Neurose und Psychose 1924-001/1931
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    NEUROSE UND PSYCHOSE

    (1924)

    In meiner kürzlich erschienenen Schrift „Das Ich und das
    Es“ habe ich eine Gliederung des seelischen Apparates ange-
    geben, auf deren Grund sich eine Reihe von Beziehungen
    in einfacher und übersichtlicher Weise darstellen läßt. In
    anderen Punkten, zum Beispiel was die Herkunft und Rolle
    des Über
    Ichs betrifft, bleibt genug des Dunkeln und Un-
    erledigten. Man darf nun fordern, daß eine solche Auf-
    stellung sich auch für andere Dinge als brauchbar und förder-
    lich erweise, wäre es auch nur, um bereits Bekanntes in neuer
    Auffassung zu sehen, es anders zu gruppieren und über-

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    zeugender zu beschreiben. Mit solcher Anwendung könnte
    auch eine vorteilhafte Rückkehr von der grauen Theorie zur
    ewig grünenden Erfahrung verbunden sein.

    Am genannten Orte sind die vielfältigen Abhängigkeiten
    des Ichs geschildert, seine Mittelstellung zwischen Außenwelt
    und Es u nd sein Bestreben, all seinen Herren gleichzeitig zu
    Willen zu sein. Im Zusammenhange eines von anderer Seite

    angeregten Gedankenganges, der sich mit der Entstehung und
    Verhütung der Psychosen beschäftigte, ergab sich mir nun
    eine einfache Formel, welche die vielleicht wichtigste gene-
    tische Differenz zwischen Neurose und Psychose behandelt:
    die Neurose sei der Erfolg eines Konflikts
    zwischen dem Ich und seinem Es,
    die Psy-
    chose
    aber der analoge Ausgang einer solchen Störung
    in den Beziehungen zwischen Ich und
    Außenwelt.

    Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung, daß man gegen
    so einfache Problemlösungen mißtrauisch sein soll. Auch
    wird unsere äußerste Erwartung nicht weiter gehen, als daß
    diese Formel sich im Gröbsten als richtig erweise. Aber auch
    das wäre schon etwas. Man besinnt sich auch sofort an eine
    ganze Reihe von Einsichten und Funden, welche unseren Satz
    zu bekräftigen scheinen. Die Übertragungsneurosen entstehen
    nach dem Ergebnis aller unserer Analysen dadurch, daß das
    Ich eine im Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen und
    nicht zur motorischen Erledigung befördern will, oder ihr
    das Objekt bestreitet, auf das sie zielt. Das Ich erwehrt sich
    ihrer dann durch den Mechanismus der Verdrängung; das
    Verdrängte sträubt sich gegen dieses Schicksal, schafft sich
    auf Wegen, über die das Ich keine Macht hat, eine Ersatz-
    vertretung, die sich dem Ich auf dem Wege des Kompromisses
    aufdrängt, das Symptom; das Ich findet seine Einheitlich-
    keit durch diesen Eindringling bedroht und geschädigt, setzt

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    den Kampf gegen das Symptom fort, wie es sich gegen die
    ursprüngliche Triebregung gewehrt hatte, und dies alles ergibt
    das Bild der Neurose. Es ist kein Einwand, daß das Ich,
    wenn es die Verdrängung vornimmt, im Grunde den Geboten
    seines Über
    Ichs folgt, die wiederum solchen Einflüssen der
    realen Außenwelt entstammen, welche im Über
    Ich ihre Ver-
    tretung gefunden haben. Es bleibt doch dabei, daß das Ich
    sich auf die Seite dieser Mächte geschlagen hat, daß in ihm
    deren Anforderungen stärker sind als die Triebansprüche des
    Es, und daß das Ich die Macht ist, welche die Verdrängung
    gegen jenen Anteil des Es ins Werk setzt und durch die
    Gegenbesetzung des Widerstandes befestigt. Im Dienste des
    Über-Ichs und der Realität ist das Ich in Konflikt mit dem
    Es geraten und dies ist der Sachverhalt bei allen Über-
    tragungsneurosen.

    Auf der anderen Seite wird es uns ebenso leicht, aus unserer
    bisherigen Einsicht in den Mechanismus der Psychosen Bei-
    spiele anzuführen, welche auf die Störung des Verhältnisses
    zwischen
    Ich und Außenwelt hinweisen. Bei der Amentia
    Meynerts, der akuten halluzinatorischen Verworrenheit,
    der vielleicht extremsten und frappantesten Form von
    Psychose, wird die Außenwelt entweder gar nicht wahr-
    genommen oder ihre Wahrnehmung bleibt völlig unwirksam.
    Normalerweise beherrscht ja die Außenwelt das Ich auf zwei
    Wegen: erstens durch die immer von neuem möglichen
    aktuellen Wahrnehmungen, zweitens durch den Erinnerungs-
    schatz früherer Wahrnehmungen, die als „Innenwelt“ einen
    Besitz und Bestandteil des Ichs bilden. In der Amentia wird
    nun nicht nur die Annahme neuer Wahrnehmungen ver-
    weigert, es wird auch der Innenwelt, welche die Außenwelt
    als ihr Abbild bisher vertrat, die Bedeutung (Besetzung) ent-
    zogen; das Ich schafft sich selbstherrlich eine neue Außen

    und Innenwelt und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen,

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    daß diese neue Welt im Sinne der Wunschregungen des Es
    aufgebaut ist, und daß eine schwere, unerträglich erscheinende
    Wunschversagung der Realität das Motiv dieses Zerfalles mit
    der Außenwelt ist. Die innere Verwandtschaft dieser Psychose
    mit dem normalen Traum ist nicht zu verkennen. Die Bedin-
    gung des Träumens ist aber der Schlafzustand, zu dessen
    Charakteren die volle Abwendung von
    Wahrnehmung und
    Außenwelt gehört.

    Von anderen Formen von Psychose, den Schizophrenien,
    weiß man, daß sie zum Ausgang in affektiven Stumpfsinn,
    das heißt zum Verlust alles Anteiles an der Außenwelt ten-
    dieren. Über die Genese der Wahnbildungen haben uns einige
    Analysen gelehrt, daß der Wahn wie ein aufgesetzter Fleck
    dort gefunden wird, wo ursprünglich ein Einriß in der Be-
    ziehung des Ichs zur Außenwelt entstanden war. Wenn die
    Bedingung des Konflikts mit der Außenwelt nicht noch weit
    auffälliger ist, als wir sie jetzt erkennen, so hat dies seinen
    Grund in der Tatsache, daß im Krankheitsbild der Psychose die
    Erscheinungen des pathogenen Vorganges oft von denen eines
    Heilungs- oder Rekonstruktionsversuches überdeckt werden.

    Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psycho-
    neurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die Nicht-
    erfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche,
    die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation
    wurzeln. Diese Versagung ist im letzten Grunde immer eine
    äußere; im einzelnen Fall kann sie von jener inneren Instanz
    (im Über-Ich) ausgehen, welche die Vertretung der Realitäts-
    forderung übernommen hat. Der pathogene Effekt hängt
    nun davon ab, ob das Ich in solcher Konfliktspannung seiner
    Abhängigkeit von der Außenwelt treu bleibt und das Es zu
    knebeln versucht, oder ob es sich vom Es überwältigen und
    damit von der Realität losreißen läßt. Eine Komplikation
    wird in diese anscheinend einfache Lage aber durch die

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    Existenz des Über-Ichs eingetragen, welches in noch nicht
    durchschauter Verknüpfung Einflüsse aus dem Es wie aus
    der Außenwelt in sich vereinigt, gewissermaßen ein Ideal-
    vorbild für das ist, worauf alles Streben des Ichs abzielt, die
    Versöhnung seiner mehrfachen Abhängigkeiten. Das Verhalten
    des Über-Ichs wäre, was bisher nicht geschehen ist, bei allen
    Formen psychischer Erkrankung in Betracht zu ziehen. Wir
    können aber vorläufig postulieren, es muß auch Affektionen
    geben, denen ein Konflikt zwischen Ich und Über-Ich
    zugrunde liegt. Die Analyse gibt uns ein Recht anzunehmen,
    daß die Melancholie ein Muster dieser Gruppe ist, und dann
    würden wir für solche Störungen den Namen „narzißtische
    Psychoneurosen“ in Anspruch nehmen. Es stimmt ja nicht
    übel zu unseren Eindrücken, wenn wir Motive finden, Zu-
    stände wie die Melancholie von den anderen Psychosen zu
    sondern. Dann merken wir aber, daß wir unsere einfache
    genetische Formel vervollständigen konnten, ohne sie fallen
    zu lassen. Die Übertragungsneurose entspricht dem Konflikt
    zwischen Ich und Es, die narzißtische Neurose dem zwischen
    Ich und Über
    Ich, die Psychose dem zwischen Ich und
    Außenwelt. Wir wissen freilich zunächst nicht zu sagen, ob
    wir wirklich neue Einsichten gewonnen
    oder nur unseren
    Formelschatz bereichert haben, aber ich meine, diese Anwen-
    dungsmöglichkeit muß uns doch Mut machen, die vor-
    geschlagene Gliederung des seelischen Apparates in Ich, Über

    Ich und Es weiter im Auge zu behalten.

    Die Behauptung, daß Neurosen und Psychosen durch die
    Konflikte des Ichs mit seinen verschiedenen herrschenden
    Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen in der Funktion
    des Ichs entsprechen, das doch das Bemühen zeigt, all die
    verschiedenen Ansprüche miteinander zu versöhnen, fordert
    eine andere Erörterung zu ihrer Ergänzung heraus. Man

    möchte wissen, unter welchen Umständen und durch welche

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    Mittel es dem Ich gelingt, aus solchen gewiß immer vorhan-
    denen Konflikten ohne Erkrankung zu entkommen. Dies ist
    nun ein neues Forschungsgebiet, auf dem sich gewiß die ver-
    schiedensten Faktoren zur Berücksichtigung einfinden werden.
    Zwei Momente lassen sich aber sofort herausheben. Der Aus-
    gang aller solchen Situationen wird unzweifelhaft von
    ökonomischen Verhältnissen, von den relativen Größen der
    miteinander ringenden Strebungen abhängen. Und ferner: es
    wird dem Ich möglich sein, den Bruch nach irgendeiner Seite
    dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst deformiert, sich
    Einbußen an seiner Einheitlichkeit gefallen läßt, eventuell
    sogar sich zerklüftet oder zerteilt. Damit rückten die Inkon-
    sequenzen, Verschrobenheiten und Narrheiten der Menschen
    in ein ähnliches Licht wie ihre sexuellen Perversionen, durch
    deren Annahme sie sich ja Verdrängungen ersparen.

    Zum Schlusse ist der Frage zu gedenken, welches der einer
    Verdrängung analoge Mechanismus sein mag, durch den das
    Ich sich von der Außenwelt ablöst. Ich meine, dies ist ohne
    neue Untersuchungen nicht zu beantworten, aber er müßte,
    wie die Verdrängung, eine Abziehung der vom Ich aus-
    geschickten Besetzung zum Inhalt haben.