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S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.28.5.11.
Lieber Freund
Erst im Druck habe ich Ihren Aufsatz über
die obszoenen Worte würdigen können
u mich über den tiefen Sinn gefreut,
mit denen Sie meine Vermutungen
ausstatten können. Ich bin sehr eingenom̄en
von Ihrer Idee u wünschte nur, daß Sie
den eingehendsten Beweis dafür selbst
erbringen oder durch einen Sprachforscher
erbringen ließen. Ein gestern angelangter
Aufsatz in Jung‑Ungarn hat mir gezeigt,
daß Ihr Wirken in Budapest auf die
besten Kräfte Ihrer Heimat Eindruck macht.
Sie sollten sich trösten, wenn sich gerade
die Ärzte refraktär verhalten; es
macht wenig aus.Wenn ich erst das Zentralbl ganz in meiner
Hand habe, wird es nicht mehr vorkom̄en,
daß eine Arbeit von Ihnen so lange auf
Veröffentlichung wartet. Dazu sind nun
alle Aussichten. Ich weiß zwar nicht
mehr, was ich Ihnen bereits mitgeteilt
habe, was noch nicht. Mein Kopf wird in
der Plage dieser letzten Wochen un-
verläßlich. Es steht nun so, daß sich Stekel
ganz mit mir ausgesöhnt und bei der
Bändigung der anderen sehr gute Dienste -
S.
geleistet hat. Nachdem ich Adler das Consilium
abeundi zustellen ließ, hat er sich am letzten
Mittwoch mit einer gemäßigten Erklärg
begnügt, u ist mit seinen Getreuen vor-
läufig im Verein verblieben. Zum ersten
Mal seit langer Zeit haben sich alle
wieder anständig benom̄en. Stekel ver-
spricht, daß sich die Sezession, wenn über-
haupt, in ruhigen Formen vollziehen
wird. Ich habe unterdeß die Aktion fort-
gesetzt u von Bergmann direkt Adlers
Entfernung aus der Redaktion verlangt.
Ich werde mit Stekel als einzigem Redakteur
gut auskom̄en u ihn besser beeinflußen
können. Ich will ihn ertragen, sein
Fond von Gutmütigkeit ermöglicht
es. Die fehlt bei dem Paranoiker Adler
natürlich ganz.Unterdeß haben mir Dr Sachs und Rank
den Vorschlag eines dritten Journals
gemacht, welches von der Medizin ganz
absehen u sich den literarischen, mytholog.
philosophischen Anwendungen der ΨΑ
widmen soll. Ich weiß nicht, ob dazu schon
Zeit ist, rechne im Falle der Unternehmung
auf Ihre intensivste Mitarbeit. Morgen
abends will ich es mit den beiden besprechen.
Es wäre das Periodicum zu den Schriften
z. angewandten Seelenkunde. -
S.
Mein Kopf weigert sich
endlich neues zu leisten. Verschiedene
Themata, alle nicht ärztlicher Natur, sind
aufgestiegen mit der Empfehlung
für die einsamen Tage in Karlsbad,
so das Unheimliche, die tragische Schuld,
aber die Notwendigkeit, vieles von Anderen
zu lesen schreckt mich davon ab u macht
es mir unmöglich, in Karlsbad darüber
zu arbeiten. So werde ich wahrscheinlich
diese Gelüste nicht befriedigen. Ein
überwältigender Einfall ist mir in all
diesen Wochen versagt geblieben.Von unseren Som̄erplänen kann ich
Ihnen nichts mittheilen, was über die
letzte Bestimmung hinausginge.Ich habe mir Ihr Verhältnis zu Jung
nochmals überlegt u finde, Sie sollten
einen Besuch in Zürich machen zur
Zeit, wenn ich nicht dabei bin, ihm
Ihr Material vorlegen u das Weitere
mit ihm besprechen.Über Ihren Bruder werden Sie unterdeß
beruhigter sein. Ernst geht es nicht
schlecht, er hat gerade heute etwas Inf-
luenza oder Anginafieber, benim̄t -
S.
sich als Patient recht verständig.
In Holland scheint es sich zu regen. Ein Dr
Stärcke bei Utrecht verlangt Aufnahme
in den Verein; er will seit 1905 die ΨΑ
in Wort u Schrift vertreten haben. Ich
habe einen sehr intelligenten Mann
aus Leiden, Dr van Emden, hier, der
an sich die ΨΑ erlernt u sie dann an
Kranken üben wird. An Stekel haben
sich andere holländische Ärzte gewendet.
Marcinowski der Abtrünnige, scheint
sich gar nicht wol zu befinden, hat um
die Erlaubnis, dem Kongreß anzu-
wohnen gebeten u die Antwort erhalten,
sich in Berlin zur Aufnahme zu
melden.Ich grüße Sie herzlich u hoffe
bald wieder von Ihnen zu hören.
Ihr getreuer
FreudErnst Falzeder: "Ferenczi war von Freuds Bemerkung ausgegangen, daß die Zote "durch das Aussprechen der obszönen Worte ... die angegriffene Person zur Vorstellung des betreffenden Körperteils oder der Verrichtung" zwinge (Freud 1905c, S. 106) und meinte, daß den obszönen Worten im besonderen, aber letztlich allen Worten die Fähigkeit innewohne, "den Hörer zur regressiv-halluzinatorischen Belebung der Erinnerungsbilder zu zwingen" (1911, 75; Schriften I, S. 62)."
Jenö Harnik (): Zur Psychologie des Propagandisten. Jung‑Ungarn, Verlag Bruno Cassirer.
Siehe auch das Referat von J. Th. v. Kalmár im Zentralblatt (1910-11, 1: S. 510)."Das consilium abeundi (abgekürzt c.a., wörtlich: „der Rat, wegzugehen“, von lat. consilium „Rat“ und abire „weggehen“) ist ursprünglich ein Begriff aus der akademischen Gerichtsbarkeit der Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts. Als Strafe für Studenten bedeutete das c.a. einen Verweis von der Hochschule und die Aufforderung zum Verlassen der Stadt; dies konnte sich auch auf eine festgelegte Bannmeile außerhalb der Stadtumgebung beziehen. Dem c.a. musste je nach Universitätsverfassung innerhalb von einem bis drei Tagen Folge geleistet werden." (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Consilium_abeundi [2025-07-04)]
Siehe dazu Protokolle der WPV vom 17. und 24.5.1911Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften
Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. Imago
August Stärcke (geboren 12. August 1880 in Amsterdam; gestorben 16. September 1954 in Den Dolder, Zeist)
Niederländischer Psychiater und Psychoanalytiker. Er wurde 1911 Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.
"August Stärckes Vater war Buchhalter, sein Großvater war als Handwerker aus Deutschland in die Niederlande gezogen. Stärckes Bruder Johan Stärcke[1] übersetzte 1913 Sigmund Freuds Traumdeutung ins Niederländische, er starb bereits 1917. Stärcke war schulisch begabt, übersprang eine Schulklasse und schloss das Medizinstudium mit 21 Jahren ab. Er studierte Psychiatrie und Neurologie bei Cornelis Winkler[2] und Johannes Wertheim Salomonson[3]. Er arbeitete vier Jahre in der Psychiatrie in Zutphen und danach für ein Jahr als Privatarzt einer Superreichen auf deren Anwesen. Mit 28 Jahren heiratete er die Tochter eines Landarztes. Ab 1910 war er in der Heilanstalt Willem Arntsz Stichting in Den Dolder als Psychiater angestellt, wo er auch nach seiner Erkrankung und Pensionierung im Jahr 1940 bis zu seinem Lebensende wohnen blieb.
Nach der Lektüre von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter und Sigmund Freuds Die Traumdeutung um 1905 war Stärckes Interesse an der Psychoanalyse geweckt, wobei er selbst keine Ausbildung und auch keine Lehranalyse durchlief. Im Jahr 1911 veröffentlichte er seinen ersten Beitrag im Zentralblatt für Psychoanalyse, dem annähernd 20 Artikel in psychoanalytischen Zeitschriften folgten. Stärcke war zwischen 1911 und 1917 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV). Er übersetzte 1914 Freuds Aufsatz Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität ins Niederländische. Für seine Schrift Psychoanalyse und Psychiatrie 1921 erhielt er einen Freud-Preis. Die Niederländische Psychoanalytische Gesellschaft ernannte ihn zum Ehrenmitglied. In den letzten zehn Lebensjahren widmete er sich der Entomologie und befasste sich mit Käfern, Ameisen und Hautflüglern." (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/August_Stärcke [2025-07-04])Jan E.G. van Emden (1868-1950) aus Den Haag. 1919 Präsident der Holländischen Vereinigung.
Marcinowski
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Ungarn
http://data.onb.ac.at/rec/AC16607581 Autogr. 1053/10(1-12) HAN MAG