Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 1917-004/1917
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    IMAGO

    ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSV CHO=
    ANALVSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN

    HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD

    SCHRIFTLEITLING:
    V. 2. DR. OTTO RANK/DR, HANNS SACHS 1917

    Eine Kindheitserinnerung aus »Did'itung und
    Wahrheit<<.
    Von SIGM. FREUD (Wien).

    »Wenn man sich erinnern. will, was uns in der frühes.en
    Zei. der Kindheit begegnet ist, so kommt man 05 in den Fall,
    das}enige, was wir von andere.. gehört, mi. dem zu verwechseln,
    was wir «n...... aus Eigener anse..euene.e. E...—.....„g ..es..zen..
    Diese Bemerkung macht Goethe auf einem de.- ersten Blätter
    der Lebensbesd'ueibung, (lie e. .... Alter von sechzig Ial’u'en auf:
    zuzeidmen begann. v... .... stehen nur einng M...e.iungen über
    seine »am 28 A.. „s. 1749 mittags ..... de... Glotkensdilag zwölf«
    erfolgte Gehu... ie Konstellation der Gestirne war ihm günstig
    ...... mag wo... u.sn.i.e se.ne. Erhaltung gewesen se.n, de.... „
    kam »fü. tod... auf die Welt, und nur durd'. vielfad\e Bemühungen
    lunch.e man es dahin daß er das Lich. erh1id<te.Nad1 dieser B ,
    merkimg folgt e.ne kurze Sd.ilderung des Hauses ...... der Raum:
    lid’l|(ell, in wel.her sid. die Kinder — er und seine iünge.e Sdiwester
    * am liebsten aulhieltc... Dann ahc.- erzählt Goethe eigentlidz. nur
    eine einzige Begebenhei., die man in die .f.üheste Zeit der Kind:
    hei... (i.. die ]ahre bis vier?) ve.sc.zen kann, und an welehe e.- eine
    eigene Erinnerung bewahrt zu haben scheint.

    Der Bericht hierüber lautet: »und mir}. gewannen drei gegen:
    über wohnende Brüder von Od.senstein, hinterlassen.: Söhne des
    verstorbenen s.......ne..ien‚ gar lieb, und beschäftigten und nahm
    sich mit mir auf mancherlei Weise...

    »Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen
    m.... jene sonst ernsten ...... einsamen Männer angereizt. .... führe
    ..... einen von diesen s..e..i.en nn. Es war enen Topfmarkt gewesen
    und man hatte nicht allein die Küche für die näd'iste Zei. mit
    so....en Waren versoigt‚ sondern n...... uns Kindern dergleidien
    Gesd.irr .... kleinen zu spielender Besd'iäftigung e.ngekan... A..

    Image va 4

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    50 Signi. Freud

    einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich
    im Gerät-ns (der erwähnten gegen die Straße gerichteten Ortlidilieit)
    mit meinen Sd1üsseln und Töpfen mein Wesen und da weiter nichts
    dabei herausltcrnmen wollte, warf ich ein Geschirr- auf die Straße
    und freute mich, daß es so lustig zerlu'adi. Die von Odisenstein,
    welehe sahen, wie ieh midi daran ergötzie, daß ich so gar fröhlich
    in die H ndchen patsdrre, riefen: Noch mehrl Ich säumte nicht, so:
    gleich einen Topf und auf immer fortwährendes Rufe : Noch mehr-I
    nach und nzdi sämtliche Sd'iüsselrhen, Tiegelchen, Känndien gegen
    das Pflaster zu srhleudem. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Bei:
    Fall zu hezeigen und ich war höchlirh froh ihnen Vergnügen zu
    machen. Mein Von-at aber war aufgezehrt, und sie riefen immer:
    Nodr mehr! Ich eilte daher Slrfld&s in die Küdie und holte die
    irdenen Teller, weldie nun freilich im Zerbrechen ein nod\ lustigeres
    Schauspiel gaben,- und so lief ith hin und wieder, bradite einen
    Teller n3d'i dem anderen, wie ich sie auf dem Topfi>rerr der Reihe
    nadi erreichen konnte, und weil sich iene gar nicht zufrieden gaben,
    50 stürzte ich alles, was ich von Geschirr ersdileppen konnte, in
    gleiches Verderben. Nur später erschien jemand zu hindern und zu
    wehren, Das Ungli'itk war geschehen, und man ham: für- so viel zer:
    brouhene Töpferware wenigstens eine Irrsrige Geschichte, an der sich
    besonders die sd1allrisdtren Urheber bis an ihr Lebensende ergölzten,(

    Dies konnte man in \lcranalytisrhen Zeiten ohne Anlaß zum
    Verweilen und ohne Anstoß lesen, aber später wurde das allaly:
    tische Gewissen rege. Man hatte sich ja über Erinnerungen aus
    der frühesten Kindheit bestimmte Meinungen und Erwartungen
    gebildet, in die man gerne allgemeine Gültigkeit in Ansprud'i nahm.
    Es sollte nicht gleichgültig oder bedeutungslos sein, weldre Einzel-
    heit des Kindheitslebens sich dem allgemeinen Vergessen der Kind:
    heit entzogen hatte, Vielmehr durfte man vermuten, daß dies im
    Gedächtnis Erhaltene audi das Bedeutsarnste des ganzen Lebens:
    absd\nittes sei, und zwar entweder so, daß es solrhe Wichtigkeit
    sehon iu seiner Zeit besessen oder anders, dal‘l es sie durch den
    Einfluß späterer Erlebnisse nadrträglirh erworben habe,

    Allerdings war die hohe Wertigkeit solrher Kindlieitserinne;
    rungen nur in seltenen Fällen offensiditlirh, Meist erschienen sie
    gleichgültig, ja nlchtig, und es blieb zunächst unvei'sianden, daß es
    gerade ihnen gelungen war, der Amnesie zu trotzen‚- auch wußte
    derjenige, der sie als sein eigenes Erlnnerungsgut seit langen Jahren
    bewahrt hatte, sie so wenig zu wurdigen wie der Fremde, dem er
    sie erzählte. Um sie in ihrer Bedeutsamkeit zu erkennen, bedurfle
    es einer gewissen Deutungsarheit, die entweder nadrwies, wie ihr
    Inhalt durch einen anderen zu ersetzen sei, oder ihre Beziehung zu
    anderen, unveelrennber wichtigen Erlebnissen aufzeigte, für welche
    sie als sogenannte Deckerinnerungen eingetreten waren.

    In jeder psyrhoanalytisd1en Bearbeitung einer Lebensges<hidite
    gelingt es, die Bedeunrng der friihesre„ Kindheitserirlnerungen in

  • S.

    Eine Kindheitsuinnerung aus »Diditung und Wahtheitt bl

    soldier Weise aufzuklären. ]a, es ergibt sidi in der Regel, daß
    gerade di enige Erinnerung, die der Analysierte voranstellt, die er
    zuerst erzählt, mit der er seine Lebensbeio‘ite einleitet, sich als die
    wichtigste erweist, als dieienige, weldte die Schlüssel zu den Ge:
    heimfärhern seines Seelenleberis in sich birgt, Aber im Falle jener
    kleinen Kinderbegebenheit, die in »Did’ttung und Wahrhein erzählt
    wird, kommt unseren Erwartungen zu wenig entgegen. Die Mittel
    und Wde, die bei unseren Patienten zur Deutung ühren, sind uns
    hier natürlich unzuga'nglidi, der Vorfall an sich scheint einer auf:
    spürbaren Beziehung zu widnigen Lebenseim‘lrüdten späterer zeit
    nidit "hig zu sein. Ein Sdiabernadt zum Sthaden der häuslichen
    “Virtsnhafi, unter fremdem Einfluß verübt, ist sidierlidi keine passende
    Vignette für all das, was Goethe aus seinem raidren Leben mit:
    zuteilen hat. Der Eindrudt der vollen Harmlosigkt-it und Beziehungs:
    losigkeit will shit für diese Kindet‘erlnnetung behaupten, und wir
    mögen die Mahnung mitnehmen, die Anforderungen der Psyche-
    analyse nicht zu überspannen oder am ungeeigneten Orte vorm:
    brin en.

    g So hatte ich denn das kleine Problem längst aus meinen Ge-
    danken fallen lassen, als mit der Zufall einen Patienten zufülu'te,
    bei dem sich eine ällnlld’l2 Kindheitserinnerung in durchsid-rtigerem
    Zusammenhange ergab. Es war ein siebtnuvidzwanzigiähn'ger, hoch:
    gehildeter und begabter Mann, dessen Gegenwart durd'i einen
    Konflikt mit seiner Mutter ausgefüllt war, der Sidi so ziemlich auf
    alle Interessen des Lebens erstredtle, unter dessen Wirkung die
    Enrwidtlung seiner Liebesfähigkeir und seiner selbständigen Lebens.-
    führung sd1wer gelitten hatte Dieser Konflikt ging weit in die
    Kindheit zurür‘lt; man kann wohl sagen, bis in sein viertes Lebens:
    jahr. Vorher war er ein sehr schwächliches, immer kränkelndes Kind
    gewesen, und doeh hatten seine Erinnerungen diese üble Zeit zum
    Paradies verkliirt, denn damals besaß er die uneingeschränkte, mit
    niemandem geteilte Zärtlichkeit der Mutter. Als er nodu nicht
    vier ]aht'e war, wurde ein 7 heute norh lebender ‚ Bruder ge-
    beten, und in der Reaktion auf diese Störung wandelte er sid'i zu
    einem ei ensinnigen, unbonnäiiigen lungen, der unausgesetzt die
    Strenge er Mutter herausfordette. Er kam auch nie mehr in das
    rid\[ige Geleise.

    Als er in meine Behandlung trat —— nicht zum mindesten
    darum, weil die bigotte Mutter die Psychoanalyse verahseheute A,
    war die Eifersudit auf den nadigeborenen Bruder, die sid“! seinerzeit
    selbst in einem Attentat auf den Säugling in der Wiege geäußert
    hatte, längst ver essen, Er behandelte jetzt seinen jüngeren Bruder
    sehr ri‘tdtsiditsvo , aber sondetbare Zufallshandlungcn, durdi die er
    sonst geliebte Tiere wie seinen Jagdhund oder sorgsam von ihm
    gepflegte Vögel plötzlich zu sthwerem Schaden brachte, waren wohl
    als Nathklänge jener leintlseligen Impulse gegen den kleinen Bruder
    zu verstehen,

    4.

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    52 Sign-t Freud

    Dieser Patient berichtete nun, daß er um die Zu! des Atten=
    (ats gegen das ihm verhaßte Kind einmal alles ihm erreirhbare Ge.
    schirr aus dem Fenster des Landhauses auf die Straße geworfen
    hatte. Also dasselbe, was Goethe in Dirhlung untl Wahrheit aus
    seiner Kindheit erzähltl ich benierke, daß mein Patient von fremder
    Nationalität und nicht in deutsdier Bildung erzogen war,- er hatte
    Goethes Lebensbeschreibung niemals gelesen.

    Diese Mitteilung mußte mir den Versuch nahe legen, die
    Kindheitserinnerung Goethes in dem Sinne zu deuten, der durch
    die Gesrhichte meines Patienten unahweisbar geworden war, Aber
    waren in der Kindheit des Dichters die fiir solche Auffassung er-
    forderlichen Eedin un en nachzuweisen? Goethe selbst madit zwar
    die Aneiferung er erren von Odisenstein für seinen Kinder-
    Streich verantwortlich. Aber seine Erzählung selbst läßt erkennen,
    daß die erwadisenen Nachbarn ihn nur zur Fortsetzung seines
    Treibens aufgemuntert hatten. Den Anfang dazu hatte er spontan
    gemacht, und die Motivierung, die er fiir dies Beginnen gibt: »Da
    weiter nichts dabei (beim Spiele) herauskotnmen wollter, läßt sich
    wohl ohne Zwang als Geständnis deuten, daß ihm ein wirksames
    Motiv seines Handelns zur Zeit der Niederschrift und wahrsdteinlidi
    auch lange ]ahre vorher nldit bekannt war,

    Es ist bekannt, daß Ich. Wolfgang und seine Schwester
    Cornelia die ältesten überlebenden einer größeren, rerht hinfälligen
    Kindetreihe waren Herr Dr. Hanns Sachs war so freundlich, mir
    die Daten zu versrhaifen, die sich auf diese früh verstorbenen Ge:
    srbwister Goethes beziehen.

    Gesdtwister Goethes:

    a} Hermann ]akob, getauft Montag, den 27. November 1752,
    erreichte ein Alter von sechs Jahren und sechs Wodten, beerdigt
    13. Ianuar 1759,

    b) Katharina Elisabetha, getauli Montag, den 9. Septem-
    ber 1754, beerdigt Donnerstag, den 22. Dezember 1755
    (ein ]ahr vier Monate alt),

    u) Johanna Maria, getaufi Dienstag, den 29. Marz 1757 und
    beerrligt Samstag, den 11. August 1759 <zwei Jahre vier Mo:
    nate alt), (Dies war jedenfalls das von ihrem Bruder ge?
    ruhmre sehr schöne und angenehme Mädchen.)

    4) Georg Adolph, gerau& Sonntag, den 15.1nnr 1760,- be:
    erdigt, acht Monate alt, Mittwodt, den 18. Februar 1761

    Goethes nächste Sthwcsier, Cornelia Friedericn
    Christiana, war am 7. Dezember 1750 geboren, als er inne
    viertel Jahre alt war, Durch diese geringe Altetsdififetcnz ist sie nis
    Objekt der Eifersutht so gut wie ausgeschlossen Mnn weil}, daß
    Kinder, wenn ihre Leidenschaften ci'wan‘ien, niemals so heftige
    Reaktionen gegen an Geschwister entwidteln, welche sie vorfinden,
    sondern ihre Abneigung gegen die neu Ankommenden richten. Aueh

  • S.

    ist die Szene, um deren Deutung wir uns bemühen, mit dem zarten
    Alter Goethes bei oder bald nadr der Geburt Corneliens un:
    vereinbar.

    Bei der Geburt des ersten Brüderthzns Hermann Jakob war
    Joh. Wolfgang dreieinvierte] Jahre ah. Ungeiahr zwei Iahre später,
    als er etwa fünf ]:thte alt war, wurde die zweite Schwester ge:
    baren. Beide Altersstufen kommen für die Datierung des Geschirr-
    hinauswerfens in Benannt, die erstere verdient vielleith den Vorzug,
    sie würde auch die bessere Übereinstimmung mit dem Falle meines
    Patienten er eben, der bei der Geburt seines Bruders etwa drei=
    dreiviertel 3 re zählte,

    Der tuder Hermann ]aknb, auf den unser Deutungsvefsuch
    in seitherAri hingelenkt wird, war übrigens kein so fltiehiiger Gast
    in der Goethesehen Kinderstube wie die späteren Geschwister. Man
    könnte sich verwundern, daß die Lehensgesehiehte seines großen
    Bruders nidit ein Wörtd'ien des Gedenkens an ihn bringt. Er wurde
    über sechs Jahre alt und Joh. Wolfgang war nahe an zehn Jahre,
    als er starb, Dr. Ed. Hitschmann, der so freundlich war, mir
    seine Notizen über diesen Stoff zur Verfügung zu steilen, meint:

    »Aueh der kleine Goethe hat ein Brüdetchen nicht
    un ern sterben gesehen, Wenigstens berichtete seine Mutter
    haft Bettina Brentanos Wiedererzählung folgendes: ,Sondetbar fiel
    es der Mutter auf, daß er bei dem Tode seines jüngeren Bruders
    )akob, der sein Spieikainerari war, keine Träne vergoß, er schien
    vielmehr eine Art Ärger uber die Klagen der Eltern und Ge:
    sd1wister zu haben, da die Mutter nun später den Trotzigen fragte,
    ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in seine Kammer,
    brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere, die mit Lektionen
    und Gesdtiehtdien beschrieben waren, er sagte ihr, daß er dies alles
    gemadtt habe, um es dem Bruder zu lehren.' Der ältere Bruder
    hätte also immerhin gern Vater mit dem Jüngeren gespielt und ihm
    seine Überlegenheit gtzeigt,(

    Wir köndten uns also die Meinung bilden, das Gksdlirl‘hiru
    auswerten sei eine symbolisdie, oder sagen wir es richtiger: eine
    magische Handlung, durch welche das Kind (Goethe sowie mein
    Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Eindn'ng=
    lings zu kräftigem Ausdrudt bringt, Wir braudien das Vergnügen
    des Kindes beim Zetsthellen der Gegenstände nidat zu bestreiten,
    wenn eine Handlung bereits an sich lustbringend ist, so ist dies
    keine Abhaltung, sondern eher eine Verlodtnng, sie audi im Dienste
    anderer Absirhten zu wiederholen. Aber wir glauben nicht, daß es
    die Lust ein Klirren und Brerhen war, welche solchen Kinderstreichen
    einen dauernden Platz in der Erinnerung des Erwachsenen sirhetn
    konnte. Wir siränben uns auch nidit, die Motivierung der Handlung
    um einen weiteren Beitrag zu komplizieren. Das Kind, welches das
    Geschirr zersdilägt, weiß wohl, daß es etwas Sd1[edutes tut, worüber
    die Erwadisenen sdtelten werden, und wenn es sich durch dieses

  • S.

    54 Sigm. Freud

    Wissen nicht zurütkhalrcn im, so hat es wahrsdieinlid'l einen Groll
    gegen die Eltern zu befriedigen; es will Sidi schlimm zeigen.

    Der Lust am Zar-brechen und am Zerhrochenen wäre auch
    Genuge getan, wenn das Kind die gebrechlidlen Gegenstände ein:
    fach auf den Boden Würfe, Die Hinausbeförderiing durdi das Fenster
    auf die Straße bliebe dabei ohne Erklärung. Dies »Hinausa scheint
    aber ein wesentlldies Stürk der magischen Handluii zu sein und
    dem verborgenen Sinti derselben zu entstammen, as neue Kind
    soll fortgeschafft werden, durchs Fenster möglicherweise darum,
    weil es durchs Fenster gekommen ist, Die ganze Handlung w‘ e
    dann gleidlweflig ienei uns bekannt gewordenen wörtlitiien Reaktion
    eines Kindes, als man ihm mitteilte, daß der Stordr ein Geschwistern
    dien ebracht, »Er soll es wieder iiiitrlehmen(, lautete sein Besdreitl.

    ndes, wir verhehlen uns nicht, wie mißlidi es ‚ von allen
    inneren Unsicherheiten abgesehen — bleibt, die Deutung einer
    Kinder-handlung auf eine einzige Analogie zu begründen. Ich hatte
    darum auch meine Auffassung der kleinen Szene aus )Diuhtung
    und \Vahrheim durch Jahre zur—iiri<gelralten. Da bekam ich eines
    Tages einen Patienten, der seine Analyse mit folgenden, wortgetreu
    fixierten Sätzen einlcltete:

    »Ich bin das älteste von acht oder neun Geschwistern‘. Eine
    meiner ersten Erinnerungen ist, daß der Vater, in Nadrtkleidung
    auf seinem Eette sitzend, mir lachend erzählt, daß ich einen Bruder
    bekommen habe. Idi war damals dreidreiviertel ]ahre alt, so groß
    ist der Altersuntersehied zwischen mir und meinem nädisten Bruder.
    Dann weiß idi, daß id1 kurze Zeit nathher {oder war es ein ]ahr
    vorlrer7)“ einmal verschiedene Gegenstände, Bürsten, ‚ oder war
    es nur eine Bin-ste? — Sdmhe und anderes aus dem Fenster auf
    die Straße geworfen habe, Idi habe audi noch eine frühere Erinne-
    rung. Als ich zwei Jahre alt war, übernachtete ich mit den Eltern
    in einem Hotelzimmer in Linz auf der Reise ins Salzkammergut.
    l<h war damals so unruhig in del Nacht und marine ein soldies
    Ge5direi, daß mid] der Vater sthlagen niußte.«

    Vor dieser Aussage ließ ich jeden Zweifel fallen Wenn bei
    analytisdrer Einstellung zwei Dinge unmittelbar nadieinander, wie
    in einem Atem vor-gebracht werden, so sollen wir diese Annälie=
    tung auf Zusammenhang umdeuten. Es war also su, als ob der
    Patient gesagt hätte; Weil id) erfahren, daß ich einen Bruder be:
    kommen habe, habe ich einige Zeit nachher |ene Gegenstände auf
    die Straße eworfen. Das Hinauswerfen der Bürsten, Schuhe usw.
    gibt sich as Reaktion auf die Geburt des Bruders zu erkennen,

    ‘ Em flild’llixer Irrtum ;lulflilliger Nntnn Es ist nidst abzuweisell‚ daß er
    bereits durch die Bescitlgungstendenz gegen den iii-„dei induzicl't ist <v;l
    Ferenczl: über passagel'e Symptombilrlungen während der Analyse, Zentralbl.
    f Psychoanalyse, II, 1911

    « Die. » den wes i[llrhen Punkt de. Mitterlnng als ‘iiltrsmnd annzsende
    Zweifel wurde vum Patienten bald nadsller selbsländig zurüdrgezogm

  • S.

    Eine Kinr}heirserinng}uug aus *Didtlting und Wahrheit-t tin

    Es ist aud1 nicht unerwünsdrt, daß die fortgesdratften Gegenstände
    in diesem Falle nicht Gesdtirr, sondern andere Dinge waren, wahr-
    stheinlich solche, wie sie das Kind eben erreichen konnte . . . Das
    Hinaushefördem (durchs Fenster auf die Straße) erweist sith so als
    das Wesentliche, der Handlung, die Lust am Zerbredien, am Klirren
    und die An der Dinge, an denen »die Exekution vollzogen
    wirdt, als inkonstant und unwesentlirh.

    Natürlich gilt die Forderung des Zusammenhanges audi für
    die dritte Kindheitserlnnerung des atienten, die, obwohl die früheste,
    an das Ende der kleinen Reihe ge "dtt ist Es ist leicht, sie zu er:
    füllen. Wir Verstehen, daß rias zweiiähti e Kind darum so unruhig
    war, weil es das Beisammensein von aier und Mutter im Bene
    nicht leiden wollte. Auf der Reise war es wohl nicht anders mög:
    [ich, als das Kind zum Zeugen dieser Gemeinsdiali werden zu
    lassen. Von den Gefühlen, die sich damals in dem kleinen Eifer=
    südnigen regten, ist ihm die Erbitterung gegen das Weib verblieben,
    und diese [tat eine dauernde Störung seiner Liebesentwidtlung zur
    Folge gehabt.

    Als id\ nach diesen beiden Erfahrungen im Kreise der psyrira.
    analytischcn Gesellsdiali die Erwartung äußerte, Vorkommnisse
    sold1er Art dürften bei kleinen Kindern nidit zu den Seltenheiten

    ehören, stellte mit Frau Dr. v. Hug=Hellmuth zwei weitere
    fieoisarnrungen zur Verfügung, die ich hier folgen lasse:

    Zum Hinauswerfen von Gegenständen aus dem Fenster
    durch kleine Kinder.

    l.

    Mit zirka dreieinhalb Ialiten hatte der kleine Eridr )urplötzlidß die
    Gewohnheit angenommen, alles, was ihm nieht paiire, zum Fenster hinaus;
    zuwcrfen. Aber er tat es auch mit Gegenständen, die ihm nidn im Wege
    wnren und ihn nichts angingen. Gerade am Geburtstag des Vaters — da
    zählte er drei Jahre viereinhzlb Monate # warf er eine schwere Teigwalzz,
    die er flugs sus der Kühe ins Zimmer gesclileppt harte, Aus einem Fenster
    der im dritten Stodtwerlt gelegenen Wohnung auf die Straße. Einige Tage
    später ließ er den Mörstrstöllel, dann ein Paar sd\werer Eetgsehuhe des
    Vaters, die er erst aus dem Kasten nehmen mußte. folgen“.

    Damals mathte die Multer im sielmmen oder achten Monate ihrer
    Sdiwangersduafi eine fausse couthe. nach der das Kind »wie ansgewediselt
    brav und zärtlidi stille war. Im fünften oder sechsten Monate sagte er
    wiederholt zur Mutter: ’Mulli, ich syring’ dir auf den Baudi< oder »Mutti,
    ich drütlr’ dir den Bauch ein.. Und kurz vor der fausse ccudie, im Okto-
    ber: )Wztm id\ sdinn einen Bruder bekommen so", so wenigstens erst
    nach dem Christkindl.(

    ' Immer wählte er sthwete Gegenstände.

  • S.

    ns Sigi-n. brcudr

    11.

    Eine iunge Dame von neunzelm lahm gibt spanfall als fruheste
    Kindheitszrinnerung folgende;

    »Ich sehe mid\ furditbar ungezogen, zum Hervorkriedren bereit, unter
    dem Tisdie iin Speisezimmer sitzen, Auf dem Tische steht meine Kaffee.
    sdtale, —- ich sehe noch ietzt deutlich das Muster des Porzellans vor mir
    — die idi in dem Augenblick, als Grußmama ins Zimmer trat, zum
    Fenster hinauswerfen wollte.

    Es hatte sich n'amlidt niemand um midi gekümmert, und indessen
    hatte sith auf dem Kafiee eine )Hauu gebildet, was’ mir immer fürdnerlieh
    war und heute nodi ist.

    An diesem Tage wurde mein um : 'etelnhalb lahm iüngerer Bruder
    geboren, deshalb hatte niemand Zeit für mich,

    Man erzählt mir und) immer, daß idt an diesem Tage unausstehllel'i
    war, zu Mittag hatte id. das Lieblingsglas des Papus voniTisdie geworfem
    tagsüber mehrmals mein Kleiddten besdtmutzt und war von früh bis
    abends ü elster Laune. Auch ein Badepüppcl'ten hatre tdi in meinem Zorne
    zertrürnmerr‚r

    Diese beiden Fälle bedürfen kaum eines Kommentars. Sie be:
    stäti en ohne weitere analytische Bemühung, daß die Erhitterung
    des %(lndes über das erwartete oder erfolgte Auftreten eines Kane
    kurrenten sich in dem Hinausbefördem von Gegenständen durdt
    das Fenster wie audi durch andere Akte von Sdilimmheit und
    Zerstörungssucht zum Ausdl‘udi bringt. In der ersten Beobachtung
    symbolisieren wohl die »sdiwercn Gegenstände; die Mutter selbst,
    gegen welche sich der Zorn des Kindes richtet, so lange das neue
    Kind noch nicht da ist. Der dreieinhalb hrige Knabe weiß um die
    Sthwangersdtafi der Mutter und ist nidit im Zweifel darüber, daß
    sie das Kind in ihrem Leibe beherbergt, Man muß sich hiebei an
    den »kleinen Hansa (Iahrb. f. Psychoanalyse, Bd, I., 1909) erinnern
    und an seine besondere Angst vor schwer beladenen Wagen‘, An
    der zweiten Beobachtung ist das frühe Alter des Kindes, zweiein:
    hth ]ahre, bemerkenswert,

    Wenn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurückkehren
    und an ihrer Stelle in »Diehtung und Wahrheit« einsetzen, was
    wir aus der Beobaditung anderer Kinder erraten zu haben glauben,
    so stellt Sid! ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst nidtt
    entdedtt hätten, Es heißt dann; Ich bin ein Gliidt5kirid gewesen;
    das Schicksal hat midi am Leben erhalten, obwohl ich für tot zur

    * Fiir diese Symbolik der Sd'thngci'sdtafi [tat mir var einiger Zeit eine
    mehr als It'tnfziglährige Dame eine weitere Bestätigung erbradn, Es war ihr wieder:
    halt erzählt werden, daß sie als kleines Kind, das kaum spr{dicn konnte, den
    Vater aufgeregt zum Fenster zu ziehen pflegte, wenn ein sdtwcrer Möb2lwagm auf
    der Snniis vorheit‘uin, Mit Rud<ndn auf ihre Wahnungscrinnerungen laßt Sidi
    feststellen, dal! sie damals iünget' war nis zweitlreiviertel ]ulne, Urn diese Zeit
    wurde ihr nddrstcr Bruder gebnrsn und infolge dieses Zuwadtses die Wohnung
    gewedtsdt Ungefiihr gleiehzeiiig hatte sie ofi ver dem Einsdnlaftn die 'angstlidie
    Empfindung vnn etwas ult|‘rimlid1 Grnßen., das nur sie zukam, 'und dabei ‚wurden
    ihr die Han-le sn didu,

  • S.

    Eine Kindheilserinnemng aus v-Didulung und Wahrhtlh 57

    Welt gekommen bin. Meinen Bruder aim hat es beseitigt, so daß
    ich die Liebe der Mutter nidtt mit ihm zu teilzn braudtte. Und
    am geht der Gedanken\veg weiter, zu einzr anderen in jener
    thzeit Verstorbenen, der Großmutter, die wie ein freundlicher,
    stiller Geist in einem anderen Wohnraum hauste.

    Ich habe es aber sd'lon an „dm.- Stelle ausgesprochen:
    Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so
    behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht
    des Erfolges, wel<fie nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht.
    Und eine Bemerkung sold\ei' Art wie: Meine Stärke Wurzel! in
    meinem Verhältnis zur Mutter, hätte Goethe seiner Lebensge=
    sthichtz mit Recht voranstzllen dürfen,