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S.
4.7.12
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Ich stelle mir vor, Sie sind bei der Arbeit und werden bald Besseres zu notieren haben. Von hier wenig Neues. Ranks Inzestbuch1 ist erschienen, sehr stattlichA, und ich meine, sehr gut. Ich habe in diesen letzten zwei Wochen 1 Stunden täglich weniger Arbeit, bin aber nicht mehr produktiv.
Alles, was von Zürich kommt oder darüber berichtet, spricht für einen schlechten Stand dort. Oberholzer, Pfister, Binswanger treffen sich in der Kennzeichnung von Jungs Auflehnung, die die Zukunft ganz ungewiß macht. Mir selbst hat er wieder zwei Wochen lang nicht geschrieben. Er predigt jetzt gegen die analytische Tätigkeit der Laien, nachdem er doch selbst Pfister in die Analyse geführt hat.
Ihrem Bruder vielen Dank von uns allen.2
Ihren Aufsatz gegen Putnam habe ich unverändert Rank übergeben. Milderungen können Sie noch in der Korrektur eintreten lassen, die Sie dann vor dem Druck an P[utnam] schicken.
Wenn Sie Abraham sehen, grüßen Sie ihn intensiv von mir, erinnern ihn aber nicht an seine Prophezeiung, daß +der Mensch in seinem Ehrgeiz noch alles ruinieren wird*.3
Ich wünsche Ihnen den überraschenden Erfolg und warte auf Ihre Nachrichten.
Ihr getreuer
Freud
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A In der Handschrift: staatlich.
1 Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage, Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens, Leipzig und Wien 1912.
3 Offenbar Anspielung auf Jung, den Abraham Freud gegenüber mehrmals als ehrgeizig beschrieben hatte (z.B. Freud/Abraham, Briefwechsel, 16.7.1908 und 9.8.1912, S. 55 und 123f.). Diese Formulierung findet sich allerdings nicht im veröffentlichten Briefwechsel.
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S.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Ungarn
http://data.onb.ac.at/rec/AC16572410 Autogr. 1053/13(1-13) HAN MAG