Zwangshandlungen und Religionsübung 1907-002/1907
  • S.

    DEN

    Schichten der Bevölkerung, unter dem Einfluß von körperlichen Krank-
    cn Klima, Trunk, Not, Haft u. s. f.

    2. Die Anomalien des religiösen Lebens, sowohl die hypernormalen

    "coe en und Schwankungen, als auch das hyponormale Fehlen,

    Darniederliegen, seine Äußerungen bei Geistesstórungen.

    3. Die Pflege und Lehrbarkeit der Religion, Ermittlung der Ge-
    setze einer gesunden Religionspflege („Psychagogik* der praktischen
    Theologie).

    Die einzelnen Nummern der Zeitschrift werden Originalien über
    diese Gebiete, Besprechungen bemerkenswerter, einschlägiger Literatur-
    erscheinungen und Nachrichten über modern-religiôse Bewegungen
    bringen.

    Zwangshandlungen und Religionsübung.

    Von Prof. Dr. Sigm, Freud in Wien.

    Ich bin gewiB nicht der Erste, dem die Ähnlichkeit der sog.
    Zwangshandlungen Nervöser mit den Verrichtungen aufgefallen ist, durch
    welche der Gläubige seine Frömmigkeit bezeugt. Der Name „Zere-
    moniell“ bürgt mir dafür, mit dem man gewisse dieser Zwangshandlungen
    belegt hat. Doch scheint mir diese Ähnlichkeit eine mehr als ober-
    flåchliche zu sein, so daß man aus einer Einsicht in die Entstehung des
    neurotischen Zeremoniells Analogieschlüsse auf die seelischen Vorgänge
    des religiösen Lebens wagen dürfte.

    Die Leute, die Zwangshandlungen oder Zeremoniell ausüben, ge-
    hören nebst jenen, die an Zwangsdenken, Zwangsvorstellungen, Zwangs-
    impulsen u. dgl. leiden, zu einer besonderen klinischen Einheit, für
    deren Affektion der Name „Zwangsneurose“ gebräuchlich ist.") Man
    möge aber nicht versuchen, die Eigenart dieses Leidens aus seinem
    Namen abzuleiten, denn streng genommen haben andersartige krankhafte
    Seelenerscheinungen den gleichen Anspruch auf den sog. „Zwangs-
    charakter“. An Stelle einer Definition muß derzeit noch die Detail-
    kenntnis dieser Zustände treten, da es bisher nicht gelungen ist, das
    wahrscheinlich‘ tief liegende Kriterium der Zwangsneurose aufzuzeigen,
    dessen Vorhandensein man doch in ihren Äußerungen allenthalben zu
    spüren vermeint.

    3) Vergl. Löwenfeld, Die psychischen Zwangserscheinungen, 1904.

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    Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Verrichtungen, Zu-
    taten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei gewissen Handlungen des
    täglichen. Lebens in immer gleicher oder gesetzmäßig abgeänderter
    Weise vollzogen werden. Diese Tätigkeiten machen uns den Eindruck
    yon bloßen „Formalitäten“; sie ‚erscheinen uns völlig bedeutungslos.
    Nicht anders erscheinen sie dem Kranken selbst, und doch ist er unfähig,
    sie zu unterlassen, denn jede Abweichung von dem Zeremoniell straft
    sich dureh unerträgliche &hgst, die sofort die Nachholung des Unter-
    lassenen erzwingt. Ebenso kleinlich wie die Zeremoniellhandlungen selbst
    sind die Anlässe und Tätigkeiten, welche durch das Zeremoniell ver-
    ziert, erschwert und jedenfalls auch verzögert werden, z, В. das Ankleiden
    und Auskleiden, das Zu-Bette-gehen, die Befriedigung der körperlichen
    Bedürfnisse. Man kann die Ausübung eines Zeremoniells beschreiben,
    indem man es gleichsam durch cine Reihe ungeschriebener Gesetze
    ersetzt, also z. B. fiir das Bettzeremoniell: der Sessel muß in solcher
    bestimmter Stellung vor dem Bette stehen, auf ihm die Kleider in ge-

    _ wisser Ordnung gefaltet liegen; die Bettdecke muß am Fußende einge-

    steckt sein, das Bettuch glatt gestrichen; die Polster müssen so und so
    verteilt liegen, der Körper selbst in einer genau bestimmten Lage sein;
    dann erst darf man einschlafen. In leichten Fällen sieht das Zeremoniell
    so der Übertreibung einer gewohnten und berechtigten Ordnung gleich.

    ‚ Aber die besondere Gewissenhaftigkeit der Ausführung und die Angst

    bei der Unterlassung kennzeichnen das Zeremoniell als „heilige Handlung“.
    Störungen derselben werden meist schlecht vertragen; die Öffentlichkeit,
    die Gegenwart anderer Personen während der Vollziehung ist fast immer
    ausgeschlossen.

    Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle beliebigen

    "Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten verziert, durch

    Pausen und Wiederholungen rhythmiert werden. Eine scharfe Abgrenzung
    des „Zeremoniells“ von den „Zwangshandlungen“ wird man zu finden
    nicht erwarten. Meist sind die Zwangshandlungen aus Zeremoniell
    hervorgegangen. Neben diesen beiden bilden den Inhalt des Leidens
    Verbote und Verhinderungen (Abulien), die ja eigentlich das Werk der
    Zwangshandlungen nur fortsetzen, indem dem Kranken einiges überhaupt
    nicht erlaubt ist, anderes nur unter Befolgung des vorgeschriebenen
    Zeremoniells,

    Merkwürdig ist, daß Zwang wie Verbote (das eine tun müssen,
    das andere nicht tun dürfen) anfänglich nur die einsamen Tätigkeiten
    der Menschen. betreffen und deren soziales Verhalten lange Zeit unbe-
    einträchtigt lassen; daher können solche Kranke ihr Leiden durch viele

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    zB

    Jahre als ihre Privatsaehe behandeln und verbergen. Auch leiden viel
    mehr Personen an solchen Formen der Zwangsneurose, als den Ärzten
    bekannt wird. Das Verbergen wird ferner vielen Kranken durch den
    Umstand erleichtert, daß sie sehr wohl imstande sind, über einen
    Teil des Tages ihre sozialen Pflichten zu erfüllen, naehdem sie eine
    Anzahl von Stunden in melusinenhafter Abgeschiedenheit ihrem geheimnis-
    vollen Tun gewidmet haben.

    Es ist leicht einzusehen, worin die Ähnlichkeit des neurotischen
    Zeremoniells mit den heiligen Handlungen des religiósen Ritus gelegen
    ist, in der Gewissensangst bei der Unterlassung, in der vollen Isolierung
    von allem anderen Tun (Verbot der Stórung) und in der Gewissen-
    haftigkeit der Ausführung im kleinen. Aber ebenso augenfällig sind
    die Unterscheidungen, von denen einige so grell sind, daß sie den Ver-
    gleich zu einem sakrilegischen werden lassen. Die größere individuelle
    Mannigfaltigkeit der Zeremoniellhandlungen im Gegensatz zur Stereotypie
    des Ritus (Gebet, Proskinesis usw.), der Privatcharakter derselben im
    Gegensatz zur Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit der Religionsübung;
    vor allem aber der eine Unterschied, daß die kleinen Zutaten des religiösen
    Zeremoniells sinnvoll und symbolisch gemeint sind, während die des
    neurotisehen läppisch und sinnlos erscheinen. Die Zwangsneurose liefert
    hier ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion. In-
    des wird gerade dieser einschneidendste Unterschied zwischen neu-
    rotischem und religiósem Zeremoniell beseitigt, wenn man mit Hilfe
    der psychoanalytisehen Untersuchungstechnik zum Verständnis der
    Zwangshandlungen durchdringt." Bei dieser Untersuchung wird der An-
    schein, als ob Zwangshandlungen lüppiseh und sinnlos wären, gründlich
    zerstört und die Begründung dieses Scheines aufgedeckt. Man erfährt,
    dal die Zwangshandlungen durchwegs und in all ihren Einzelheiten
    sinnvoll sind, im Dienste von bedeutsamen Interessen der Persönlichkeit
    stehen und fortwirkende Erlebnisse, sowie affektbesetzte Gedanken der-
    selben zum Ausdruek bringen. Sie tun dies in zweierlei Art, entweder
    als direkte oder als symbolische Darstellungen; sie sind demnach entweder
    historiseh oder symbolisch zu deuten.

    Einige Beispiele, die diese Behauptung erläutern sollen, darf ich
    mir hier wohl nieht ersparen. Wer mit den Ergebnissen der psycho-
    analytischen Forschung bei den Psychoneurosen vertraut ist, wird nicht
    überrascht sein zu hören, daß das durch die Zwangshandlungen oder

    1) Vgl. Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Wien 1906.

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    E

    Fo men

    das Zeremoniell Dargestellte sich aus dem intimsten, meist aus dem
    sexuellen Erleben der Betroffenen ableitet:

    a) Ein Miidehen meiner Beobachtung stand unter dem Zwange,
    naeh dem Waschen die Waschschtissel mehrmals herumzuschwenken.
    Die Bedeutung dieser Zeremoniellhandlung lag in dem sprichwärtlichen
    Satze: Man soll sehmutziges Wasser nieht ausgieBen, ehe man reines
    hat. Die Handlung war dazu bestimmt, ihre geliebte Sehwester zu
    mahnen und zurückzuhalten, daf sie sich von ihrem unerfreulichen
    Manne nieht eher scheiden lasse, als bis sie eine Beziehung zu einem
    besseren angekniipft habe.

    b) Eine von ihrem Manne getrennt lebende Frau folgte beim
    Essen dem Zwange, das Beste stehen zu lassen, z. B. von einem Stück
    gebratenen Fleisch nur die Ränder zu genießen. Dieser Verzicht erklärte
    sich durch das Datum seiner Entstehung. Er war am Tage aufgetreten,
    nachdem sie ihrem Manne den ehelichen Verkehr gekündigt, d. b. aufs
    Beste verzichtet hatte.

    €) Dieselbe Patientin konnte eigentlieh nur auf einem einzigen
    Sessel sitzen und konnte sich nur mit Schwierigkeit von ihm erheben.
    Der Sessel symbolisierte ihr mit Beziehung auf bestimmte Details ihres
    Ehelebens den Mann, dem sie die Treue hielt. Sie fand zur Aufklärung
    ihres Zwanges den Satz: ,Man trennt sich so schwer von einem (Mann,
    Sessel, auf dem man einmal gesessen ist."

    d) Sie pflegte eine Zeit hindurch eine besonders auffällige und
    sinnlose Zwangshandlung zu wiederholen. Sie lief dann aus ihrem
    Zimmer in ein anderes, in dessen Mitte ein Tisch stand, rückte die
    auf ihm liegende Tischdecke in gewisser Art zurecht, schellte dem
    Stubenmädchen, das an den Tisch herantreten mußte, und entließ sie
    wieder mit einem gleichgiltigen Auftrag. Bei den Bemühungen, diesen
    Zwang aufzuklären, fiel ihr ein, daß die betreffende Tischdecke an
    einer Stelle einen miBfarbigen Fleck hatte, und daß sie jedesmal die
    Decke so legte, daB der Fleck dem Stubenmüdehen in die Augen fallen
    mußte. Das Ganze war dann eine Reproduktion eines Erlebnisses aus
    ihrer Ehe, welches ihren Gedanken später ein Problem zu lösen ge-
    geben hatte. Ihr Mann war in der Brautnacht von einem nicht ungewóhn-
    lichen MiBgeschick befallen worden. Er fand sich impotent und „kam
    viele Male im Laufe der Nacht aus seinem Zimmer in ihres gerannt“,
    um den Versuch, ob es nieht doch gelünge, zu wiederholen. Am Morgen
    ‚äußerte er, er müsse sich ja vor dem Hotelstubenmädehen schimen,
    welches die Betten in Ordnung bringen werde, ergriff darum ein Fliisch-
    chen mit roter Tinte und gof dessen Inhalt fiber das Bettuch aus,

    ro GARE re menm

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    de pars

    aber so. ungeschickt, daß der rote Fleck an einer für seine Absicht
    sehr ungeeignefen Stelle zustande kam. Sie spielte also Brautnacht
    mit jener Zwangshandlung. „Tisch und Bett“ machen zusammen die
    Ehe aus. i

    e) Wenn sie den Zwang angenommen hatte, die Nummer jeder
    Geldnote zu notieren, ehe sie dieselbe aus ihren Händen gab, so war
    dies gleichfalls historisch. aufzuklären. Zur Zeit, als sie sich noch mit
    der Absicht trug, ihren Mann zu verlassen, wenn sie einen anderen,
    vertrauenswiirdigeren, fände, ließ sie sich in einem Badeorte die hôflichen
    Bemühungen eines Herrn gefallen, über dessen Bereitschaft Ernst zu
    machen sie doch im Zweifel blieb. Eines Tages um Kleingeld verlegen,
    bat sie ihn, ihr ein Fünfkronenstück zu wechseln. Er tat es, steckte
    das große Geldstück ein und äußerte galant, er gedenke sich von diesem
    nie wieder zu trennen, da es durch ihre Hand gegangen sei, Bei
    späterem Beisammensein war sie nun oft in Versuchung, ihn aufzu-
    fordern, er möge ihr das Fünikronenstück vorzeigen, gleichsam um sich _
    so zu überzeugen, ob sie seinen Huldigungen Glauben schenken dürfe,
    Sie unterließ es aber mit der guten Begründung, daß man gleichwertige

    Münzen nicht von einander unterscheiden könne. Der Zweifel blieb

    also ungelóst; er hinterließ ihr den Zwang, die Nummern der Geld-
    noten, durch welche jede einzelne von allen ihr gleichwertigen individuell
    unterschieden ist, zu notieren.

    Diese wenigen Beispiele aus der Fülle meiner Erfahrung heraus-
    gehoben, sollen nur den Satz, daß alles an den Zwangshandlungen
    sinnvoll und deutbar ist, erläutern. Das gleiche gilt für das eigentliche
    Zeremoniell, nur daß hier der Beweis umständlichere Mitteilung erfordern
    würde. Ich verkenne es keineswegs, wie sehr wir uns bei den Auf-
    klürungen der Zwangshandlungen vom Gedankenkreise der Religion zu
    entfernen scheinen.

    Es gehört zu den Bedingungen des Krankseins, daß die dem
    Zwange folgende Person ihn ausiibe, ohne seine Bedeutung 一 wenig-
    siens seine Hauptbedeutung — zu kennen. Erst durch die Bemühung
    der psyehoanalytischen Therapie wird ihr der Sinn der Zwangshandlung
    und damit die zu ihr treibenden Motive bewuft gemacht. Wir sprechen
    diesen bedeutsamen Sachverhalt in den Worten aus, daß die Zwangshandlung
    unbewuften Motiven und Vorstellungen zum Ausdruck diene. Darin
    scheint nun ein neuerlicher Unterschied gegen die Religionsübung zu
    liegen; aber man muß daran denken, daß auch der einzelne Fromme
    in der Regel das religióse Zeremoniell ausübt, ohne nach dessen Be-
    deutung zu fragen, während allerdings der Priester und der Forscher

  • S.

    "TE NR

    mit dem meist symbolischen Sinn des Ritus bekannt sein mögen. Die
    Motive, die zur Religionsiibung drängen, sind aber allen Gläubigen un-
    bekannt oder werden in ihrem Bewußtsein durch vorgeschobene Motive
    vertreten.

    Die Analyse der Zwangshandlungen hat uns bereits eine Art von
    Einsicht in die Verursachung derselben und in die Verkettung der für
    sie mafgebenden Motive ermöglicht. Man kann sagen, der an Zwang ・
    und Verboten Leidende benimmt sich so, als stehe er unter der Herr-
    schaft cines SchuldbewuBtseins, von dem er allerdings nichts weiß,
    eines unbewubten Schuldbewuftseins also, wie man es ausdrücken muß
    mit Hinwegsetzung über‘ das Sträuben der hier zusammentreffenden
    Worte. Dies Schuldbewubtsein hat seine Quelle in gewissen irüh-
    zeitigen Seelenvorgüngen, findet aber eine bestündige Auffrischung in
    der bei jedem rezenten Anlaß erneuerten Versuchung und läßt ander-
    seits eine immer lauernde Erwartungsangst, Unheilserwartung, ent-
    steben die durch den Begriff der Bestrafung an die innere Wahr-
    nehmung der Versuchung gekntipit ist. Zu Beginn der Zeremoniell-
    bildung wird dem Kranken noch bewußt, daß er dies oder jenes tun
    müsse, sonst werde Unheil geschehen, und in der Regel wird die Art
    des zu erwartenden Unheils noch seinem Bewubtsein genannt. Der
    jedesmal nachweisbare Zusammenhang zwischen dem Anlaß, bei dem
    die Erwartungsangst auftritt, und dem Inhalt, mit dem sie droht, ist
    dem Kranken bereits verhüllt. Das Zeremoniell beginnt so als Ab-
    wehr- oder Versicherungshandlung, Sehutzmafregel.

    Dem Sehuldbewuftsein der Zwangsneurotiker entspricht die Be-
    ieuerung der Frommen, sie wüßten, daß sie im Herzen arge;Sünder
    seien; den Wert von Abwehr- und SchutzmaBregeln scheinen die frommen
    Übungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu haben, mit denen sie jede Tütig-
    keit des Tages, und zumal jede außergewöhnliche Unternehmung, ein-
    leiten, i

    Einen tieferen‘ Einblick in den Mechanismus der Zwangsneurose
    gewinnt man, wenn man die ihr zugrunde liegende erste Tatsache in
    Würdigung zieht: diese ist allemal die Verdrängung einer Trieb-
    regung (einer Komponente des Sexualtriebes), welche in der Konstitution
    der Person enthalten war, im kindlichen Leben derselben sieh eine
    Weile äußern durfte und darauf der Unterdrückung verfiel. Eine
    spezielle, auf die Ziele dieses Triebes geriehtete Gewissenhattigkeit
    wird bei der Verdrängung desselben geschaffen, aber diese psychische
    Reaktionsbildung fühlt sich nicht sicher, sondern von dem im Unbe-
    wuften lauernden Triebe beständig bedroht. Der Einfluß des ver-

  • S.

    =

    ul. Ee

    drängten Triebes wird als Versuchung empfunden, beim Prozeß der
    Verdrängung selbst entsteht die Angst, die sich als Erwartungsangst
    der Zukunft bemächtigt. Der VerdrångungsprozeB, der zur Zwangs-
    neurose führt, ist als ein unvollkommen gelungener zu bezeichnen, der
    immer mehr zu miblingen droht. Er ist daher einem nicht abzu-
    achlieBenden Konflikt zu vergleichen; es werden immer neue psychische.
    Anstrengungen erfordert, um dem konstanten Andrüngen des Triebes
    das Gleichgewicht zu halten. Die Zeremoniell- und Zwangshandlungen
    entstehen so teils zur Abwehr der Versuchung, teils zum Schutz gegen
    das erwartete Unheil. Gegen die Versuchung scheinen die Schutz-
    handlungen bald nicht auszureichen; es treten dann die Verbote auf,
    welche die Situation der Versuchung ferne legen sollen. Verbote er-
    setzen Zwangshandlungen, wie man sieht, ebenso wie eine Phobie
    einen hysterisehen Anfall zu ersparen bestimmt ist. Anderseits stellt
    das Zeremoniell die Summe der Bedingungen dar, unter denen anderes
    noch nicht absolut Verbotenes erlaubt ist, ganz ühnlieh wie das kirch-
    liche Ehezeremoniell dem Frommen die Gestattung des sonst siindhaften
    Sexualgenusses bedeutet. Zum Charakter der Zwangsneurose wie aller
    ähnlichen Affektionen gehört noch, daß ihre Äußerungen (Symptome,
    darunter auch die Zwangshandlungen) die Bedingung eines Kompro-
    misses zwischen den streitenden seelischen Mächten erfüllen. Sie bringen
    also auch immer etwas von der Lust wieder, die sie zu verhüten
    bestimmt sind, dienen dem verdrängten Trieb nicht minder als den ihn
    verdringenden Instanzen. Ja, mit dem Fortschritt der Krankheit nähern
    sich die ursprünglich eher die Abwehr besorgenden Handlungen immer
    mehr den verpönten Aktionen an, durch welche sich der Trieb in der
    Kindheit äußern durfte. ⑤

    Von diesen Verhältnissen wäre etwa folgendes auch auf dem Ge-
    biete des religiösen Lebens wiederzufinden, Auch der Religionsbildung
    scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf gewisse Triebregungen
    zugrunde zu liegen; es sind aber nicht wie bei der Neurose aus-
    schließlich sexuelle Komponenten, sondern eigensüchtige, sozialschiidliche
    Triebe, denen übrigens ein sexueller Beitrag meist nicht versagt ist.
    Das Sehuldbewuftsein in der Folge der nicht erlósehenden Versuchung,
    die Erwartungsangst als Angst vor göttlichen Strafen sind uns ja auf
    religiósem Gebiete früher bekannt worden als auf dem der Neurose.
    Vielleicht wegen der beigemengten sexuellen Komponenten, vielleicht
    infolge allgemeiner Eigenschaften der Triebe erweist sich die Trieb-
    unterdriickung auch im religiósen Leben als eine unzureichende und
    nicht abschliefibare. Volle Rüekfülle in die Sünde sind beim Frommen

  • S.

    Ell 2

    sogar häufiger als beim Neurotiker und begründen eine neue Art von
    religiösen Betätigungen, die BuBhandlungen, zu denen man in der
    Zwangsneurose die Gegenstiicke findet.

    Einen eigentümlichen und entwürdigenden Charakter der Zwangs- Y
    neurose sahen wir darin, daß. das Zeremoniell sich an kleine Hand-
    lungen des täglichen Lebens anschließt und sich in läppischen Vor-
    schriften und Einsehrünkungen derselben äußert. Man versteht diesen
    auffälligen Zug in der Gestaltung des Krankheitsbildes erst, wenn man
    ‚erfährt, daß der Mechanismus der psychischen Verschiebung, den
    ich zuerst bei der Traumbildung *) aufgefunden, die seelischen Vorgänge der
    Zwangsneurose beherrscht. In den wenigen Beispielen von Zwangs-
    handlungen ist bereits ersichtlich, wie durch eine Verschiebung vom
    Eigentlichen, Bedeutsamen, auf ein ersetzendes Kleines, vom Mann auf
    den Sessel z. B., die Symbolik und das Detail der Ausführung zustande
    kommen. Diese Neigung zur Verschiebung ist es, die das Bild der
    Krankheitserscheinungen immer weiter abändert und es endlich dahin
    bringt, das scheinbar Geringfügigste zum Wichtigsten und Dringendsten

    . zu machen. Es ist nicht zu verkennen, daß auf dem religiösen Gebiete

    eine ähnliche Neigung zur Verschiebung des psychischen Wertes, und
    zwar in gleichem Sinne, besteht, so daß allmählich das kleinliche
    Zeremoniell der Religionsübung zum Wesentlichen wird, welches deren
    Gedankeninhalt beiseite gedrängt hat. Darum unterliegen die. Religionen
    auch ruckweise einsetzenden Reformen, welche das ursprüngliche Wert-
    verhältnis herzustellen bemüht sind.

    Der Kompromißcharakter der Zwangshandlungen als neurotischer
    Symptome wird an dem entsprechenden religiösen Tun am wenigsten
    deutlich zu erkennen sein. Und doch wird man auch an diesen Zug
    der Neurose gemahnt, wenn man erinnert, wie häufig alle Handlungen,
    welche die Religion verpönt, — Äußerungen der von der Religion
    unterdrückten Triebe — gerade im Namen und angeblich zugunsten
    der Religion vollführt werden.

    Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich
    getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur
    Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Reli-
    giosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen,
    Die wesentlichste Übereinstimmung läge in dem zugrundeliegenden
    Verzicht auf die Betätigung von konstitutionell gegebenen Trieben; der
    entscheidendste Unterschied in der Natur dieser Triebe, die bei

    3) Vgl. Freud, Die Traumdeutung, 1900,

  • S.

    MUA

    der Neurose ausschließlich sexueller, bei der Religion egoistischer Her-
    kunft sind.

    Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe, deren
    Betätigung dem Ich primäre Lust gewähren könnte, scheint eine der
    Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu sein. Ein Stück
    dieser Triebverdrängung wird von den Religionen geleistet, indem sie
    den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen.
    „Die Rache ist mein,“ spricht der Herr. An der Entwicklung der
    alten Religionen glaubt man zu erkennen, daß vieles, worauf der Mensch
    als „Frevel“ verzichtet hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen
    des Gottes erlaubt war, so daß die Überlassung an die Gottheit der
    Weg war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft búser,
    sozialschädlicher Triebe befreite, Es ist darum wohl kein Zufall, daß
    den alten Göttern alle menschlichen Leidenschaften — mit den aus
    ihnen folgenden Missetaten — in uneingeschränktem Maße zugeschrieben
    wurden, und kein Widerspruch, daß es doch nicht erlaubt war, die:
    eigenen Frevel durch das göttliche Beispiel zu rechtfertigen.

    Wien, im Februar 1907,

    Biblische Religionspsychologie.
    Von G. Vorbrodt.

    I. Grundfragen.
    A. Notwendigkeit der biblischen Psychologie.

    1. Bedeutung für Religion und Kultur.

    Die Bibel ist das klassische Literaturdenkmal der ersten Christen-
    heit, an dem immer wieder alles christliche Denken und Handeln sich
    orientiert, vollends aber, wenn, wie gerade heute bei der umfassenden
    Gärung des Zeitgeistes es scheint, die Theologie (oder Kirche) im Laufe
    der beständig -fortgehenden Entwicklung auf einen toten Punkt fest-
    gefahren ist. In dem unerschöpflichen, geistlichen Energiegehalt der
    Bibel sind die Quellen verborgen, die Theorie und Technik der Theologie
    befruchten, und immer, wo Widerspruch oder Gleichgültigkeit gegen
    Theologie und Kirche sich zeigen, tut man gut, sich zu einem Refor-

  • S.

    Zeitschrift ней 1.

    für

    gionspsychologie.

    Grenzfragen der Theologie und Medizin.

    Unter Mitwirkung
    von
    Prof. Dr. phil, Th. Achelis (Bremen), Dr. med. L Bloch, Spezialarzt får Sexualpathologie (Berlin),
    Oberpfarrer Brockes (Gräfenhainichen), Prof, Dr. phil. Clasen (Flensburg), o “Prof. D. theol. Dr. phil.
    Dorner (Königsberg i. Pr), Kgl. Strafanstaltspfarrer Eichberg (Luekau, N. sits). Privatdozent
    Dr, phil. Elsenhans (Heidelberg), Prof. Dr. med. 8. Freud, Nervenarzt (Wien), Dr. med. M. Fried mann,
    Nervenarzt (Mannheim), Privatdoz. d. Psychologie Dr. med. et phil. W. Hellpach (Karlsruhe), Privat-
    doz. Dr. phil. Arn. Kowalewski (Königsberg i. Pr., Pastor La Roche (Golzow, Kr, Belzig), Geh. Rat
    Prof. Dr. jur. von Liszt (Berlin), Dr. med. L. Lo wenfeld, Nervenarzt (München), o. Prof. D. theol. Dr. phil.
    ⑫ W. Mayer (Straßburg, Els), Dr. med. Mónkemóller, Oberarzt a. d. Prov.-Heil- und Pflegeanstalt
    (Hildesheim), Dr. med. Mohr, Nervenarzt (Coblenz), Dr. med. Moll, Nervenarzt (Berlin), Dr. med. Muth-
    mann, Nervenarzt (Nassau), Privatdoz. Lic. Dr. phil. Niebergall (Heidelberg), Kgl. Strafanstaltspfarrer
    Niewerth (Halle a. 8), Pfarrer Dr. phil. Rittelmeyer (Nürnberg), Privatdoz Lic. Dr. phil. Sehian,
    Piarrer (Breslau), Provinziul- Erziehungsanstalts-Direktor Seiffert (Stranfiberg, Mark), Stadtsehulvat Dr.
    Siekinger (Mannheim), o. Prof. Dr, med. et phil. Robert Sommer (Gießen), Dr. med. Stadelmann,
    Nervenarzt (Dresden), Missionsinspektor Lic. Dr. phil. Trittelwitz (Bethel b. Bielefeld), Oberlehrer
    Dr. phil. Weidel (Magdeburg), Privatdozent der Philosophie Dr. phil. et med. A. Wreschner (Zürich),
    Stantsanwalt Dr. E. Wulifen (Dresden)

    herausgegeben von
    Oberarzt. Dr. Joh. Bresler, „į Pastor Gustav Vorbrodt,
    Lublinitz (Schlesien). Alt-Jefinitz (Kreis Bitterfeld).

    INHALT: Zur Einführung, (5, 1). — Zwangshandlungen und Religionsnbung. Von Prof. Dr.
    mund Freud in Wien (S. 4). | Biblische Religionspsyehologie. Von G. Vorbrodt (8. 12), Reli-
    gibses Schuldgefühl. Von J. Bresler (8. 33). — Unser religionspsyehologiseher Kursus. Von G. Vor-
    brodt (8.37). — Aus der Literatur: Binswanger, O. Rank (8. 42). — Tatsuchenmaterial: Ein Märtyrer
    seines Glaubens (S. 44). — Adam und Eva redivivi (S. 44). — Die Gebetmühle in England (S. 45). — Der

    Prophet Elias (8. 40). — Reyolverattentat in einer Kirche (S. 47).

    Halle a. S.
    Verlag von Carl Marhold
    1907.