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S.
[Budapest,] 19.I.1918.
Lieber Herr Professor,
Kurzer Situationsbericht:
Seit gestern mittag haben wir Generalstreik in Budapest.[1] Angeblich ohne Mithilfe der bisherigen Arbeiterführer hat ein Arbeiter, Mosolygós[2] genannt, die einzelnen Organisationen zur Arbeitseinstellung zu bewegen verstanden. Zuerst stellten die Straßenbahnen ihren Verkehr ein, dann alle Fabriken, heute auch die Druckereien. Auf den Hauptplätzen steht Militär mit Maschinengewehren. Das Programm der Streikenden ist ─ wie die vielen roten Zettelchen sagen ─ 1) sofortiger Friede ohne Annexionen und ohne Rücksicht auf Hoffmann[3], Hindenburg und Ludendorff; 2) allgemeines geheimes Wahlrecht; 3) Beseitigung des Nahrungs‑ und Warenwuchers. Bisher ist die Ordnung nicht gestört worden.
Die Eisenbahnen verkehren noch. Der jüdische Minister Dr. Vázsonyi[4] entpuppte sich als National‑Ungar; die Arbeiter haben mit ihm gebrochen.
Wer weiß, ob ich am 2. früh, wie ich meinte, ankommen kann. Jedenfalls habe ich meine Schlafwagenkarte besorgt.
Ins Spital konnte ich heute nicht hinausgehen. Morgen nimmt mich Lévy mit.
Heute sprach ich mit Dr. Freund, der eine kleine Verwandte[5] zu mir bringen will. Da er vom Besetztsein aller Stunden erfuhr, versprach er, meine Befreiung vom Dienst zu erwirken. Vielleicht gelingt ihm auch das. ‑
Was glauben Sie, sind diese Arbeiter‑Demonstrationen in Wien und Budapest nicht von der Regierung heraufbeschworen, um Deutschland die Unmöglichkeit der Fortführung des Kriegs zu beweisen?
Ihr
F.
[1] Am 7. und 8. November hatten die Bolschewiken in Russland die Macht an sich gerissen (Oktoberrevolution) und traten in der Folge in Waffenstillstandsverhandlungen ein. Am 14. Jänner hatte in den großen Städten Österreichs und Ungarns eine Streikwelle begonnen. Nach russischem Vorbild wurden ein Frieden ohne Annexionen, ein demokratisches Wahlrecht und eine bessere Lebensmittelversorgung gefordert.
[2] Antal Mosolygos (1891-1927) stand dem Galilei-Kreis nahe und spielte eine aktive Rolle beim Streik vom Jänner 1918. Er wurde verhaftet, nach der Oktoberrevolution freigelassen, und wurde Mitbegründer der Kommunistischen Partei. 1919 Freiwilliger bei der Roten Arme. Nach dem Fall der Räterepublik neuerlich verhaftet, kam er bei einem Gefangenenaustausch in die Sowjetunion.
[3] Max Hoffmann (1869-1927), dt. General, ab 1916 Chef des Generalstabes beim Oberbefehlshaber Ost; Vertreter an den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk.
[4] Vilmos Vázsonyi (Weißfeld) (1868-1926), jüdischen Ursprungs, Jurist, liberaler Politiker, Führer der kleinen Partei der Demokratischen Bürger, seit 1902 Abgeordneter, zwischen Jänner und Mai 1918 Justizminister. Er war Anhänger des allgemeinen Wahlrechts, verhängte aber eine Verschärfung der Pressezensur. Anläßlich der `Asternrevolution@ emigrierte er und kam erst nach dem Fall der Räterepublik, deren Gegner er war, nach Ungarn zurück.
[5] Es könnte sich um von Freunds Tochter Vera handeln (siehe 730 Fer und Anm. 3).
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S.
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