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    15.XI.1911.

     

    Ich zog es vor, diesen Brief nicht brühwarm abzuschicken, ich dachte mir, daß der vollständige Ablauf der Reaktion einen nachträglichen Bericht notwendig machen wird. Im ganzen und großen habe ich aber nur wenig am Gesagten zu ändern. Höchstens so viel, daß ich mir dessen bewußt bin, daß die beschriebenen Vorgänge nur als eine Phase des Befreiungskampfes anzusehen sindB, der unter mancherlei Schwankungen noch lange dauern dürfte.

         Nun zum Sachlichen. Ich danke Ihnen für die angenehme Nachricht der neuen Gründung; ich werde es nicht unversucht lassen, mich als deren Mitarbeiter zu betätigen; der Erfolg ist abzuwarten.

     

         Gymnasial‑Professor Polgár stellte sich mir vor; er ist ein recht tüchtiger Mensch, der noch wenig -A. kann, aber was er gelesen hat, auch richtig verstand. Er stellte mir auch seinen Freund, Dr. Varjas2, vor (natürlich beide Juden). Letzterer gefällt mir weniger; er ist zwar gescheut, aber zu eingebildet. Übrigens sind beide in erster Linie Logiker, die eine von Husserl3 wiederbelebte (angeblich schon seit Aristoteles im Keime vorhandene) absolute Logik auf mathematischer Grundlage betreiben. Diese Logik soll von aller Psychologie, also auch von der Psychoanalyse, unabhängig resp. keiner psychologischen Analyse zugänglich sein. Daß hinter der logischen Denktätigkeit überhaupt ubw. Mechanismen stecken, geben beide zu, sie interessieren sich aber offenbar hauptsächlich für die Funktionsgesetze des Bewußtseinsorgans. Trotz dieser Einstellung wollen sie schon +Ruh haben* und die Psychoanalyse, in der sie noch keine persönliche Erfahrung besitzen: korrigieren, ergänzen, einschränken und systematisieren. Von Prof. Polgár, der etwas bescheidener ist, ist ‑ glaube ich ‑ eher etwas zu erwarten als von seinem Freunde. Also: noch immer nicht die richtigen Mitarbeiter! [C Da das Bw. das Organ für die Realitätserkenntnis ist, müssen die Denkgesetze irgendwie mit der Mathematik, d.h. mit den abstraktesten Gesetzen der Realität, übereinstimmen. Der Nachweis dieses Zusammenhanges zwischen Logik und Mathematik dürfte aber in absehbarer Zeit die Psychoanalyse nicht berühren.]

                                                         Herzlich Ihr

                                                             Ferenczi

     

     

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    A Siehe Brief 38 Fer, Anm. A.

    B In der Handschrift: ist.

    C Eckige Klammern in der Handschrift.

     

         2    Sándor Varjas (1885-1939), ein Philosoph, der sich mit Logik, Erkenntnistheorie, Ästhetik und auch Psychoanalyse beschäftigte. Als Mitglied der sozialdemokratischen Partei nahm er an der Revolution im Spätherbst 1918 aktiv teil und lehrte während der Räterepublik (1919) an der Budapester Universität. Nach der Gegenrevolution wurde er verhaftet und kam 1922 bei einem Gefangenenaustausch in die Sowjetunion.

         3    Edmund Husserl (1859-1938), Begründer der Phänomenologie, promovierte 1883 zum Dr. phil. an der Universität Wien und besuchte von 1884 bis 1886 die Vorlesungen Franz Brentanos, auf dessen Empfehlung er sich 1887 an der Universität Halle für Philosophie habilierte. Ab 1901 außerordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Göttingen, 1916-1928 ordentlicher Professor an der Universität Freiburg. Im Jänner 1936 wurde ihm die Lehrbefugnis von den Nationalsozialisten entzogen.

    Varjas und Polgár beziehen sich auf die Position Husserls im Frühwerk Logische Untersuchungen (2 Bände, Halle 1900 und 1901), wo Husserl den logischen Psychologismus kritisierte und eine Auffassung der Logik als formaler Wissenschaftslehre entfaltete.