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    PROF. DR. FREUD  WIEN IX., BERGGASSE 19.

    30. 3. 14.

    Verehrter Herr Kollege

    Heute Ihre Arbeit aus dem Am. J. of med. 
    sciences March 1914 erhalten und gelesen. 
    Sie hat mir außerordentlich gefallen, 
    vielleicht am besten unter den ausgezeich-
    neten, beredten und inhaltreichen 
    Schriften, sie Sie mir zugeschickt haben; 
    vielleicht aber nur darum, weil sie 
    die letzte ist. Möge sie nun nicht lange 
    die letzte bleiben.

    Ich weiß keine Stelle zu nennen, an 
    welcher ich mich nicht voll mit Ihnen 
    identifiziren könnte, soweit die ΨA in 
    Betracht kom̄t. Von der Philosophie 
    verstehe ich bekanntlich nichts, mit der 
    Erkenntniskritik (mit, nicht vor) hört 
    da mein Interesse auf.  Ich bin auch 
    ganz mit Ihnen einverstanden, daß 
    die ψα Behandlung einen Platz auf-
    zusuchen und einzunehmen habe unter 
    den Methoden, wie die ethische und intel-
    lektuelle Entwicklung des Einzelnen 
    möglichst hoch zu bringen sei. Unsere 
    Differenz ist z. Th. rein praktischer 
    Natur u beschränkt sich darauf, 
    daß ich die weitere Erziehung 

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    nicht in die Hände des Psychoanalytikers legen 
    möchte. Ich glaube ja auch nicht, daß die ΨA 
    jede andere körperliche Behandlung 
    überflüßig macht; doch habe ich immer 
    gefunden, daß es unmöglich ist, die ΨA 
    mit einer noch so berechtigten somat-
    ischen Therapie zu kombiniren, weil 
    dann diese letztere sofort die ΨA 
    in den Hintergrund drängt. Ich glaube, 
    der Grund dafür liegt an dem ganz 
    besonders hohen Widerstandsdruck, 
    unter dem die ψα Arbeit steht, dieser 
    kom̄t aber auch für den Arzt selbst 
    in Betracht.  (Die Analytiker sind ja 
    selbst weit entfernt von dem Ideal, 
    das Sie mit Recht fordern). Sowie man 
    ihnen die Aufgabe zugesteht, an 
    der Sublimirung zu arbeiten, hasten 
    sie von der aufopferungsvollen ψα 
    Arbeit möglichst rasch weg, um zur 
    bequemeren, erfreulicheren Thätigkeit 
    als Lehrer und Vorbilder aller Tug-
    enden zu kommen, wie wir es jetzt
    in Zürich erleben. Dabei ist die ΨA 
    noch nicht halb fertig in der Wissenschaft 
    geschweige denn, daß sie am Einzelnen 
    weit genug geführt würde.

    The great ethical element in the ψα work 
    is truth and again truth and this  
    should suffice for most people. Courage and truth are 
    of what they are mostly deficient.

    Yours sincerely 
    Freud