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    PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19.

    19. 6. 14.

    Verehrter Freund u Kollege

    Ich habe mit großem Bedauern die 
    Nachricht von dem Hinscheiden Ihres 
    Bruders vernommen u danke Ihnen 
    sehr für die Zusendung des Nachrufes, 
    mittelst dessen ich gewiße Züge meiner 
    Erinnerung an ihn, z. B. seine liebens-
    würdigen Hilfeleistungen besser verstehe.

    Ich danke Ihnen auch für Ihre Selbst-
    kritik in Betreff Adler’s u ergreife 
    die Gelegenheit, Sie auf eine Schrift 
    vorzubereiten, welche Ihnen demnächst 
    in mehreren Exemplaren — zur gütigen 
    Verteilung unter den Mitgliedern 
    der neuen Bostoner Gruppe, von der 
    wir noch keine Adressen haben — zugehen 
    wird. Mir fällt wiederum wie gewöhnlich 
    die schwerste Aufgabe zu, diesmal mich 
    gegen Leute zu wehren, sie anzuklagen 
    und von mir zu weisen, die sich durch 
    viele Jahre meine Schüler genannt 
    haben und Alles meiner Anregung 
    verdanken.  Ich bin keine streitbare 
    Natur, ja ich teile nicht die so häufige 

  • S.

    Meinung, dass wissenschaftlicher Streit 
    Klärung und Förderung bringt. Aber 
    ich mag auch die faulen Kompromiße 
    nicht und würde nichts für eine unfrucht-
    bare Versöhnung opfern.

    Ich hoffe, dass die Schweizer u ihr Anhang 
    nach der Lektüre meiner Streitschrift 
    im neuen Jahrbuch den Verein verlassen 
    werden, so daß wir wieder im Wesen 
    einig und mit freundlichen Gefülen 
    gegen einander unsere Kongreße 
    abhalten können. Möglich, daß sich die 
    Spaltung dann nach Amerika fort-
    setzt, wo ja Jelliffe Parteigänger 
    Jungs ist.

    Mit großem Bedauern höre ich, daß Sie 
    auch heuer nicht nach Europa 
    kommen werden.  Ich kom̄e auch 
    nicht sobald nach Amerika; lassen Sie 
    mich hoffen, daß der dünne zwischen 
    uns ausgespannte Faden von 
    Korrespondenz nicht so bald reißen 
    wird.

    Ihr in Hochachtung ergebener 
    Freud