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INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR
ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
Herausgegeben von Professor Dr Sigm. Freud
Schriftleitung: Dr. S. Ferenczi, Budapest, VII. Elisabethring 54
/ Dr. Otto Rank, Wien IX/4, Simondenkgasse 8
Verlag Hugo Heller & Co, Wien, I. Bauernmarkt No 3
Abonnementspreis: ganzjährig (6 Hefte, 36‑40 Bogen) K 21.60 = Mk. 18.‑
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Wien, am 23 Dez 1912A
Lieber Freund
Ich mache mir auch das Vergnügen, Ihnen auf unserem Papier den Weihnachtsgruß zu schreiben. Sie können sich denken, daß ich Ihnen nichts so dringend wünsche als Genesung von der langweiligen Geschichte. Wir haben es sehr recht gefunden, aber es sehr bedauert, daß Sie nicht zu Abrahams Anwesenheit hieher gekommen sind. Rank, der alle Tage unentbehrlicher wird, hat Sie ja sondiert, ob Sie Besuch wünschen. Mir war, ehrlich gestanden, Ihre Absage doch recht, weil ich in größtem Gedränge mit der dritten Übereinstimmung bin.
Ihre Vorschläge zur Namensänderung sind leider durch die Situation erledigt. Der Profit wäre nicht so groß, um das Ärgernis beim Verleger mit Ankündigungen und Drucksorten zu rechtfertigen. +Medizinisch* hatte ich übrigens zuerst und habe es der Pädagogen wegenB verworfen.
Die peinliche Sensation des Tages ist der beiliegende, seit ich das Schämen darüber überwunden habe, auch Rank und Sachs bekannte Brief von Jung. Ich darf wohl sagen, er ist unerhört frech. Zur Vorgeschichte bemerke ich, daß er unlängst geschrieben, er habe die Absicht, eine Kritik über Adler zu machen. Ich darauf, es würde gut sein, weil in Wien hartnäckig verbreitet würde, daß er nochmal zu Adler abschwenke. Darauf er: er habe Einsicht in eine Kritik von jener Seite, aus der hervorgeht, daß +nicht einmal Adler und Spießgesellen mich zu den Ihrigen rechnen*. Darauf fragte ich bei ihm an, ob er objektiv genug sei, sich über dies Verschreiben nicht zu ärgern, und nun darauf sein Brief.
Schwierig ist die Reaktion darauf. Er ist ja offenbar angelegt, mich zu provozieren, so daß die Schuld des Abbruchs auf mich fällt und er sagen kann, ich vertrage die Analyse nicht. Anderseits, wenn ich ruhig und gemäßigt antworte und ihn behandle wie einen unserer Patienten, wenn er einen Schimpfanfall bekommt, meint er, ich fürchte mich, und wird noch kühner, oder ich kann ihn unentwegt weiterbehandeln. In solcher Verlegenheit schiebe ich die Reaktion auf, besonders bis unsere Zeitschrift unter Dach ist, und schicke den lammherzigen Antwortentwurf Ihnen anstatt ihm.
Die Lektionen, die er in München bekommen hat, sind also bereits vergessen. Meine Neurose in Ehren, ich hoffe, ich beherrsche sie recht gut. Aber er benimmt sich wie ein florider Narr und brutaler Kerl, der er ja ist. Der Meister, der ihn analysiert hat, kann nur Frl. Molzer gewesen sein, und er ist so töricht, auf diese Arbeit eines Frauenzimmers, mit der [er] ein Verhältnis hat, stolz zu sein. Wahrscheinlich ist sie es, die ihn sofort, wie er nach Zürich zurückgekehrt ist, aufgehetzt hat.
Meine Konstruktion der Totemmahlzeit bewährt sich praktisch; von allen Seiten fallen die +Brüder* über mich her, voran natürlich die +Religionsstifter*. Ein Patient hat unlängst eine Woche lang nichts herausgebracht, weil er die Grausamkeit nicht leisten konnte, mich zu erinnern, daß ein Bruder oder Onkel von mir als Raubmörder hingerichtet worden sei. Ein Dr. Birstein aus Odessa, der als eifriger Adlerianer nach Wien gekommen ist, hat einen Patienten von mir mit aller Gewalt zu Adler bringen wollen und ihm erzählt, ich sei so ehrgeizig, weil ich der Sohn eines Schames sei, und leide an Agoraphobie usw. usw. Von Zürich verlauten ähnliche freundliche Dinge. Es ist etwas Schönes, Gesetzmäßiges an der Sache, aber es gehört ein guter Magen dazu.
Hárnik habe ich ganz in Ihrem Sinne Bescheid gegeben, den Vorschlag aber gar nicht ins Plenum gebracht, sondern im Ausschuß erledigt. Seine Beleidigung wird für die weitere Erfüllung Ihrer Absichten sorgen. Er wird den Weg zu Adler schon finden.
In der gegenwärtigen Krise möchte ich vor allem die Existenz unserer Organe nicht gefährden. Ich glaube aber, Jung fürchtet die Eventualität einer Auflösung des Vereins mehr als wir und will mich jetzt vom Verein aus aufsaugen. Ich werde sehr reserviert bleiben, nehme aber Ihre ‑ gekühlten ‑ Ratschläge sehr gerne entgegen.
Mit herzlichen Grüßen und Wünschen für rasche Beendigung der rein somatischen Symptome
Ihr
Freud
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A Siehe Brief 358 Fer, Anm. A.
B In der Handschrift: wenig.
<Anmerkung für die Übersetzer: lammherzig = Mischwort aus lammfromm bzw. Lammsgeduld und lahm, lahmherzig; im Englischen: Mischung aus lame, feeble und lamblike, also etwa *lamelike+.>
In seinem nicht abgeschickten Antwortentwurf vom 22.12.1912 meinte Freud, er wolle nicht in eigener Sache über den Vorwurf urteilen, er "mißbrauche die Analyse, um [s]eine Schüler in infantiler Abhängigkeit zu halten", sei aber "gewöhnt, in Wien den entgegengesetzten Vorwurf zu hören", daß er sich "mit der Analyse der *Schüler+ zu wenig befasse" (Freud/Jung, Briefwechsel, S. 596).
Maria Moltzer (1874-1944), Tochter des Besitzers der holländischen Likörfabrik Bols, wurde aus Protest gegen den Alkoholmißbrauch Krankenschwester. Sie wurde von Jung zur Psychotherapeutin ausgebildet und arbeitete ab 1913 als analytische Psychologin. Wir konnten keine Hinweise dafür finden, daß sie Jung analysiert hat.
Eine ähnliche Situation hatte sich in der Analyse des *Rattenmannes+ ergeben, der zu wissen gemeint hatte, "daß in meiner Familie einmal ein großes Unglück geschehen, ein Bruder der Kellner war, habe in Budapest Mord begangen u sei hingerichtet worden. Ich lache auf, woher er das wisse u damit sinkt sein ganzer Affekt zusammen" (Freud 1955a[1907-08], S. 545). Es handelte sich um einen - nicht mit Freud verwandten - Eisenbahnmörder, einen gewissen Leopold Freud (Freud 1955a[1907-08]; Nachtragsband, S. 546).
Möglicherweise J. Birstein, Autor von >Ein psychologischer Beitrag zur Frage des Alkoholismus<; Zentralblatt, 1912-13, 3: S. 501-508.
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