• S.

    7. Januar 1925  
    Liebe Freunde!  
    Vor allem möchte ich Euch allen herzlichst für den in der so  
    schweren Zeit besonders wohltuenden Beweis von Freundschaft und Vertrauen  
    danken, den mir Eure Briefe gebracht haben. Ich war mir selbstverständlich 
    darüber im klaren, daß es nur einen ersten Schritt bedeutet, als ich mich  
    mit meinem Brief an Euch wandte, und daß dem nun weitere Schritte und 
    Taten folgen müssen, um Euch von der Aufrichtigkeit meiner Wandlung zu  
    überzeugen. Jedenfalls kann ich Euch aber versichern, daß die freundschaft-  
    liche Art, in der Ihr mir wieder entgegengekommen seid, wesentlich dazu bei-  
    getragen hat, um mir ein Weiterschreiten auf dem begonnenen Wege zu ermög-  
    lichen.  

    Als nächster wichtiger Schritt hat sich in den Besprechungen,  
    die ich seither mit dem Professor hatte, die Notwendigkeit ergeben, daß ich 
    meine bereits früher geplante Reise nach Amerika – allerdings jetzt unter  
    ganz anderen Voraussetzungen und Bedingungen – doch möglichst bald antre-
    te, und so reise ich doch noch diese Woche nach New York ab. Nach den Nach-  
    richten von dort scheint in der letzten Zeit, namentlich durch die Nachrich-
    ten über die Vorgänge hier in Wien, eine Verwirrung in den Köpfen der Ana-  
    lytiker eingetreten zu sein, zu der ich gewiß viel beigetragen habe und die 
    ich mich bemühen werde, so weit sie mit meinem dortigen Auftreten zusammen-
    hängt, wieder gutzumachen. Ich werde durch Richtigstellungen, Aufklärungen, 
    Beseitigung von Schwierigkeiten und Widerständen in Diskussionen und Vor-
    trägen trachten, die Leute zur Vernunft zu bringen, bei dieser Gelegenheit 
    aber auch selbst meinen eigenen Standpunkt wissenschaftlich klären. Voreili-
    ges oder Unsicheres oder Gefährliches zurücknehmen, einschränken, modifi-
    zieren und das Neue, soweit es sich als haltbar erweisen sollte in den Zu-
    sammenhang des Bisherigen einreihen. Diese notwendige Arbeit dort wird mir  
    dann auch, wie ich hoffe, Material und Gesichtspunkte zur Formulierung mei-
    nes Standpunktes geben, dem ich natürlich dann auch publizistisch Ausdruck  
    verleihen werde. Ich erwarte daher auch ungeduldig das angekündigte Manu-  
    skript von Sachs, dessen kritische Gesichtspunkte ich natürlich  ausgiebig  
    überdenken und benutzen möchte (bitte vorläufig an meine Wiener Adresse, von  
    wo es mir nachgeschickt wird).  

    Gleichzeitig gibt mir die Reise nach Amerika auch Anlaß, auf die  
    im Berliner Brief gestellten Anfragen wenigstens mit einem kurzen aufklä-  
    renden Hinweis zu antworten. Meine Wandlung hat erst nach meiner Abreise  
    von Wien eingesetzt und ich bin von Paris umgekehrt, um nochmals mit dem 
    Professor mich aussprechen zu können. Es hat sich dabei schon um rein per-
    sönliche oder sagen wir besser menschliche Motive gehandelt und meine ameri-
    kanischen Leistungen und Pläne hatten unmittelbar damit gar nichts zu tun. 
    Es war mir nur rein psychisch unmöglich, den Professor so zu verlassen – 
    im Stiche zu lassen – wie ich es das erstemal in einem manischen Zustand 
    imstande war, der als direkte Reaktion auf seine Erkrankung, mir die Trauer 
    des Verlustes ersparen sollte. Nun ich ihn doch wieder vorfand, verfiel ich  
    dem Zwang, denselben Vorgang zu wiederholen, nur mißlang er diesmal, indem 
    das Schuldbewußtsein in einer Depression durchbrach und mich zur Rückkehr 
    und zur Aussprache zwang. Als ich Ende November, nach Abbruch der Wiener Be-
    ziehungen, nach New York wollte, ging ich eigentlich auf meinen dortigen Er-
    folg wieder hin und selbst wenn die Situation damals schon so kritisch ge-
    wesen wäre wie sie es später – eben infolge der Verzögerung meiner Reise – 
    geworden ist, so hätte mich das niemals abhalten können, da ich ja 
    unabhängig von der Vereinigung auch das erstemal hingegangen war und wie-
    der gegangen wäre.

  • S.

    Ich hoffe, daß diese Aufklärung vorläufig genügen wird und bedauere es  
    selbst sehr, daß es mir die erschwerten Umstände der letzten Wochen nicht  
    erlaubt, wenigstens mit einem von Euch persönliche Rücksprache zu pflegen.  
    Ich hatte mir sogar schon das Visum zur Reise nach Budapest versorgt und  
    wäre auch der liebenswürdigen Einladung nach Berlin gern gefolgt, aber  
    so müssen wir die Aussprache einem späteren Zeitpunkt überlassen, wobei ich  
    hoffe, daß die Situation sich inzwischen soweit geklärt haben wird, daß  
    mir vielleicht sogar die Berührung von Details erspart bleibt, die man auch  
    sonst nicht einmal einem Freundeskreis vorlegen kann, sondern höchstens  
    seinem Analytiker anvertraut. Der Professor kennt die Sache natürlich in  
    allen Details, und ich glaube, daß Euch das auch vollkommen genügen kann.  

    Ich werde Euch selbstverständlich über die Vorgänge in Amerika auf  
    dem Laufenden halten und sobald als möglich auch wissenschaftlich mit Euch  
    die Diskussion aufnehmen, nachdem ich mir über verschiedene Probleme selbst  
    ein bißchen mehr klar geworden sein werde.  

    In der festen Hoffnung, daß das neue Jahr mich wieder  
    in Eurem Kreise sehen wird, bin ich mit den besten freundschaftlichen  
    Wünschen an Euch alle  
    Euer  
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