.

    Worin suchen wir die Herkunft dieser Dispositionen? Wir sind
    aufmerksam darauf geworden, daß die in Betracht kommenden
    psychischen Funktionen — vor allem die Sexualfunktion, aber
    ebenso verschiedene wichtige Ichfunktionen — eine lange
    und komplizierte Entwicklung durchzumachen haben, bis sie
    zu dem fiir den normalen Erwachsenen charakteristischen
    Zustand gelangen. Wir nehmen nun an, daß diese Entwick-
    lungen nicht immer so tadellos vollzogen werden, daß die
    gesamte Funktion der fortschrittlichen Veränderung unterliege.
    Wo ein Stick derselben die vorige Stufe festhält, da ergibt
    sich eine sogenannte ,, Fixierungsstelle“, zu welcher die Funktion
    im Falle der Erkrankung durch äuBerliche Störung regre-
    dieren kann.

    Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen.
    Die Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie
    anderer Krankheiten bestårkt uns in dieser Auffassung. Bei
    der Frage, welche Faktoren solche Störungen der Ent-
    wicklung hervorrufen können, macht aber die psychoanalyti-
    sche Arbeit halt und überläßt dies Problem der biologischen
    Forschung."

    Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits vor
    einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl herangewagt.
    Unsere Arbeitsrichtung, welche dahin geht, die normalen Ver-

    1) Seitdem die Arbeiten von W. Flief die Bedeutung bestimmter Zeit-
    größen für die Biologie aufgedeckt haben, ist es denkbar geworden, daß
    sich Entwicklungsstórung auf zeitliche Abünderung von Entwicklungsschiiben
    zurückführt.

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    håltnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns dazu
    geführt, einen ganz besonderen und unerwarteten Angriffs-
    punkt zu wählen, Die Reihenfolge, in welcher die Haupt-
    formen der Psychoneurosen gewöhnlich aufgeführt werden,
    — Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia praecox —
    entspricht (wenn auch nicht vóllig genau) der Zeitfolge, in
    der diese Affektionen im Leben hervorbrechen. Die hyste-
    rischen Krankheitsformen können schon in der ersten Kind-
    heit beobachtet werden, die Zwangsneurose offenbart ihre ersten
    Symptome gewóhnlich in der zweiten Periode der Kindheit
    (von sechs bis acht Jahren an); die beiden anderen, von mir
    als Paraphrenie zusammengefaBten Psychoneurosen zeigen sich
    erst nach der Pubertät und im Alter der Reife. Diese zuletzt
    auftretenden Affektionen haben sich nun unserer Forschung
    nach den in die Neurosenwahl auslaufenden Dispositionen zu-
    erst zugänglich erwiesen. Die ihnen beiden eigentümlichen
    Charaktere des GräBenwahns, der Abwendung von der Welt
    der Objekte und der Erschwerung der Übertragung haben
    uns zum Schlusse genötigt, daß deren disponierende Fixierung
    in einem Stadium der Libidoentwicklung vor der Her-
    stellung der Objektwahl, also in der Phase des Autoerotismus
    und des NarziBmus zu suchen ist. Diese so spit auftretenden Er-
    krankungsformen gehen also auf sehr frühzeitige Hemmungen
    und Fixierungen zurück.

    Demnach würden wir darauf hingewiesen, die Disposition
    für Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen
    Übertragungsneurosen mit frühzeitiger Symptombildung, in
    den jüngeren Phasen der Libidoentwicklung zu vermuten.
    Allein worin wire hier die Entwicklungshemmung zu finden
    und vor allem, welches würe der Phasenunterschied, der die

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    Disposition zur Zwangsneurose im Gegensatz zur Hysterie
    begründen sollte? Darüber war lange nichts zu erfahren,
    und meine frither unternommenen Versuche, diese beiden
    Dispositionen zu erraten, 2. B. daß die Hysterie durch Passivität,
    die Zwangsneurose durch Aktivität im infantilen Erleben
    bedingt sein sollte, muBten bald als verfehlt abgewiesen werden.

    Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Einzel-
    beobachtung zurück. Ich habe lange Zeit hindurch eine Kranke
    studiert, deren Neurose eine ungewöhnliche Wandlung durch-
    gemacht hatte. Dieselbe begann nach einem traumatischen
    Erlebnis als glatte Angsthysterie und behielt diesen Charakter
    durch einige Jahre bei. Eines Tages aber verwandelte sie
    sich plötzlich in eine Zwangsneurose von der schwersten
    Art. Ein solcher Fall mußte nach mehr als einer Richtung
    bedeutsam werden. Einerseits konnte er vielleicht den Wert
    eines bilinguen Dokuments beanspruchen und zeigen, wie
    ein identischer Inhalt von den beiden Neurosen in verschiedenen
    Sprachen ausgedriickt wird. Anderseits drohte er, unserer
    Theorie der Disposition durch Entwicklungshemmung über-
    haupt zu widersprechen, wenn man sich nicht zur Annahme
    entschlieBen wollte, daB eine Person auch mehr als eine
    einzige schwache Stelle in ihrer Libidoentwicklung mitbringen
    könne. Ich sagte mir, daß man kein Recht habe, diese letztere
    Möglichkeit abzuweisen, war aber auf das Verständnis dieses
    Krankheitsfalles sehr gespannt.

    Als dieses im Laufe der Analyse kam, mußte ich sehen,
    daB die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt
    hatte. Die Zwangsneurose war nicht eine weitere Reaktion
    auf das nåmliche Trauma, welches zuerst die Angsthysterie
    hervorgerufen hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis, welches

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    das erste völlig entwertet hatte. (Also, eine — allerdings
    noch diskutierbare — Ausnahme von unserem Satze, der die
    Unabhängigkeit der Neurosenwahl vom Erleben behauptet.)

    Ich kann leider — aus bekannten Motiven — auf die
    Krankengeschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie
    ich gern möchte, sondern muß mich auf nachstehende Mit-
    teilungen beschränken. Die Patientin war bis zu ihrer
    Erkrankung eine glückliche, fast völlig befriedigte Frau gewesen.
    Sie wünschte sich Kinder aus Motiven infantiler Wunsch-
    fixierung und erkrankte, als sie erfuhr, daß sie von ihrem
    ausschließend geliebten Manne keine Kinder bekommen könne.
    Die Angsthysterie, mit welcher sie auf diese Versagung
    reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen lernte, der
    Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen sich der
    festgehaltene Wunsch nach einem Kinde durchsetzte. Sie tat
    nun alles dazu, um ihren Mann nicht erraten zu lassen, daß
    sie infolge der durch ihn determinierten Versagung erkrankt
    sei. Aber ich habe nicht ohne gute Gründe behauptet, .daß jeder
    Mensch in seinem eigenen Unbewußten ein Instrument besitzt,
    mit dem er die Äußerungen des Unbewußten beim anderen
    zu deuten vermag; der Mann verstand ohne Geständnis oder
    Erklärung, was die Angst seiner Frau bedeute, kränkte sich
    darüber, ohne es zu zeigen, und reagierte nun seinerseits

    neurotisch, indem er zum erstenmal --- beim Eheverkehr
    versagte. Unmittelbar darauf reiste er ab, die Frau hielt ihn
    får dauernd impotent geworden und produzierte die ersten
    Zwangssymptome an dem Tage vor seiner erwarteten Rückkunft.

    Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in einem peinlichen
    Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst energischen

    SchutzmaBregeln gegen böse Schädigungen, welche andere

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    von ihr zu befürchten hätten, also in Reaktionsbildungen
    gegen analerotische und sadistische Regungen. In
    solchen Formen mußte sich ihr Sexualbedürfnis äußern,
    nachdem ihr Genitalleben durch die Impotenz des für sie
    einzigen Mannes eine volle Entwertung erfahren hatte.

    An diesen Punkt hat das kleine, von mir neugebildete
    Stückchen Theorie angekniipft, welches natürlich nur schein-
    bar auf dieser einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine
    große Summe früherer Eindrücke zusammenfaßt, die aber
    erst nach dieser letzten Erfahrung fähig wurden, eine Ein-
    sicht zu ergeben. Ich sagte mir, daß mein Entwicklungs-
    schema der libidinösen Funktion einer neuen Einschaltung
    bedarf. Ich hatte zuerst nur unterschieden die Phase des
    Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partialtriebe, jeder
    für sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe suchen,
    und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur Objekt-
    wahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der
    Fortpflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns, wie
    bekannt, genötigt, dazwischen ein Stadium des NarziBmus
    einzuschieben, in dem die Objektwahl bereits erfolgt ist,
    aber das Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammenfillt,
    Und nun sehen wir die Notwendigkeit ein, ein weiteres
    Stadium vor der Endgestaltung gelten zu lassen, in dem die
    Partialtriebe bereits zur Objektwahl zusammengefaDt sind,
    das Objekt sich der eigenen Person schon als eine fremde
    gegenüberstellt, aber der Primat der Genitalzonen
    noch nicht aufgerichtet ist. Die Partialtriebe, welche
    dieseprügenitale Organisation des Sexuallebens beherrschen,
    sind vielmehr die analerotischen und die sadistischen.

    Ich weiB, daB jede solche Aufstellung zunüchst befremdend

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    Die Disposition zur Zwangsneurose 9

    klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen zu
    unserem bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am
    Ende ist ihr Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige,
    längst geahnte Neuerung erkannt wird. Wenden wir uns
    also mit ähnlichen Erwartungen zur Diskussion der „prä-
    genitalen Sexualordnung“.

    a) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zuletzt
    mit besonderer Schirfe von E. Jones hervorgehoben worden,
    welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß und
    Analerotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose
    spielen. Dies leitet sich nun unmittelbar aus unserer Auf
    stellung ab, wenn es diese Partialtriebe sind, welche in der
    Neurose die Vertretung der Genitaltriebe wieder über-
    nommen haben, deren Vorgünger sie in der Entwicklung
    waren.

    Hier fügt sich nun das bisher zurückgehaltene Stück aus
    der Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexualleben
    der Patientin begann im zartesten Kindesalter mit sadistischen
    Schlagephantasien. Nach deren Unterdrückung setzte eine
    ungewöhnlich lange Latenzzeit ein, in welcher das Mädchen
    eine hochreichende moralische Entwicklung durchmachte,
    ohne zum weiblichen Sexualempfinden zu erwachen. Mit der
    in jungen Jahren geschlossenen Ehe begaun eine Periode
    normaler Sexualbetütigung als glückliche Frau, die durch
    eine Reihe von Jahren anhielt, bis die erste große Versagung
    die hysterische Neurose brachte. Mit der darauf folgenden
    Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexualleben, wie
    erwühnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück.

    1) E. Jones: HaB und Analerotik in der Zwangsneurose. (Intern. Zeit-
    schrift für ürztl. Psychoanalyse, I, 1915, H. 5.)

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    Es ist nicht schwer, den Charakter zu bestimmen, in
    welchem sich dieser Fall von Zwangsneurose von den häu-
    figeren anderen unterscheidet, die in jüngeren Jahren
    beginnen und von da an chronisch mit mehr oder weniger
    auffälligen Exazerbationen verlaufen. In diesen anderen Fällen
    wird die Sexualorganisation, welche die Disposition zur
    Zwangsneurose enthält, einmal hergestellt, nie wieder völlig
    überwunden; in unserem Falle ist sie zuerst durch die höhere
    Entwicklungsstufe abgelöst und dann durch Regression von
    dieser her wieder aktiviert worden.

    b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß
    an biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht
    vergessen, daß der Gegensatz von männlich und weiblich,
    welcher von der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird, auf
    der Stufe der prägenitalen Objektwahl noch nicht vorhanden
    sein kann. An seiner Statt finden wir den Gegensatz von
    Strebungen mit aktivem und passivem Ziel, der sich später-
    hin mit dem Gegensatz der Geschlechter verlöten wird. Die
    Aktivität wird vom gemeinen Bemächtigungstrieb beigestellt,
    den wir eben Sadismus heißen, wenn wir ihn im Dienste
    der Sexualfunktion finden; er hat auch im vollentwickelten
    normalen Sexualleben wichtige Helferdienste zu verrichten.
    Die passive Strömung wird von der Analerotik gespeist,
    deren erogene Zone der alten, undifferenzierten Kloake ent-
    spricht. Die Betonung dieser Analerotik auf der prägenitalen
    Organisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame
    Prädisposition zur Homosexualität hinterlassen, wenn die
    nächste Stufe der Sexualfunktion, die des Primats der
    Genitalien, erreicht wird. Der Aufbau dieser letzten Phase
    über der vorigen und die dabei erfolgende Umarbeitung der

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    Libidobesetzungen . bietet der analytischen Forschung die
    interessantesten Aufgaben.

    Man kann der Meinung sein, daß man sich allen hier in
    Betracht kommenden Schwierigkeiten und Komplikationen
    entzieht, wenn man eine prägenitale Organisation des Sexual-
    lebens verleugnet und das Sexualleben mit der Genital- und
    Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen, wie auch mit ihr
    beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit
    Rücksicht auf die nicht miBverständlichen Ergebnisse der
    analytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß
    der Sexualverdringung dazu genötigt werden, sexuelle Stre-
    bungen durch andere nicht sexuelle Triebe auszudriicken,
    die letzteren also kompensatorisch zu sexualisieren. Wenn
    man so verfåhrt, hat man sich aber auBerhalb der Psycho-
    analyse begeben. Man steht wieder dort, wo man sich vor
    der Psychoanalyse befand, und muB auf das durch sie
    vermittelte Verständnis des Zusammenhanges zwischen
    Gesundheit, Perversion und Neurose verzichten. Die Psycho-
    analyse steht und fållt mit der Anerkennung der sexuellen
    Partialtriebe, der erogenen Zonen und der sø gewonnenen
    Ausdehnung des Begriffes ,,Sexualfunktion“ im Gegensatz
    zur engeren , Genitalfunktion%. Übrigens reicht die Beob-
    achtung der normalen Entwicklung des Kindes fiir sich allein
    hin, um eine solche Versuchung zuriickzuweisen.

    c) Auf dem Gebiete der Charakterentwicklung müssen
    wir denselben Triebkråften begegnen, deren Spiel wir in den
    Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Schei-
    dung der beiden wird aber durch den einen Umstand
    geboten, daB beim Charakter wegfållt, was dem Neurosen-
    mechanismus eigentümlich ist, das MiBglücken der Verdrän-

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    gung und die Wiederkehr des Verdrångten. Bei der Charakter-
    bildung tritt die Verdrängung entweder nicht in Aktion
    oder sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrångte durch
    Reaktionsbildungen und Sublimierungen zu ersetzen. Darum
    sind die Prozesse der Charakterbildung undurchsichtiger und
    der Analyse unzugånglicher als die neurotischen.

    Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung begegnet
    uns aber eine gute Analogie zu dem von uns beschriebenen
    Krankheitsfalle, also eine Bekråftigung der prågenitalen
    sadistisch-analerotischen Sexualorganisation. Es ist bekannt
    und hat den Menschen viel Stoff zur Klage gegeben, daB
    die Frauen häufig, nachdem sie ihre Genitalfunktionen auf-
    gegeben haben, ihren Charakter in eigentiimlicher Weise
    verändern. Sie werden zänkisch, quälerisch und rechthaberisch,
    kleinlich und geizig, zeigen also typische sadistische und
    analerotische Ziige, die ihnen vorher in der Epoche der
    Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Satiriker
    haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den „alten
    Drachen gerichtet, zu dem das holde Madchen, die liebende
    Frau, die zärtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß
    diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallebens auf
    die prägenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht, in
    welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden
    haben. Sie wåre also nicht nur die Vorlåuferin der genitalen
    Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablösung,
    nachdem die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.

    Der Vergleich einer solchen Charakterveränderung mit
    der Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll. In beiden Fållen
    das Werk der Regression, aber im ersten Falle volle Regression
    nach glatt vollzogener Verdrängung (oder Unterdrückung);

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    Die Disposition zur Zwangsneurose 13

    im Falle der Neurose: Konflikt, Bemühung, die Regression
    nicht gelten zu lassen, Reaktionsbildungen gegen dieselbe und
    Symptombildungen durch Kompromisse von beiden Seiten
    her, Spaltung der psychischen Tätigkeiten in bewußtseins-
    fähige und unbewußte.

    d) Unsere Aufstellung einer prägenitalen Sexualorganisation
    ist nach zwei Richtungen hin unvollständig. Sie nimmt
    erstens keine Rücksicht auf das Verhalten anderer Partial-
    triebe, an dem manches der Erforschung und Erwähnung
    wert wire, und begnügt sich, den auffälligen Primat von
    Sadismus und Analerotik herauszuheben. Besonders vom WiB-
    trieb gewinnt man häufig den Eindruck, als ob er im
    Mechanismus der Zwangsneurose den Sadismus geradezu
    ersetzen. kónnte. Er ist ja im Grunde ein sublimierter, ins
    Intellektuelle gehobener SpräBling des Bemächtigungstriebes,
    seine Zurückweisung in der Form des Zweifels nimmt im
    Bilde der Zwangsneurose einen breiten Raum ein.

    Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen,
    daß die entwicklungsgeschichtliche Disposition für eine
    Neurose nur dann vollstindig ist, wenn sie die Phase der
    Ichentwicklung, in ‘welcher die Fixierung eintritt, ebenso
    berücksichtigt wie die der Libidoentwicklung. Unsere Auf-
    stellung hat sich aber nur auf die letztere bezogen, sie ent-
    hält also nicht die ganze Kenntnis, die wir fordern dürfen.
    Die Entwicklungsstadien der Ichtriebe sind uns bis jetzt sehr
    wenig bekannt; ich weiß nur von einem vielversprechenden
    Versuch von Ferenczi, sich diesen Fragen zu nähern.‘ Ich
    weiß nicht, ob es zu gewagt erscheint, wenn ich den vor-

    1) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. (Internat. Zeitschr.
    für årztl. Psychoanalyse, I, 1913, H. 2.)

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    handenen Spuren folgend die Annahme ausspreche, daB ein
    zeitliches Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libido-
    entwicklung in die Disposition zur Zwangsneurose einzu-
    tragen ist. Eine solche Voreiligkeit wiirde von den Ichtrieben
    her zur Objektwahl nötigen, während die Sexualfunktion
    ihre letzte Gestaltung noch nicht erreicht hat, und somit
    eine Fixierung auf der Stufe der prägenitalen Sexualordnung
    hinterlassen. Erwägt man, daß die Zwangsneurotiker eine
    Übermoral entwickeln müssen, um ihre Objektliebe gegen
    die hinter ihr lauernde Feindseligkeit zu verteidigen, so
    wird man geneigt sein, ein gewisses MaB von diesem Voran-
    eilen der Ichentwicklung als typisch für die menschliche
    Natur hinzustellen und die Fähigkeit zur Entstehung der
    Moral in dem Umstand begründet zu finden, daß nach der
    Entwicklung der Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht
    ist dies die Bedeutung eines Satzes von W. Stekel, der
    mir seinerzeit unfaBbar erschien, daß der Haß und nicht
    die Liebe die primäre Gefühlsbeziehung zwischen den
    Menschen sei."

    e) Får die Hysterie erübrigt nach dem Vorstehenden die
    innige Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwicklung,
    die durch den Primat der Genitalien und die Einführung
    der Fortpflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb
    unterliegt in der hysterischen Neurose der Verdrångung,
    mit welcher eine Regression auf die prågenitale Stufe nicht
    verbunden ist. Die Liicke in der Bestimmung der Disposition
    infolge unserer Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch
    fåhlbarer als bei der Zwangsneurose.

    Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daß eine

    1) W. Stekel: Die Sprache des Traumes, 1911, S. 556.

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    andere Regression auf ein fritheres Niveau auch der Hysterie
    zukommt. Die Sexualität des weiblichen Kindes steht, wie
    wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leit-
    organs (der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die des
    Knaben. Ein letzter Entwicklungsschub zur Zeit der Puber-
    tit muß diese männliche Sexualität wegschaffen und die
    von der Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden erogenen
    Zone erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in der
    hysterischen Neurose der Frauen eine Reaktivierung dieser
    verdringten männlichen Sexualität statt hat, gegen welche
    sich dann der Abwehrkampf von seiten der ichgerechten
    Triebe richtet. Doch erscheint es mir vorzeitig, an dieser
    Stelle in die Diskussion der Probleme der hysterischen

    Disposition einzutreten.