Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung 1916-002/1916.2
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    SONDERABDRUCK
    aus der
    INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT FÜR ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
    herausgegeben von Prof. S. Freud, redigiert von Dr. S. Ferenczi, Dr. O. Rank u. Prof. E. Jones.
    IV. Jahrgang 1916. Verlag des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, Bauernmarkt 3.
    Abonnementspreis ganzjährig M. 20.—, K 24.60.


    1.
    Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung.

    Von Sigm. Freud.

    Bei einem etwa 21jährigen Knaben werden die Produkte der unbe-
    wußten Geistesarbeit nicht nur als Z w a n g s g e d a n k e n, sondern auch als Zwang s-
    b i l d e r bewußt. Die beiden können einander begleiten oder unabhängig von-
    einander auftreten. Zu einer gewissen Zeit traten bei ihm innig verknüpft
    ein Zwangswort und ein Zwangsbild auf, wenn er seinen Vater ins Zimmer
    kommen sah. Das Wort lautete: „V a t e r a r s c h“, das begleitende Bild stellte
    den Vater als einen nackten, mit Armen und Beinen versehenen Unterkörper
    dar, dem Kopf und Oberkörper fehlten. Die Genitalien waren nicht angezeigt,
    die Gesichtszüge auf dem Bauch aufgehäuft.

    Zur Erklärung dieser mehr als gewöhnlich teils Symptombildung ist
    zu bemerken, daß der tatsächlich vollentwickelte und ethisch hochstehende
    Mann bis über sein zehntes Jahr eine mehr lebhafte Analerotik in den ver-
    schiedensten Formen betätigt hatte. Nachdem sie überwunden war, wurde
    sein Sexualleben durch den späteren Kampf gegen die Genitalerotik auf die anale
    Stufe zurückgedrängt. Seinen Vater liebte und respektierte er sehr,
    fürchtete ihn auch nicht wenig; vom Standpunkt seiner hohen Ansprüche an
    Triebunterdrückung und Askese erschien ihm der Vater aber als der Vertreter
    der „Völlerei“, der aufs „tierisch“ gerichteten Genußsucht.

    „Vaterarsch“ erklärte sich bald als mutwillige Verdeutschung des Ehren-
    titels „Paterarch“. Das Zwangsbild ist eine offenk u n d i g e K a r i k a t u r. Es er-
    innert an andere Darstellungen, die in herabsetzender Absicht die ganze Person
    durch ein einziges Organ, z. B. ihr Genitale, ersetzen, das unbefruchtete Phallussymbol,
    und zur Identifizierung des Genitales mit dem ganzen Menschen führen,
    welche an scherzhafte Redensarten, wie „ich bin ganz Ohr“, . . .

    Die Erörterung der Zwangssätze, aus denen die Begriffe der Spottfigur erschien
    mir zunächst sehr sonderbar. Ich erinnerte mich aber bald, ähnliches an fran-
    zösischen Karikaturen gesehen zu haben. (Vgl.: Das unanständige Libanon,
    Karikatur von Jean Veber aus dem Jahre 1901 auf Englisch in F. Freud,
    Das Erotische Element in der Karikatur 1904.) Der Zufall hat mich dann
    mit einer antiken Darstellung bekannt gemacht, die volle Übereinstimmung
    mit dem Zwangsbild meines Patienten zeigt.

    Nach der griechischen Sage war Demeter auf der Suche nach ihrer
    geraubten Tochter nach Eleusis gekommen, fand Aufnahme bei Dysaules und
    seiner Frau Baubo, verweigerte aber in ihrer tiefen Trauer, Speise und Trank
    zu berühren. Da brachte sie die Wirtin Baubo zum Lachen, indem sie plotz-

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    lich ihr Kleid aufhob und ihren Leib enthüllte. Die Diskussion dieser Anck-
    dote, die wahrscheinlich ein nicht mehr verstandenes magisches Zeremoniell
    erklären soll, findet sich im vierten Bande des Werkes „Cu l t e s M y t h e s e t
    R e l i g i o n s“, 1912, von Salomon Reinach. Ebendort wird auch erwähnt,
    daß sich bei den Ausgrabungen des kleinasiatischen Priene Terrakotten ge-
    funden haben, welche diese Baubo darstellen. Sie zeigen einen Frauenleib
    ohne Kopf und Brust, auf dessen Bauch ein Gesicht gebildet ist; der aufge-
    hobene Rock umrahmt dieses Gesicht wie eine Haarkrone. (S. Reinach, l. c.
    p. 177.)