Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse 1911-004/1911
  • S.

    109

    Originalarbeiten.

    I.

    Die Handhabung der Traumdeutung in der
    Psychoanalyse.

    Von Sigm. Freud.

    Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur die eine
    Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psychoanalyse zu orientieren
    und selbst kleinere Beiträge zur Veröffentlichung zu bringen, sondern
    möchte auch den anderen Aufgaben genügen, das bereits Erkannte in
    klarer Fassung dem Lernenden vorzulegen und dem Anfänger in der
    analytischen Behandlung durch geeignete Anweisungen Aufwand an Zeit
    und Mühe zu ersparen. Es werden darum in dieser Zeitschrift von
    nun an auch Aufsätze didaktischer Natur und technischen Inhaltes er-
    scheinen, an denen es nicht wesentlich ist, ob sie auch etwas Neues
    mitteilen.

    Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist nicht die nach
    der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht erörtert werden, wie
    man Träume zu deuten und deren Deutung zu verwerten habe, sondern
    nur, welchen Gebrauch man bei der psychoanalytischen Behandlung von
    Kranken von der Kunst der Traumdeutung machen solle. Man kann
    dabei gewiss in verschiedener Weise vorgehen, aber die Antwort auf
    technische Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbstverständlich.
    Wenn es vielleicht mehr als nur einen guten Weg gibt, so gibt es doch
    sehr viele schlechte, und eine Vergleichung verschiedener Techniken
    kann nur aufklärend wirken, auch wenn sie nicht zur Entscheidung für
    eine bestimmte Methode führen sollte.

    Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Behandlung
    kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der Träume festhalten
    und darum jeden Traum, den ihm der Kranke erzählt, zur möglichst
    vollständigen Deutung bringen wollen. Er wird aber bald merken können,
    dass er sich nun unter ganz andersartigen Verhältnissen befindet, und
    dass er mit den nächsten Aufgaben der Therapie in Kollision gerät,
    wenn er seinen Vorsatz durchführen will. Erwies sich etwa der erste
    Traum des Patienten als vortrefflich brauchbar für die Anknüpfung der

  • S.

    110

    ersten an den Kranken zu richtenden Aufklärungen, so stellen sich alsbald
    Träume ein, die so lang und so dunkel sind, dass ihre Deutung in der
    begrenzten Arbeitsstunde eines Tages nicht zu Ende gebracht werden
    kann. Setzt der Arzt diese Deutungsarbeit durch die nächsten Tage
    fort, so wird ihm unterdes von neuen Träumen berichtet, die zurück-
    gestellt werden müssen, bis er den ersten Traum für erledigt halten
    kann. Gelegentlich ist die Traumproduktion so reichlich und der Fort-
    schritt des Kranken im Verständnis der Träume dabei so zögernd, dass
    der Analytiker sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der
    Darreichung des Materials sei nur eine Äusserung des Widerstandes,
    welcher sich der Erfahrung bedient, dass die Kur den ihr so gebotenen
    Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes ist die Kur aber ein ganzes
    Stück hinter der Gegenwart zurückgeblieben und hat den Kontakt mit der
    Aktualität eingebüsst. Einer solchen Technik muss man die Regel ent-
    gegenhalten, dass es für die Behandlung von grösster Bedeutung ist,
    die jeweilige psychische Oberfläche des Kranken zu kennen, darüber
    orientiert zu sein, welche Komplexe und welche Widerstände derzeit
    bei ihm rege gemacht sind, und welche bewusste Reaktion dagegen sein
    Benehmen leiten wird. Dieses therapeutische Ziel darf kaum jemals
    zu Gunsten des Interesses an der Traumdeutung hintangesetzt werden.

    Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der Analyse halten,
    wenn man jener Regel eingedenk bleiben will? Etwa so: Man begnüge
    sich jedesmal mit dem Ergebnis an Deutung, welches in einer Stunde
    zu gewinnen ist, und halte es nicht für einen Verlust, dass man den
    Inhalt des Traumes nicht vollständig erkannt hat. Am nächsten Tage
    setze man die Deutungsarbeit nicht wie selbstverständlich fort, sondern
    erst dann, wenn man merkt, dass inzwischen nichts anderes sich beim
    Kranken in den Vordergrund gedrängt hat. Man mache also von der
    Regel, immer das zu nehmen, was dem Kranken zunächst in den Sinn
    kommt, zu Gunsten einer unterbrochenen Traumdeutung keine Ausnahme.
    Haben sich neue Träume eingestellt, ehe man die früheren zu Ende
    gebracht, so wende man sich diesen rezenteren Produktionen zu und
    mache sich aus der Vernachlässigung der älteren keinen Vorwurf. Sind
    die Träume gar zu umfänglich und weitschweifig geworden, so verzichte
    man bei sich von vornherein auf eine vollständige Lösung. Man hüte sich
    im allgemeinen davor, ein ganz besonderes Interesse für die Deutung der
    Träume an den Tag zu legen oder im Kranken die Meinung zu erwecken,
    dass die Arbeit stille stehen müsse, wenn er keine Träume bringe. Man
    läuft sonst Gefahr, den Widerstand auf die Traumproduktion zu lenken
    und ein Versiegen der Träume hervorzurufen. Der Analysierte muss
    vielmehr zur Überzeugung erzogen werden, dass die Analyse in jedem
    Falle Material zu ihrer Fortsetzung findet, gleichgültig ob er Träume
    beibringt oder nicht, und in welchem Ausmasse man sich mit ihnen be-
    schäftigt.

    Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel wertvolles
    Material zur Aufdeckung des Unbewussten, wenn man die Traumdeutung
    nur unter solchen methodischen Einschränkungen ausübt? Darauf ist
    folgendes zu erwidern: Der Verlust ist keineswegs so gross, wie es bei
    geringer Vertiefung in den Sachverhalt erscheinen wird. Man mache
    sich einerseits klar, dass irgend ausführliche Traumproduktionen bei
    schweren Fällen von Neurosen nach allen Voraussetzungen als prinzipiell 

  • S.

    111

    nicht vollständig lösbar beurteilt werden müssen. Ein solcher Traum
    baut sich oft über dem gesamten pathogenen Material des Falles auf,
    welches Arzt und Patient noch nicht kennen (sogenannte Programmträume,
    biographische Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des ganzen
    Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzustellen. Beim Versuch, 
    einen solchen Traum zu deuten, werden alle noch unangetastet vor-
    handenen Widerstände zur Wirkung kommen und der Einsicht bald eine
    Grenze setzen. Die vollständige Deutung eines solchen Traumes fällt
    eben zusammen mit der Ausführung der ganzen Analyse. Hat man ihn zu
    Beginn der Analyse notiert, so kann man ihn etwa am Ende derselben,
    nach vielen Monaten, verstehen. Es ist derselbe Fall wie beim Ver-
    ständnis eines einzelnen Symptoms (des Hauptsymptoms etwa). Die
    ganze Analyse dient der Aufklärung desselben; während der Behandlung
    muss man der Reihe nach bald dies bald jenes Stück der Symptom-
    bedeutung zu erfassen suchen, bis man all diese Stücke zusammensetzen
    kann. Mehr darf man also auch von einem zu Anfang der Analyse
    vorfallenden Traume nicht verlangen; man muss sich zufrieden geben,
    wenn man aus dem Deutungsversuch zunächst eine einzelne pathogene
    Wunschregung errät.

    Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man die Ab-
    sicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man verliert aber auch
    in der Regel nichts, wenn man die Deutung eines älteren Traumes ab-
    bricht, um sich einem rezenteren zuzuwenden. Wir haben aus schönen
    Beispielen voll gedeuteter Träume erfahren, dass mehrere aufeinander-
    folgende Szenen desselben Traumes den nämlichen Inhalt haben können,
    der sich in ihnen etwa mit steigender Deutlichkeit durchsetzt. Wir
    haben ebenso gelernt, dass mehrere in derselben Nacht vorfallende
    Träume nichts anderes zu sein brauchen als Versuche, denselben Inhalt
    in verschiedener Ausdrucksweise darzustellen. Wir können ganz all-
    gemein versichert sein, dass jede Wunschregung, die sich heute einen
    Traum schafft, in einem anderen Traume wiederkehren wird, solange sie
    nicht verstanden und der Herrschaft des Unbewussten entzogen ist. So
    wird auch oft der beste Weg, um die Deutung eines Traumes zu ver-
    vollständigen, darin bestehen, dass man ihn verlässt, um sich dem neuen
    Traum zu widmen, der das nämliche Material in vielleicht zugänglicherer
    Form wieder aufnimmt. Ich weiss, dass es nicht nur für den Analysierten,
    sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die bewussten
    Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben und sich ganz einer
    Leitung zu überlassen, die uns doch immer wieder als „zufällig“ er-
    scheint. Aber ich kann versichern, es lohnt sich jedesmal, wenn man
    sich entschliesst, seinen eigenen theoretischen Behauptungen Glauben
    zu schenken, und sich dazu überwindet, die Herstellung des Zusammen-
    hanges der Führung des Unbewussten nicht streitig zu machen.

    Ich plädiere also dafür, dass die Traumdeutung in der analyti-
    schen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst willen betrieben
    werden soll, sondern dass ihre Handhabung jenen technischen Regeln
    unterworfen werde, welche die Ausführung der Kur überhaupt beherrschen.
    Natürlich kann man es gelegentlich auch anders machen und seinem
    theoretischen Interesse ein Stück weit nachgehen. Man muss dabei
    aber immer wissen, was man tut. Ein anderer Fall ist noch in Betracht
    zu ziehen, der sich ergeben hat, seitdem wir zu unserem Verständnis 

  • S.

    112

    der Traumsymbolik grösseres Zutrauen haben und uns von den Einfällen
    der Patienten unabhängiger wissen. Ein besonders geschickter Traum-
    deuter kann sich etwa in der Lage befinden, dass er jeden Traum des
    Patienten durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und zeitraubenden
    Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen. Für einen solchen Analytiker
    entfallen also alle Konflikte zwischen den Anforderungen der Traum-
    deutung und jenen der Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen,
    die Traumdeutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
    mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei hat er
    aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen, die von der regulären
    nicht unerheblich abweicht, wie ich in anderem Zusammenhange dartun
    werde. Dem Anfänger in der psychoanalytischen Behandlung ist jeden-
    falls zu widerraten, dass er sich diesen aussergewöhnlichen Fall zum
    Vorbild nehme.

    Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der analytischen
    Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch nichts von der Technik der
    Traumübersetzung gelernt hat, verhält sich jeder Analytiker wie jener
    von uns angenommene überlegene Traumdeuter. Diese initialen Träume
    sind sozusagen naiv, sie verraten dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wie
    die Träume sogenannt gesunder Menschen. Es entsteht nun die Frage,
    soll der Arzt auch sofort dem Kranken alles übersetzen, was er selbst
    aus dem Traume herausgelesen hat. Diese Frage soll aber hier nicht
    beantwortet werden, denn sie ist offenbar der umfassenderen Frage
    untergeordnet, in welchen Phasen der Behandlung und in welchem Tempo
    der Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch Verhüllten vom Arzte ein-
    geführt werden soll. Je mehr dann der Patient von der Übung der
    Traumdeutung erlernt hat, desto dunkler werden in der Regel seine
    späteren Träume. Alles erworbene Wissen um den Traum dient auch
    der Traumbildung als Warnung.

    In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum, die trotz
    der Ablehnung der Traumdeutung durch die Psychoanalyse einen neuen
    Impuls empfangen haben, findet man immer wieder eine recht über-
    flüssige Sorgfalt auf die getreue Erhaltung des Traumtextes verlegt, der
    angeblich vor den Entstellungen und Usuren der nächsten Tagesstunden
    bewahrt werden muss. Auch manche Psychoanalytiker scheinen sich
    ihrer Einsicht in die Bedingungen der Traumbildung nicht konsequent
    genug zu bedienen, wenn sie dem Behandelten den Auftrag geben, jeden
    Traum unmittelbar nach dem Erwachen schriftlich zu fixieren. Diese
    Massregel ist in der Therapie überflüssig; auch bedienen sich die Kranken
    der Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu stören und einen grossen
    Eifer dort anzubringen, wo er nicht von Nutzen sein kann. Hat man
    nämlich auf solche Weise mühselig einen Traumtext gerettet, der sonst
    vom Vergessen verzehrt worden wäre, so kann man sich doch leicht
    überzeugen, dass für den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem
    Text stellen sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist der nämliche,
    als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre. Der Arzt hat aller-
    dings in dem einen Falle etwas erfahren, was ihm im anderen entgangen
    wäre. Aber es ist nicht dasselbe, ob der Arzt oder ob der Patient
    etwas weiss; die Bedeutung dieses Unterschiedes für die Technik der
    Psychoanalyse soll ein anderes Mal von uns gewürdigt werden.

  • S.

    113

    Ich will endlich noch einen besonderen Typus von Träumen er-
    wähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer psychoanalytischen
    Kur vorkommen können, und die den Anfänger befremden oder irre-
    führen mögen. Es sind dies die sog. nachhinkenden oder bestätigenden
    Träume, die der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
    nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen aus dem
    Material der Tageseinfälle erschlossen hatte. Es sieht dann so aus, als
    hätte der Patient die Liebenswürdigkeit gehabt, gerade das in Traum-
    form zu bringen, was man ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat.
    Der geübtere Analytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten
    solche Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche Träume als er-
    wünschte Bestätigungen auf und konstatiert, dass sie nur unter be-
    stimmten Bedingungen der Beeinflussung durch die Kur beobachtet
    werden. Die weitaus zahlreichsten Träume eilen ja der Kur voran, so
    dass sich aus ihnen nach Abzug von allem bereits Bekannten und Ver-
    ständlichen ein mehr oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was
    bisher verborgen war, ergibt.