• S.

    20. Dezember 1924  

    Liebe Freunde!  

    Nach allem, was in der letzten Zeit mit mir und durch mich vorgefallen  
    ist, fühle ich das Bedürfnis, Euch als mittel- oder unmittelbar Beteiligten auch  
    Mitteilung von einer Wandlung zu machen, die sich in mir und mit mir vollzogen  
    hat, und die es – wie ich hoffe – rechtfertigt, daß ich mich in der alten Form  
    an Euch als ehemalig gemeinsame Freunde und Mitarbeiter wenden kann, in der 
    Absicht, mein Verhalten zunächst aufzuklären und soweit der eine oder andere von 
    Euch persönlich davon betroffen wurde auch [zu] entschuldigen und schließlich gut 
    zu machen.  

    Erst nach den letzten Vorgängen in Wien, über die Ihr ja wohl unter-  
    richtet seid, ist mir meine Einstellung und mein Benehmen der letzten Zeit  
    dem Professor gegenüber klar geworden. Offenbar mußten erst gewisse Dinge  
    geschehen sein, ehe ich zur Einsicht kommen konnte, daß meine affektiven Re-
    aktionen gegen den Professor und gegen Euch, soweit Ihr für mich die ihm  
    nahestehenden Brüder repräsentiertet, unbewußten Konflikten entstammten, über  
    die ich mir und auch Euch erst jetzt Rechenschaft geben kann, nachdem ich sie  
    auf diese Weise überwunden habe.  

    Ich bin plötzlich aus einem Zustand, den ich jetzt als neurotisch  
    erkennen kann, wieder zu mir selbst gekommen und habe nicht nur den aktuellen  
    Anlaß der ganzen Krise in dem Trauma erkannt, das für mich in der lebensge-
    fährlichen Erkrankung des Professors gegeben war, sondern auch Art und Mecha-
    nismus meiner Reaktion darauf aus meiner persönlichen Kinder- und Familienge-
    schichte – den Ödipus- und Bruderkomplex – verstehen können. Ich habe so  
    realerweise Konflikte erledigen müssen, die mir wahrscheinlich durch eine  
    rechtzeitige Analyse erspart geblieben wären, die ich aber durch dieses schmerz-
    liche Erlebnis überwunden zu haben glaube.  

    Aus analytischen Aussprachen mit dem Professor, in denen ich meine  
    Reaktionen im Detail aus affektiven Einstellungen aufklären konnte, schöpfe ich  
    die Hoffnung, daß es mir gelungen ist, zunächst das persönliche Verhältnis zu 
    bereinigen, da der Professor meine Aufklärungen befriedigend gefunden und mir 
    auch persönlich vergeben hat. In weiterer Folge wird sich auch auf wissen-
    schaftlichem Gebiete, wo ich die Dinge nach Beseitigung meiner affektiven Wi-
    derstände objektiver zu sehen imstande sein werde, Gelegenheit zur Diskussion, 
    Aufklärung und Annäherung ergeben, so daß ich zuversichtlich glaube, so viel 
    als überhaupt möglich wieder gutmachen zu können.  

    Aber schon bevor dies in Erscheinung treten kann, möchte ich jeden  
    einzelnen von Euch bitten, meine affektiven Äußerungen gegen ihn aus diesem  
    Zustand zu verstehen und als nicht persönlich aufzufassende Reaktion zu  
    entschuldigen, wobei ich als entlastendes Moment hervorhebe, daß ich diese 
    Äußerungen nie über unseren engsten Kreis hinausgetragen habe, daß sie also 
    lediglich in den Rundbriefen und Komiteesitzungen der letzten Zeit sowie 
    schließlich in zwei Briefen, die ich im Sommer aus Amerika an den Professor 
    gerichtet habe, gefallen sind.  

    Vor allem fühle ich mich Abraham gegenüber zur Genugtuung verpflich-  
    tet, dessen gelegentliche kritische Bemerkungen ich offenbar bereitwillig  
    als Anlässe zu stärkeren Reaktionen aufgegriffen habe und gegen dessen Rolle  
    als Ankläger beim Professor ich zuletzt so heftig aus meinem Bruderkomplex 
    reagierte. Ich kann nur hoffen, l. Abraham, daß Dir meine auf schmerzlichem 
    Wege gewonnene Einsicht in diesen Sachverhalt und mein aufrichtiges Bedau-
    ern darüber ermöglichen werden, die Dir aus dieser Einstellung heraus zuge-
    fügte Kränkung zu vergeben und zu vergessen.  

    Was Jones betrifft, so habe ich gewiß auch gegen ihn aus derselben Ein-  
    stellung heraus in ähnlicher Weise gefehlt, nur glaube ich, daß er mir  
    mehr und auch von seiner Seite affektiver gefärbte Anlässe gegeben hat.

  • S.

    Nichtsdestoweniger bitte ich auch Dich, l. Jones, für Dir persönlich zugefügtes 
    Unrecht um Entschuldigung und kann nur hoffen, daß auch Du Dich so weit über  
    noch bestehende Widerstände gegen mich hinwegsetzen kannst, um die Aufrichtig-
    keit meines Bedauerns zu erkennen und entsprechend zu würdigen.  

    Bei Sachs hat die alte und intime Freundschaft, die ja noch in die Zeit  
    vor die Komiteegründung zurückreicht, erfreulicherweise verhindert, daß Du,  
    l. Hanns, in ähnlich affektiver Weise in die „Bruderreihe“ einbezogen worden 
    wärest. Solltest Du aber doch unabsichtlich etwas abbekommen haben, so war es 
    mehr als Zwillingsbruder und hat also viel mehr mir selbst gegolten, als die-
    ses Motiv der Selbstbestrafung etwa auch bei den älteren Brüdern mitgewirkt  
    haben mochte.

    Was Ferenczi und Eitingon betrifft, die für mich auch eine Sonderstel-  
    lung inne hatten, so schrieb ich ihnen aus dem Grunde separat, wenngleich im  
    selben Sinne, weil sie noch ganz zuletzt hier in Wien mir persönlich ihre  
    freundschaftliche Hilfe angeboten hatten, mich sozusagen immer noch retten  
    wollten, während ich dies nicht verstehen und daher nicht akzeptieren konnte.  

    Es würde mich freuen, zu hören, daß meine Aufklärungen bei Euch das  
    gleiche analytische Verstehen gefunden haben wie beim Professor und daß sie  
    Euch auch die Genugtuung gewähren, die – wie ich hoffe – als Voraussetzung  
    für die Wiederaufnahme der „Arbeitsgemeinschaft“ in nicht zu ferner Zukunft  
    gelten kann.  

    Mit besten Grüßen  

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