Zeitgemäßes über Krieg und Tod 1915-002/1915.3
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    SEPARATABDRUCK aus IMAGO,

    Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften.
    Herausgegeben von Prof. SIGM. FREUD, redigiert von Dr. OTTO RANK u. Dr. HANNS SACHS.
    IV. Jahrgang 1915, 1. Heft. Verlag von Hugo Helfer & Co, in Leipzig und Wien, I. Bauernmarkt ③ —

    Abonnementsprels ganzjährig M. 15— = К 18.—.

    Zeitgemábes, über Krieg und Tod.
    Von SIGM. FREUD.

    I. Die Enttåuschung des Krieges.

    on dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet,
    ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits
    vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne
    Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an
    der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrången, und an dem
    Wert der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte
    noch niemals ein Ereignis soviel kostbares Gemeingut der Mensch=
    heit zerstört, soviele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich
    das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose

    Unparteilichkeit verloren, ihre aufs tiefste erbitterten Diener suchen `

    ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des
    Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Gegner für minder=
    wertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose seiner
    Geistes= oder ‏ו‎ verkünden. Aber wahrscheinlich empfin-
    den wir das Böse dieser Zeit unmábig stark und haben kein Recht, es
    mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht erlebt haben.

    Der Einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit ein
    Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist, fühlt sich
    in seiner Orientierung verwirrt und in seiner Leistungsfåhigkeit ge=
    hemmt. Ich meine, ihm wird jeder kleine Wink willkommen sein,
    der es ihm erleichtert, sich wenigstens in seinem eigenen Innern zus
    reditzufinden. Unter den Momenten, welche das seelische Elend der
    Daheimgebliebenen verschuldet haben, und deren Bewältigung ihnen
    so schwierige Aufgaben stellt, möchte ich zwei hervorheben und an
    dieser Stelle behandeln: Die Enttäuschung, die dieser Krieg hervor=
    gerufen hat, und die veränderte Einstellung zum Tode, zu der er
    uns — wie alle anderen Kriege — nôtigt.

    Wenn ich von Enttäuschung rede, weiß jedermann sofort, was

    Imago ГУД 1

    ei ‏הפה ואה‎ DVR.

    he

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    3 Sigm. Freud

    damit gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsshwármer zu sein,
    man kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des
    Leidens für die Ökonomie des Mensdenlebens einsehen und darf
    doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen und das
    Aufhören der Hic herbeisehnen. Man sagte sich zwar, die Kriege
    könnten nicht aufhören, so lange die Völker unter so verschieden-
    artigen Existenzbedingungen leben, so lange die Wertungen des
    Einzellebens bei ihnen weit auseinandergehen, und so lange die Ge-
    hássigkeiten, welche sie trennen, so starke seelische Triebkráfte reprásen-
    tieren. Man war also darauf vorbereitet, daß Kriege zwischen den
    primitiven und den zivilisierten Völkern, zwischen den Mensden-
    rassen, die durch die Hautfarbe voneinander geschieden werden,
    ja Kriege mit und unter den wenig entwickelten oder verwilderten
    Velkerindividuen Europas die Menschheit noch durch geraume Zeit
    in Anspruch nehmen werden. Aber man getraute sich etwas anderes
    zu hoffen. Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer
    Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist,
    die man mit der Pflege weltumspannender Interessen beschäftigt
    wußte, deren Shópfungen die technischen Fortschritte in der Beherr-
    schung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen
    Kulturwerte sind, von diesen Völkern hatte man erwartet, daß sie
    es verstehen würden, Mifhelligkeiten und Interessenkonflikte auf
    anderem Wege zum Austrag zu bringen. Innerhalb jeder dieser
    Nationen waren hohe sittlihe Normen für den Einzelnen aufgestellt
    worden, nach denen er seine Lebensführung einzurichten hatte, wenn
    er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte. Diese oft überstrengen
    Vorschriften forderten viel von ihm, eine ausgiebige Selbstbeshrán=
    kung, einen weitgehenden Verzicht auf Triebbefriedigung. Es war
    ihm vor allem versagt, sich der auBerordentlichen Vorteile zu be-
    dienen, die der Gebrauch von Lüge und Betrug im Wettkampf
    mit den Nebenmenschen schafft, Der Kulturstaat hielt diese sittlichen
    Normen für die Grundlage seines Bestandes, er schritt ernsthaft ein,
    wenn man sie anzutasten wagte, erklärte es oft für untunlich, sie
    auch nur einer Prüfung durch den kritischen Verstand zu unterziehen.
    Es war also anzunehmen, daß er sie selbst respektieren wolle und
    nichts gegen sie zu unternehmen gedenke, wodurch er der Begrün-
    ung seiner a Existenz widersprochen hatte. Endlich konnte
    man zwar die Wahrnehmung machen, daß es innerhalb dieser Kul=
    turnationen gewisse eingesprengte Völkerreste gäbe, die ganz allge=
    mein unliebsam wären und darum nur widerwillig, auch nicht im
    vollen Umfange, zur Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit
    zugelassen würden, für die sie sich als genug geeignet erwiesen
    hatten. Aber die großen Völker selbst, konnte man meinen, hätten
    soviel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und soviel Toleranz
    für ihre Verschiedenheiten erworben, daß »fremd« und »feindlich«
    nicht mehr wie noch im klassischen Altertum für sie zu einem Bes
    griff verschmelzen durften.

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    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 8

    Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben unge=
    zählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen den Aufent-
    halt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die Verkehrs=
    beziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft, Wen aber
    die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle bannte, der
    konnte sich aus allen Vorziigen und Reizen der Kulturlånder ein
    neues größeres Vaterland zusammensetzen, in dem er sich ungehemmt
    und unverdádtigt erging. Er genoß so das blaue und das graue
    Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen Wiesen=
    flåden, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der süd-
    lichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große
    historische Erinnerungen ruhen, und die Stille der unbertihrten Natur.
    Dies neue Vaterland war fiir ihn auch ein Museum, erfúllt mit
    allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen
    Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er von
    einem Saal dieses Museums in einen anderen wanderte, konnte er
    in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen
    von Vollkommenheit Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der
    Mutter Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten.
    Hier war die kühle unbeugsame Energie aufs höchste entwickelt,
    dort die graziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der
    Sinn für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die
    den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben,

    Vergessen wir auch nicht daran, daß jeder Kulturweltbürger
    sich einen besonderen »Parnaß« und eine »Schule von Athen« ge=
    schaffen hatte. Unter den großen Denkern, Dichtern, Künstlern aller
    Nationen, hatte er die ausgewählt, denen er das Beste zu schulden
    vermeinte, was ihm an Lebensgenuß und Lebensverständnis zu=
    ganglih geworden war, und sie den unsterblichen Alten in seiner
    Verehrung zugesellt wie den vertrauten Meistern seiner eigenen
    Zunge. Keiner von diesen Großen war ihm darum fremd erschienen,
    weil er in anderer Sprache geredet hatte, weder der unvergleichliche
    Ergründer der menschlichen Leidenschaften, noch der schönheits=
    trunkene Schwärmer oder der gewaltig drohende Prophet, der fein-
    sinnige Spôtter, und niemals warf er sich dabei vor, abtrünnig ge=
    mere zu sein der eigenen Nation und der geliebten Mutter-
    sprache.

    ド Der Genuß der Kulturgemeinschaft wurde gelegentlich durch
    Stimmen gestört, welche warnten, daß infolge altúberkommener Diffe=
    renzen Kriege auch unter den Mitgliedern derselben unvermeidlich
    wären. Man wollte nicht daran glauben, aber wie stellte man sich
    einen solchen Krieg vor, wenn es dazu kommen sollte? Als eine
    Gelegenheit die Fortschritte im Gemeingefühl der Menschen aufzu«
    zeigen seit jener Zeit, da die griechischen Amphiktyonien verboten
    hatten, eine dem Bündnis angehôrige Stadt zu zerstören, ihre Ól=
    bäume umzuhauen und ihr das Wasser abzuschneiden. Als einen
    ritterlichen Waffengang, der sich darauf beschränken wollte, die Über»

    FO

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    4 Sigm. Freud

    legenheit des einen Teils festzustellen, unter möglichster Vermeidung
    schwerer Leiden, die zu dieser Entscheidung nichts beitragen könnten,
    mit voller Schonung für den Verwundeten, der aus dem Kampf
    ausscheiden muß, und für den Arzt und Pfleger, der sich seiner Her=
    stellung widmet. Natürlich mit allen Rücksichten für den nicht krieg=
    führenden Teil der Bevölkerung, für die Frauen, die dem Kriegs=
    handwerk ferne bleiben, und [^ die Kinder, die, herangewachsen,
    einander von beiden Seiten Freunde und Mithelfer werden sollen.
    Auch mit Erhaltung all der internationalen Unternehmungen und
    Institutionen, in denen sid die Kulturgemeinshaft der Friedenszeit
    verkórpert hatte.

    Ein solder Krieg hätte immer noch genug des Schrecklichen
    und schwer zu Ertragenden enthalten, aber er hätte die Entwiddung
    ethischer Beziehungen zwischen den GroBindividuen der Mensch-
    heit, den Völkern und Staaten, nicht unterbrochen.

    Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus
    und er brachte die — Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und
    verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig ver-
    vollkommneten Waffen des Angriffs und der Nemaipang. sondern
    mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein
    früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen
    man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht
    genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und
    des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kåmpfenden
    Teils der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft
    nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine
    Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben.
    Er zerreibt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander
    ringenden Vólkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche
    eine Wiederanknüpfung derselben für [ange Zeit unmöglich machen wird.

    Er brachte auch das kaum begreiflihe Phänomen zum Мог»
    schein, daß die Kulturvólker einander so wenig kennen und ver-
    stehen, daß sich das eine mit Haß und Abscheu gegen das andere
    wenden kann. Ja daf eine der grofen Kulturnationen so allgemein
    miBliebig ist, daß der Versuch gewagt werden kann, sie als »bar-
    barisch« von der Kulturgemeinshaft auszuschließen, obwohl sie ihre
    Eignung durch die grobartigsten Beitragsleistungen längst erwiesen
    hat. Wir leben der Phasing eine unparteiishe Geschichtsschreibung
    werde den Nachweis erbringen, daß gerade diese Nation, die, in
    deren Sprache wir schreiben, fiir deren Sieg unsere Lieben kämpfen,
    sich am wenigsten gegen die Gesetze der menschlichen Gesittung
    vergangen habe, aber wer darf in solcher Zeit als Richter auftreten
    in eigener Sache?

    Völker werden ungefähr durch die Staaten, die sie bilden, re=
    präsentiert, diese Staaten durch die Regierungen, die sie leiten. Der
    einzelne Volksangehórige kann in diesem Krieg mit Schreck 16512
    stellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrángen

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    Zeitgemáfes über Krieg und Tod 5

    wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts
    untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es mono=
    polisieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende Staat gibt
    sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen ent=
    ehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten List, sondern
    auch der bewußten Lüge und des absichtlichen Betruges gegen den
    Feind, und dies zwar in einem Maße, welches das in früheren Krie=
    gen Gebräuchlihe zu übersteigen scheint. Der Staat fordert das

    uberste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, ent»
    miindigt sie aber dabei durch ein Übermab von Verheimlihung
    und eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche die
    Stimmung der so intellektuell Unterdriickten wehrlos macht gegen
    jede ungünstige Situation und jedes wiiste Gerücht. Er löst sich
    los von Zusicherungen und Vertrågen, durch die er sich gegen andere
    Staaten gebunden hatte, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier
    und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus
    gutheiBen soll.

    Man wende nicht ein, daß der Staat auf den Gebrauch des
    Unredits nicht verzichten kann, weil er sich dadurch in Nadteil
    setzte. Auch für den Einzelnen ist die Befolgung der sittlichen Nor=
    men, der Verzicht auf brutale Madtbetátigung in der Regel sehr
    unvorteilhaft, und der Staat zeigt sich nur selten dazu fåhig, den
    Einzelnen für das Opfer zu entshädigen, das er von ihm gefordert
    hat, Man darf sich auch nicht darüber verwundern, daß die Locke=
    rung aller sittlihen Beziehungen zwischen den Grofindividuen der
    Menschheit eine Rúdwirkung auf die Sittlichkeit der Einzelnen ge-
    äußert hat, denn unser Gewissen ist nicht der unbeugsame Richter,
    für den die Ethiker es ausgeben, es ist in seinem Ursprunge »so=
    ziale Angst« und nichts anderes. Wo die Gemeinschaft den Vor=
    wurf aufhebt, hørt auch die Unterdrückung der bösen Gelüste auf,
    und die Menschen begehen Taten von Grausamkeit, Tue, Verrat
    und Roheit, deren Möglichkeit man mit ihrem kulturellen Niveau
    für unvereinbar gehalten hätte.

    So mag der Kulturweltbürger, den ich vorhin eingeführt habe,
    ratlos dastehen in der ihm fremd gewordenen Welt, sein großes
    Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die
    Mitbürger entzweit und erniedrigt!

    Zur Kritik seiner Enttäuschung wäre einiges zu bemerken.
    Sie ist, strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie besteht in der
    Zerstörung einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß
    sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen
    genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß
    sie irgend einmal mit einem Stück der Wirklichkeit zusammenstoßen,
    an dem sie zerschellen.

    Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege ge-
    macht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach
    innen als die Wächter der sittlihen Normen gebården, und die

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    6 Sigm. Freud

    Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer
    an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat.

    Beginnen wir mit dem zweiten Punkt und versuchen wir es,
    die Anschauung, die wir kritisieren wollen, in einen einzigen knappen
    Satz zu fassen. Wie stellt man sich denn eigentlich den Vorgang
    vor, durch welchen ein einzelner Mensch zu einer höheren Stufe
    von Sittlichkeit gelangt? Die erste Antwort wird wohl lauten: Er
    ist eben von Geburt und von Anfang an gut und edel. Sie soll
    hier weiter nicht berücksichtigt werden. Eine zweite Antwort wird
    auf die Anregung eingehen, daß hier ein Entwicklungsvorgang vor=
    liegen müsse, und wird wohl annehmen, diese Entwicklung bestehe
    darin, daß die bösen Neigungen des Menschen in ihm ausgerottet
    und unter dem Einfluß von Erziehung und Kulturumgebung durch
    Neigungen zum Guten ersetzt werden. Dann darf man sich aller=
    dings verwundern, daß bei dem so Erzogenen das Böse wieder
    so tatkräftig zum Vorschein kommt.

    Aber diese Antwort enthält auch den Satz, dem wir wider»
    sprechen wollen. In Wirklichkeit gibt es keine »Ausrottung« des
    Bösen. Die psychologische — im strengeren Sinne die psyhoana=
    lytishe — Untersuchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen des
    Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen
    Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser urspriing=
    lier Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder

    ut noch böse, Wir klassifizieren sie a re Äußerungen in solcher

    eise je nach ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen und Anforde=
    rungen der menschlichen Gemeinschaft. Zuzugeben ist, daß alle die
    Regungen, welche von der Gesellschaft als böse verpönt werden —
    nehmen wir als Vertretung derselben die eigensüchtigen und die
    grausamen — sich unter diesen primitiven befinden.

    Diese primitiven Regungen legen einen langen Entwicklungs»
    weg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen zugelassen
    werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete ge-
    lenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte,
    wenden sich zum Teil gegen die eigene Person. Reaktionsbildungen
    gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwandlung derselben
    vor, als ob aus Egoismus — Altruismus, aus Grausamkeit — Mit=
    leid geworden wáre. Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, daf
    mande Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatzpaaren auf-
    treten, ein sehr merlwürdiges und der populáren Kenntnis fremdes
    Verhältnis, das man die »Gefühlsambivalenz« benannt hat. Am
    leichtesten zu beobachten und vom Verständnis zu bewältigen ist
    die Tatsache, daß starkes Lieben und starkes Hassen so häufig mit-
    einander bei derselben Person vereint vorkommen. Die Psychoana~
    lyse fügt dem hinzu, daß die beiden entgegengesetzten Gefiihls=
    regungen nicht selten auch die námliche Person zum Objekt nehmen.

    Erst nach Überwindung all solcher > Triebschicksale« stellt sich das
    heraus, was man den Charakter eines Menschen nennt, und was

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    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 7

    mit »gut« oder »böse« bekanntlich nur sehr unzureichend klassifiziert
    werden kann. Der Mensch ist selten im ganzen gut oder böse,
    meist »gut« in dieser Relation, böse in einer anderen oder »gut«
    unter solchen äußeren Bedingungen, unter anderen entschieden »böse«.
    Interessant ist die Erfahrung, daß die kindliche Präexistenz starker
    »böser« Regungen oft geradezu die Bedingung wird für eine be-
    sonders deutliche Wendung des Erwachsenen zum »Guten«, Die
    stärksten kindlichen Egoisten können die hilfreichsten und aufopfe-
    rungsfähigsten Bürger werden, die meisten Mitleidschwärmer, Men=
    schenfreunde, Tierschützer haben sich aus kleinen Sadisten und Tier=
    quälern entwickelt, -

    Die Umbildung der »bósen« Triebe ist das Werk zweier im
    gleichen Sinne wirkenden Faktoren, eines inneren und eines äußeren.
    Der innere Faktor besteht in der Beeinflussung der bösen — sagen
    wir: eigensüchtigen — Triebe durch die Erotik, das Liebesbedürfnis
    des Menschen im weitesten Sinne genommen, Durch die Zumischung
    der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in
    soziale umgewandelt. Man lernt das Geliebtwerden als einen Vor=
    teil schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten darf.
    Der äußere Faktor ist der Zwang der Erziehung, welche die An-
    sprüche der kulturellen Umgebung vertritt, und die dann durch die

    irekte Einwirkung des Kulturmilieus fortgesetzt wird. Kultur ist durch

    Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von
    jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste.
    Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung
    von äußerem Zwang in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse
    leiten dazu an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen
    durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden.
    Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der
    Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d. h. in der
    Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war. Die Menschen
    die heute geboren werden, bringen ein Stück Neigung (Disposition)
    zur Umwandlung der egoistischen in soziale Triebe als ererbte Or~
    ganisation mit, die auf leichte Anstöße hin diese Umwandlung durh=
    führt. Ein anderes Stück dieser Triebumwandlung muß im Leben
    selbst geleistet werden. In solcher Art steht der einzelne Mensch
    nicht nur unter der Einwirkung seines gegenwärtigen Kulturmilieus,
    sondern unterliegt auch dem Einflusse der Kulturgeschichte seiner
    Vorfahren,

    Heißen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit zur
    Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einfluß der Erotik
    seine Kultureignung, so können wir aussagen, daß dieselbe aus
    zwei Anteilen besteht, einem angeborenen und einem im Leben er»
    worbenen, und daß das Verhältnis der beiden zueinander und zu
    dem unverwandelt gebliebenen Anteil des Trieblebens ein sehr vari=
    ables ist.

    Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil zu

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    8 ; Sigm. Freud

    hoch zu veranschlagen, und überdies laufen wir Gefahr, die gesamte
    Kuftureignung in ihrem Verhältnis zum primitiv gebliebenen Trieb=
    leben zu úbershátzen, d. h. wir werden dazu verleitet, die Men-
    schen »besser« zu beurteilen, als sie in Wirklichkeit sind, Es besteht
    nämlich noch ein anderes Moment, welches unser Urteil trübt und
    das Ergebnis im günstigen Sinne verfälscht,

    Die Triebregungen eines anderen Menschen sind unserer Wahr-
    nehmung natürlich entrüdt. Wir schließen auf sie aus seinen Hand-
    lungen und seinem Benehmen, welche wir auf Motive aus seinem
    Triebleben zurückführen. Ein solcher Schluß geht notwendigerweise
    in einer Anzahl von Fällen irre. Die nämlichen, kulturell »guten«
    Handlungen können das einemal von »edlen« Motiven herstammen,
    das anderemal nicht. Die theoretischen Ethiker heißen nur solche
    Handlungen »gut«, welche der Ausdruck guter Triebregungen sind,
    dem anderen versagen sie ihre Anerkennung. Die von praktischen
    Absichten geleitete Gesellschaft kümmert sich aber im ganzen um
    diese Unterscheidung nicht, sie begnügt sich damit, daß ein Mensch
    sein Benehmen und seine Handlungen nach den kulturellen Vor=
    schriften richte, und fragt wenig nach seinen Motiven.

    Wir haben gehört, daß der äußere Zwang, den Erziehung
    und Umgebung auf den Menschen üben, eine weitere Umbildung
    seines Trieblebens zum Guten, eine Wendung vom Egoismus zum
    Altruismus herbeiführt. Aber dies ist nicht die notwendige odeı
    regelmäßige Wirkung des äußeren Zwanges. Erziehung und Um-
    gebung haben nicht nur Liebesprämien anzubieten, sondern arbeiten
    auch mit Vorteilsprämien anderer Art, mit Lohn und Strafen. Sie
    können also die Wirkung äußern, daß der ihrem Einfluß Unter-
    liegende sich zum guten Handeln im kulturellen Sinne entschließt,
    ohne daß sich eine Triebveredlung, eine Umsetzung egoistischer in
    soziale Neigungen, in ihm vollzogen hat. Der Ви wird im
    groben derselbe sein, erst unter besonderen Verhältnissen wird es
    sich zeigen, daß der eine immer gut handelt, weil ihn seine Trieb=
    neigungen dazu nötigen, der andere nur gut ist, weil, insolange und
    insoweit dies kulturelle Verhalten seinen eigensiichtigen Absichten
    Vorteile bringt. Wir aber werden bei oberflächlicher Bekanntschaft
    mit den Binzelnen kein Mittel haben, die beiden Fälle zu unter=
    scheiden, und gewiß durch unseren Optimismus verführt werden, die
    Anzahl der kulturell veränderten Menschen arg zu überschätzen.

    Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert und sich
    um die Triebbegründung derselben nicht kümmert, hat also eine
    per Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die da-

    ei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen Erfolg ermutigt, hat sie
    sich verleiten lassen, die sittlichen Anforderungen möglichst hoch zu
    spannen und so ihre Teilnehmer zu noch weiterer Entfernung von
    ihrer Triebveranlagung gezwungen. Diesen ist nun eine fortgesetzte
    Triebunterdriidkung auferlegt, deren Spannung sich in den merk-
    würdigsten Reaktions= und Kompensationserscheinungen kundgibt.

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 9

    Auf dem Gebiete der Sexualität, wo solche Unterdrückung am
    wenigsten durchzuführen ist, kommt es so zu den Reaktionserschei=
    nungen der neurotishen Erkrankungen. Der sonstige Druck der
    Kultur zeitigt zwar keine pathologische, Folgen, äußert sich aber in
    Charakterverbildungen und in der steten Bereitschaft der gehemmten
    Triebe, bei passender Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen.
    Wer so genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu rea-
    gieren, die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt,
    psychologisch verstanden, über seine Mittel und darf objektiv als
    Heuchler bezeichnet werden, gleichgiltig ob ibm diese Differenz klar
    bewußt worden ist oder nicht. Es ist unleugbar, daß unsere gegen-
    wirtige Kultur die Ausbildung dieser Art von Heuchelei in außer=
    ordentlihem Umfange begünstigt. Man könnte die Behauptung wagen,
    sie sei auf solcher Heuchelei aufgebaut und müßte sich tiefgreifende
    Abänderungen gefallen lassen, wenn es die Menschen unternehmen
    würden, der psydologishen Wahrheit nachzuleben. Es gibt also
    unglei mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen, ja
    man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses Maß von
    Kulturheuchelei nicht zur Aufrechthaltung der Kultur unerlaBlich
    sei, weil die bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden
    Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zureichen würde. Ander=
    seits bietet die Aufrechthaltung der Kultur auch auf so bedenklicher
    Grundlage die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weiter=
    pie Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur anzue
    ahnen.

    Den bisherigen Erôrterungen entnehmen wir bereits den einen
    Trost, daß unsere Krånkung und schmerzliche Enttäuschung wegen
    des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbiirger in diesem Kriege
    unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns
    gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie
    wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs
    von ihnen glaubten, Daß die menschlichen GroBindividuen, die Vol»
    ker und Staaten, die sittlihen Beschränkungen gegeneinander fallen
    ließen, wurde ihnen zur begreiflihen Anregung, sich für eine Weile
    dem bestehenden Drucke der Kultur zu entziehen und ihren zurük-
    gehaltenen Trieben vorübergehend Befriedigung zu gönnen. Dabei
    geschah ihrer relativen Sittlichkeit innerhalb des eigenen Volkstums
    wahrscheinlich kein Abbruch,

    Wir können uns aber das Verständnis der Veränderung, die
    der Krieg an unseren früheren Kompatrioten zeigt, noch vertiefen
    und empfangen dabei eine Warnung, kein Unrecht an ihnen zu be=
    gehen. Seelische Entwicklungen besitzen nämlich eine Eigentūmlich=
    keit, welche sich bei keinem anderen Entwicklungsvorgang mehr vor=
    findet. Wenn ein Dorf zur Stadt, ein Kind zum Mann heranwádist,
    so gehen dabei Dorf und Kind in Stadt und Mann unter. Nur die
    Erinnerung kann die alten Züge in das neue Bild einzeichnen, in
    Wirklichkeit sind die alten Materialien oder Formen beseitigt und

  • S.

    10 | Sigm. Freud

    durch neue ersetzt worden. Anders geht es bei einer seelischen Ent-
    wicklung zu. Man kann den nicht zu vergleichenden Sachverhalt
    nicht anders beschreiben als durch die Behauptung, daß jede frühere
    Entwiddungsstufe neben der späteren, die aus ihr geworden ist,
    erhalten bleibt, die Sukzession bedingt eine Koexistenz mit, obwohl
    es doch dieselben Materialien sind, an denen die ganze Reihenfolge
    von Veränderungen abgelaufen ist. Der frühere seelische Zustand
    mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit be=
    stehen, daß er eines Tages wiederum die AuBerungsform der seeli=
    schen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle spá-
    teren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären.
    Diese außerordentliche Plastizität der seelishen Entwicklungen ist in
    ihrer Richtung nicht unbeschränkt, man kann sie als eine besondere
    Fähigkeit zur Rückbildung — Regression — bezeichnen, denn es
    kommt wohl vor, daß eine spätere und höhere Entwicklungsstufe,
    die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die
    primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden, das
    primitive Seelische ist im vollsten Sinne unverganglich.

    Die sogenannten Geisteskrankheiten müssen beim Laien den
    Eindruck hervorrufen, daß das Geistes» und Seelenleben der Zer-
    störung anheimgefallen sei. In Wirklichkeit betrifft die Zerstörung
    nur spätere Erwerbungen und Entwicklungen. Das Wesen der
    Geisteskrankheit besteht in der Rückkehr zu früheren Zuständen des
    Affektlebens und der Funktion. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die
    Plastizität des Seelenlebens gibt der Schlafzustand, den wir allnächtlich
    anstreben. Seitdem wir auch tolle und verworrene Träume zu über=
    setzen verstehen, wissen wir, daß wir mit jedem Einschlafen unsere
    mühsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von uns werfen —
    um es am Morgen wieder anzutun. Diese Entblößung ist natürlich
    ungefährlich, weil wir durch den Schlafzustand gelähmt, zur Inakti-
    vität verurteilt sind. Nur der Traum kann von der Regression
    unseres Gefühllebens auf eine der frühesten Entwicklungsstufen
    Kunde geben. So ist es z. B. bemerkenswert, daß alle unsere Träume
    von rein egoistishen Motiven beherrscht werden. Einer meiner eng»
    listen Freunde vertrat einmal diesen Satz vor einer wissenschaft=
    lichen Versammlung in Amerika, worauf ihm eine anwesende Dame
    die Bemerkung machte, das möge vielleicht für Österreich richtig sein,
    aber sie dürfe von sich und ihren Freunden behaupten, daß sie auch
    noch im Traume altruistisch fühlen. Mein Freund, obwohl selbst ein
    Angehöriger der englischen Rasse, müßte auf Grund seiner eigenen
    Erfahrungen in der Traumanalyse der Dame energisch widersprechen :
    Im Traume sei auch die edie Amerikanerin ebenso egoistisch wie
    der Österreicher,

    Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher unsere
    Kultureignung beruht, durch Einwirkungen des Lebens — dauernd
    oder zeitweilig — rückgängig gemacht werden. Ohne Zweifel gehören
    die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildung

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 11

    erzeugen können, und darum brauchen wir nicht allen jenen, die sich
    gegenwärtig unkulturell benehmen, die Kultureignung abzusprechen,
    und dürfen erwarten, daß sich ihre Triebveredlung in ruhigeren -
    Zeiten wieder herstellen wird.

    Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei unseren
    Weltmitbürgern nicht weniger überrascht und geschreckt als das so
    schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe. Ich
    meine die Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen zeigt,
    ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argus
    mente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Be=
    hauptungen. Dies ergibt freilich ein trauriges Bild, und ich will aus=
    drücklich betonen, daß ich keineswegs als verblendeter Parteigänger
    alle intellektuelle. Verfehlungen nur auf einer der beiden Seiten
    finde. Allein, diese Erscheinung ist noch leichter zu erklären und weit
    weniger bedenklich als die vorhin gewürdigte. Menschenkenner und
    Philosophen haben uns längst belehrt, daß wir Unrecht daran tun,
    unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Ab=
    hängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen, Unser Intellekt könne
    nur verläßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühls-
    regungen entriickt sei; im gegenteiligen Falle benehme er sich ein-
    fadi wie ein Instrument zu Handen eines Willens und liefere das
    Resultat, das ihm von diesem aufgetragen sei. Logische Argumente
    seien also ohnmádtig gegen affektive Interessen, und darum sei das
    Streiten mit Gründen, die na Fals taffs Wort so gemein sind
    wie Brombeeren, in der Welt der Interessen so unfruchtbar. Die
    psydioanalytishe Erfahrung hat diese Behauptung womöglich noch
    unterstrichen. Sie kann alle Tage zeigen, daB sich die scharfsinnigsten
    Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald
    die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet,
    aber auch alles Verständnis wieder erlangen, wenn dieser Wider=
    stand überwunden ist. Die logische Verblendung, die dieser Krieg
    oft gerade bei den besten unserer Mitbiirger hervorgezaubert hat,
    ist also ein sekundires Phänomen, eine boe der Gefiihlserregung,
    und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu verschwinden.

    Wenn wir solcher Art unsere uns entfremdeten Mitbürger
    wieder verstehen, werden wir die Enttäuschung, die uns die GroB=
    individuen der Menschheit, die-Vólker, bereitet haben, um vieles
    leichter ertragen, denn an diese dürfen wir nur weit bescheidenere
    Ansprüche stellen. Dieselben wiederholen vielleicht die Entwicklung
    der Individuen und treten uns heute noch auf sehr primitiven Stufen
    der Organisation, der Bildung höherer Einheiten, entgegen. Dem
    entsprechend ist das erziehlihe Moment des äußeren Zwanges zur
    Sittlichkeit, welches wir beim Einzelnen so wirksam fanden, bei ihnen
    noch kaum nachweisbar, Wir hatten zwar gehofft, daß die grof-
    artige, durch Verkehr und Produktion hergestellte Interessengemein=
    schaft den Anfang eines solchen Zwanges ergeben werde, allein es
    scheint, die Völker gehorchen ihren edens STER derzeit weit mehr

  • S.

    12 Sigm. Freud

    als ihren Interessen. Sie bedienen sich höchstens der Interessen, um
    die Leidenschaften zu rationalisieren, sie schieben ihre Interessen
    vor, um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können,
    Warum die Vélkerindividuen einander eigentlich geringschätzen,
    hassen, verabsheuen, und zwar auch in Friedenszeiten, und jede
    Nation die andere, das ist freilich ratselhafi. Ih weiß es nicht zu
    sagen. Es ist in diesem Falle gerade so, als ob sich alle sittlichen
    Erwerbungen der Einzelnen auslóschten, wenn man eine Mehrheit
    oder gar Millionen Menschen zusammennimmt, und nur die primi=
    tivsten, ältesten und rohesten, seelischen Einstellungen übrig blieben,
    An diesen bedauerlihen Verhältnissen werden vielleicht erst späte
    Entwicklungen etwas ändern können. Aber etwas mehr Wahrhaftig=
    keit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Beziehungen der Menschen
    zueinander und zwischen ihnen und den sie Regierenden dürfte auch
    für diese Umwandlung die Wege ebnen.

    IL Unser Verhältnis zum Tode.

    Das zweite Moment, von dem id es ableite, daD wir uns so
    befremdet fühlen in dieser einst so schönen und trauten Welt, ist
    die Störung des bisher von uns festgehaltenen Verhältnisses zum
    Tode.

    Dies Verhältnis war kein aufrichtiges. Wenn man uns an-
    hörte, so waren wir natürlich bereit zu vertreten, daß der Tod
    der notwendige Ausgang alles Lebens sei, daß jeder von uns der
    Natur einen Tod sdulde und vorbereitet sein müsse, die Schuld
    zu bezahlen, kurz, daß der Tod natürlich sei, unableugbar und un-
    vermeidlich. In Wirklichkeit pflegten wir uns aber zu benehmen, als
    ob es anders wire. Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt,
    den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren.
    Wir haben versucht, ihn totzusdiweigen; wir besitzen ja auch das
    Sprichwort: man denke an etwas wie an den Tod. Wie an den
    eigenen natürlich. Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und so
    oft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, daß wir
    eigentlich als Zuschauer weiter dabei bleiben. So konnte in der
    psychoanalytishen Schule der Ausspruch gewagt werden: Im
    Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe
    ist: Im Unbewubten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit
    überzeugt.

    Was den Tod eines anderen betrifft, so wird der Kultur=
    mensch es sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu sprechen,
    wenn der zum Tode Bestimmte es hören kann. Nur Kinder setzen
    sich über diese Beschränkung hinweg, sie drohen einander unge-
    scheut mit den Chancen des Sterbens und bringen es auch zustande,
    einer keleten Person dergleichen ins Gesicht zu sagen, wie z. B.:
    Liebe Mama, wenn du leider gestorben sein wirst, werde ich dies

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 18

    oder jenes, Der erwachsene Kultivierte wird den Tod eines anderen
    auch nicht gerne in seine Gedanken einsetzen, ohne sich hart oder
    böse zu erscheinen; es sei denn, daß er berufsmäßig als Arzt,
    Advokat u. dgl. mit dem Tode zu tun habe. Am wenigsten wird
    er sich gestatten, an den Tod des anderen zu denken, wenn mit
    diesem Ereignis ein Gewinn an Freiheit, Besitz, Stellung verbunden
    ist. Natürlich lassen sich Todesfälle durch dies unser Zartgefühl
    nicht zurüdkhalten; wenn sie sich ereignet haben, sind wir jedesmal
    tief ergriffen und wie in unseren Erwartungen erschüttert. Wir be=
    tonen regelmäßig. die zufällige Veranlassung des Todes, den Unfall,
    die Erkrankung, die Infektion, das hohe Alter, und verraten so
    unser Bestreben, den Tod von einer Notwendigkeit zu einer 2
    fålligkeit herabzudrücken. Eine Håufung von Todesfållen erscheint
    uns als etwas überaus Sdredilihes. Dem Verstorbenen selbst
    bringen wir ein besonderes Verhalten entgegen, fast wie eine Be-
    wunderung für einen, der etwas sehr Schwieriges zustande gebracht hat.
    Wir stellen die Kritik gegen ihn ein, sehen ihm sein etwaiges Un»
    recht nach, geben den Befehl aus: De mortuis nil nisi bene, und
    finden es gerechtfertigt, daß man ihm in der Leichenrede und auf dem
    Grabstein das Vorteilhafteste nachrühmt. Die Rücksicht auf den
    Toten, deren er doch nicht mehr bedarf, steht uns über der Wahr=
    heit, den meisten von uns gewiß auch über der Rücksicht für den
    Lebenden,

    Diese kulturell-konventionelle Einstellung gegen den Tod er-
    gånzt sich nun durch unseren völligen Zusammenbruch, wenn das
    Sterben eine der uns nahestehenden Personen, einen Eltern= oder
    Gattenteil, ein Geschwister, Kind oder teuren Freund getroffen hat.
    Wir begraben mit ihm unsere Hoffnungen, Ansprüche, Genüsse,
    lassen uns nicht trösten und weigern uns, den Verlorenen zu er-
    setzen. Wir benehmen uns dann wie eine Art von Asra, weldie
    mitsterben, wenn die sterben, die sie lieben.

    Dies unser Verhåltnis zum Tode hat aber eine starke Wir-
    kung auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert an Interesse,
    wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben
    selbst, nicht gewagt werden darf. Es wird so schal, gehaltlos wie
    etwa ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vorneherein fest=
    steht, daß nichts vorfallen darf, zum Unterschied von einer konti-
    nentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide Partner stets der ernsten
    Konsequenzen eingedenk bleiben müssen. Unsere Gefühlsbindungen,
    die unertragliche Intensität unserer Trauer, machen uns abgeneigt,
    fir uns und die unserigen Gefahren aufzusuchen. Wir getrauen
    uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht zu ziehen,
    die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich sind wie Flugversuche, Ex=
    peditionen in ferne Leader Experimente mit explodierbaren Sub=
    stanzen. Uns låhmt dabei das Bedenken, wer der Mutter den Sohn,
    der Gattin den Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn
    ein Unglück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der Lebens=

  • S.

    14 Sigm. Freud

    redinung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Aus»
    schlieBungen im Gefolge. Und doch hat der Wahlspruch der Hansa
    gelautet: Navigare necesse est, vivere non necesse! (Seefahren
    muß man, leben muß man nicht.)

    Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt
    der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen fiir die
    EinbuBe des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben
    verstehen, ja die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten.
    Dort allein erfüllt sich uns auch die Bedingung, unter welcher wir uns
    mit dem Tod versóhnen könnten, wenn wir nämlich hinter allen
    Wedselfållen des Lebens noch ein unantastbares Leben übrig be-
    hielten. Es ist doch zu traurig, daß es im Leben zugehen kann wie
    im Schachspiel, wo ein falscher Zug uns zwingen kann, die Partie
    verloren zu geben, mit dem Unterschied aber, daß wir keine zweite,
    keine Revanchepartie beginnen können. Auf dem Gebiete der Fiktion
    finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen. Wir
    sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben
    ihn aber doch und sind bereit, ebenso ungeshádigt ein zweites Mal
    mit einem anderen Helden zu sterben.

    Es ist evident, daß der Krieg diese konventionelle Behandlung
    des Todes hinwegfegen muß. Der Tod 1806 sich jetzt nicht mehr
    verleugnen; man muß an ihn glauben. Die Menschen sterben wirk-
    lich, auch nicht mehr einzeln, sondern viele, oft Zehntausende an
    einem Tag. Er ist auch kein Zufall mehr. Es scheint freilich noch
    zufällig, ob diese Kugel den einen trifft oder den andern; aber diesen
    anderen mag leicht eine zweite Kugel treffen, die Häufung macht
    dem Eindruck des Zufálligen ein Ende. Das Leben ist freilich
    wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wieder be-
    kommen,

    Man müßte hier eine Scheidung in zwei Gruppen vornehmen,
    diejenigen, die selbst im Kampf ihr Leben preisgeben, trennen von
    den anderen, die zu Hause geblieben sind und nur zu erwarten
    haben, einen ihrer Lieben an den Tod durch Verletzung, Krankheit
    oder Infektion zu verlieren. Es wire gewiß sehr interessant, die
    Veränderungen in der Psychologie der Kämpfer zu studieren, aber
    ich weiß zu wenig darüber. Wir müssen uns an die zweite Gruppe
    halten, zu der wir selbst gehören. Ich sagte schon, daß ich meine,
    die Me A und die Láhmung unserer Leistungsfahigkeit, unter
    denen wir leiden, seien wesentlich mitbestimmt durch den Umstand,
    dab wir unser bisheriges Verhältnis zum Tode nicht aufrecht halten
    kénnen und ein neues noch nicht gefunden haben. Vielleicht hilft es
    uns dazu, wenn wir unsere psychologische Untersuchung auf zwei
    andere Beziehungen zum Tode richten, auf jene, die wir dem Ur=
    menschen, ‚dem Menschen der Vorzeit zuschreiben dürfen, und jene
    andere,‘ die in jedem von uns noch erhalten ist, aber sich unsicht=

    bar für unser Bewußtsein in tieferen Schichten unseres Seelenlebens
    verbirgt.

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 15

    Wie sich der Mensch der Vorzeit gegen den Tod verhalten,
    wissen wir natürlich nur durch Rückschlüsse und Konstruktionen,
    aber ich meine, daß diese Mittel uns ziemlich vertrauenswürdige
    Auskünfte ergeben haben.

    Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum
    Tode eingestellt, Gar nicht einheitlich, vielmehr recht widerspruchs~
    voll. Er hat einerseits den Tod ernst genommen, ihn als Auf»
    hebung des Lebens anerkannt und sich seiner in diesem Sinne
    bedient, anderseits aber auch den Tod geleugnet, ihn zu nichts
    herabgedriickt. Dieser Widerspruch wurde durch den Umstand er-
    möglicht, daß er zum Tode des anderen, des Fremden, des Feindes
    eine radikal andere Stellung einnahm als zu seinem eigenen. Der
    Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des
    Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbei-
    zuführen. Er war gewiß ein sehr leidenschaftlihes Wesen, graus
    samer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gerne und wie
    selbstverständlich. Den Instinkt, der andere Tiere davon abhalten
    soll, Wesen der gleichen Art zu töten und zu verzehren, brauchen
    wir ihm nicht zuzuschreiben,

    Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde
    erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als
    Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Vólker=
    morden. Das dunkle Schuldgefühl, unter dem die Menschheit seit
    Urzeiten steht, das sich in manchen Religionen zur Annahme einer
    Urschuld, einer Erbstinde, verdichtet hat, ist wahrscheinlich der
    Ausdruck einer Blutschuld, mit welcher sich die urzeitlihe Mensch«
    heit beladen hat. Ich habe in meinem Buche > Totem und Tabus (1913),
    den Winken von W. Robertson Smith, Atkinson und Ch.
    Darwin folgend, die Natur dieser alten Schuld erraten wollen,
    und meine, daß noch die heutige christliche Lehre uns den Rückschluß
    auf sie ermöglicht. Wenn Gottes Sohn sein Leben opfern mußte,
    um die Menschheit von der Erbstinde zu erlösen, so muß nach der
    Regel der Talion, der Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde
    eine Tötung, ein Mord gewesen sein. Nur dies konnte zu seiner
    Sühne das Opfer eines Lebens erfordern. Und wenn die Erbstinde
    ein Verschulden gegen Gott-Vater war, so muß das älteste Ver=
    breden der Menschheit ein Vatermord gewesen sein, die Tötung
    des Urvaters der primitiven Menschenhorde, dessen Erinnerungs=
    bild später zur Gottheit verklårt wurde!,

    er eigene Tod war dem Urmenschen gewiß ebenso unvor-
    stelfbar und unwirklich, wie heute noch jedem von uns. Es ergab
    sich aber für ihn ein Fall, in dem die beiden gegensatzlihen Ein»
    stellungen zum Tode zusammenstieBen und in Konflikt miteinander
    gerieten, und dieser Fall wurde sehr bedeutsam und reich an fern=
    wirkenden Folgen. Er ereignete sich, wenn der Urmensch einen

    ‎Vgl. diese Zeitschr. Bd. II. 1913. (Die infantile Wiederkehr des Totemismus.)‏ ג

  • S.

    16 Sigm. Freud

    seiner Angehörigen sterben sah, sein Weib, sein Kind, seinen Freund,
    die er sicherlich ähnlich liebte wie wir die unseren, denn die Liebe
    kann nicht um vieles jünger sein als die Mordlust. Da mußte er
    in seinem Schmerz die Erfahrung machen, daß man auch selbst
    sterben könne, und sein ganzes Wesen empörte sich gegen dieses
    Zugeständnis, jeder dieser Lieben war ja doch ein Stück seines
    eigenen geliebten Ichs. Anderseits war ihm ein solcher Tod doch auch
    recht, denn in jeder der geliebten Personen stak auch ein Stück
    Fremdheit. Das Gesetz der Gefiihlsambivalenz, das heute noch
    unsere Gefiihlsbeziehungen zu den von uns geliebtesten Personen
    beherrscht, galt in Urzeiten gewiß noch uneingeshránkter. Somit
    waren diese geliebten Verstorbenen doch auch Fremde und Feinde
    gewesen, die einen Anteil von feindseligen Gefiihlen bei ihm hervor=
    gerufen hatten?
    Die Philosophen haben behauptet, das intellektuelle Råtsel,
    welches das Bild des Todes dem Urmenschen aufgab, habe sein
    Nachdenken erzwungen und sei der Ausgang jeder Spekulation
    geworden. Ih glaube, die Philosophen denken da zu — Stile
    nehmen zu wenig Rücksicht auf die primär wirksamen Motive. Ich
    möchte darum die obige Behauptung einschränken und korrigieren:
    an der Leiche des erschlagenen Feindes wird der Urmensch trium=
    hiert haben, ohne einen Anlaß zu finden, sich den Kopf über die
    ätsel des Lebens und des Todes zu zerbrechen. Nicht das intellek=
    tuelle Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Gefühlskonflikt
    beim Tode geliebter und dabei doch auch fremder und gehaßter
    Personen hat die Forschung der Menschen entbunden. Aus diesem
    Gefühlskonflikt wurde zunächst die Psychologie geboren. Der Mensch
    konnte den Tod nicht mehr von sich ferne halten, da er ihn in dem
    Schmerz um den Verstorbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn
    doch nicht zugestehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte.
    So ließ er sich auf Kompromisse ein, gab den Tod auch für sich zu,
    bestritt ihm aber die Bedeutung der Lebensvernichtung, wofür ihm
    beim Tode des Feindes jedes Motiv gefehlt hatte. An der Leiche
    der geliebten Person ersann er die Geister, und sein Sdwuldbewuft-
    sein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte,
    daß diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden, vor denen
    man sich_ängstigen mußte, Die Veränderungen des Todes legten
    ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib und in eine —
    ursprünglich mehrere — Seelen nahe; in solcher Weise ging sein
    ges dem ZersetzungsprozeB, den der Tod einleitet, parallel.
    Die fortdauernde Erinnerung an den Verstorbenen wurde 6
    Grundlage der Annahme anderer Existenzformen, gab ihm die Idee
    eines Fortlebens nach dem anscheinenden Tode.
    Diese späteren Existenzen waren anfänglich nur Anhångsel

    ! Siehe diese Zeitschr. Bd. I. 1912, Tabu und Ambivalenz. Und »Totem
    und Tabus. ⑧

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 17

    an die durch den Tod abgeschlossene, schattenhaft, inhaltsleer und
    bis in späte Zeiten hinauf geringgeshátzt; sie trugen noch den
    Charakter kümmerlicher Auskünfte. Wir erinnern, was die Seele
    des Adilleus dem Odysseus erwidert:

    »Denn dich Lebenden einst verehrten wir, gleich den Göttern,

    Argos Sohn’; und jetzo gebietest du mächtig den Geistern,

    Wohnend allhier. Drum la⑥ didi den Tod nicht reuen, Adhilleus.

    Also id selbst; und sogleich antwortet" er, solches erwidernd:

    Nicht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!

    Lieber ja wollt’ ich das Feld als Tagelóhner bestellen

    Einem dúrftigen Mann, ohn” Erb’ und eigenen Wohlstand,

    Als die sämtliche Schaar der geshwundenen Toten beherrschen.«
    (Odyssee XI v. 484—491)

    Oder in der krafivollen, bitter~parodistischen Fassung von
    H. Heine:
    »Der kleinste lebendige Philister
    Zu Stuckert am Neckar
    Viel glücklicher ist er
    Als ich, der Pelide, der tote Held,
    Der Schattenfürst in der Unterwelt«,

    Erst später brachten es die Religionen zustande, diese Nach~
    existenz für die wertvollere, vollgültige auszugeben und das durch
    den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herab=
    zudrücken. Es war dann nur konsequent, wenn man aud das
    Leben in die Vergangenheit verlängerte, die früheren Existenzen,
    die Seelenwanderung und Wiedergeburt ersann, alles in der Absicht,
    dem Tod seine Bedeutung als Aufhebung des Lebens zu rauben.
    So frühzeitig hat die Verleugnung des Todes, die wir als konven«
    tionell-kulturell bezeichnet haben, ihren Anfang genommen.

    ° An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die
    Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel
    des menschlichen Schuldbewußtseins, sondern auch die ersten ethischen
    Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des erwachenden
    Gewissens lautete: Du sollst nicht töten. Es war als die Reaktion
    gegen die hinter der Trauer versteckte Haßbefriedigung am geliebten

    oten gewonnen worden, und wurde allmählich auf den ungeliebten
    Fremden und endlich auch auf den Feind ausgedehnt.

    An letzterer Stelle wird es vom Kulturmenschen nicht mehr
    verspürt. Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine Entscheidung
    gefunden hat, wird jeder der siegreihen Kämpfer froh in sein Heim
    zurückkehren, zu seinem Weib und Kindern, unverweilt und un=
    gestört durch Gedanken an die Feinde, die er im Nahekampf oder
    durch die fernwirkende Waffe getötet hat. Es ist bemerkenswert, daß
    sich die primitiven Volker, die noch auf der Erde leben und dem
    Urmenschen gewiß näher stehen als wir, in diesem Punkte anders
    verhalten — oder verhalten haben, so lange sie nod: nicht den

    Imago IV/1 2

  • S.

    18 Sigm. Freud

    Einfluß unserer Kultur erfahren hatten. Der Wilde 一 Australier,
    Buschmann, Feuerländer — ist keineswegs ein reueloser Mörder;
    wenn er als Sieger vom Kriegspfade heimkehrt, darf er sein Dorf
    nicht betreten und sein Weib nicht berühren, ehe er seine kriegerischen
    Mordtaten durch oft langwierige und mühselige Bußen gesühnt hat,
    Natürlich liegt die Erklärung aus seinem Aberglauben пабе, der
    Wilde fürchtet noch die Geisterrache der Erschlagenen. Aber die
    Geister der erschlagenen Feinde sind nichts anderes als der Ausdruck
    seines bösen Gewissens ob seiner Blutschuld; hinter diesem Aber=
    glauben verbirgt sich ein Stück ethischer Feinfühligkeit, welches uns
    Kulturmenschen verloren gegangen ist".

    Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Berührung
    mit Bösem und Gemeinem ferne wissen möchten; werden gewiß
    nicht versäumen, aus der Frühzeitigkeit und Eindringlichkeit des
    Mordverbotes befriedigende Schlüsse zu ziehen auf die Stärke ethischer
    Regungen, welche uns eingepflanzt sein müssen. Leider beweist dieses
    Argument noch mehr für das Gegenteil. Ein so starkes Verbot
    kann sich nur gegen einen ebenso starken Impuls richten. Was keines
    Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten?, es schließt
    sich von selbst aus. Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst
    nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen
    Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie
    vielleicht noch uns selbst, im Blute lag. Die ethischen Strebungen der
    Menschheit, an deren Stärke und Bedeutsamkeit man nicht zu nörgeln
    braucht, sind ein Erwerb der Menschengeschichte, in leider sehr
    wechselndem Ausmaße sind sie dann zum ererbten Besitz der heute
    lebenden Menschen geworden.

    Verlassen wir nun den Urmenschen und wenden wir uns dem
    Unbewußten im eigenen Seelenleben zu. Wir fußen hier ganz auf
    der Untersuchungsmethode der Psychoanalyse, der einzigen, die in
    solche Tiefen reicht. Wir fragen: wie verhält sich unser Unbewußtes
    zum Problem des Todes? Die Antwort muß lauten: fast genau so
    wie der Urmensch, In dieser wie in vielen anderen Hinsichten lebt
    der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem Unbewußten fort.
    Also unser Unbewußtes glaubt nicht an den eigenen Tod, es ge-
    bårdet sich wie unsterblich. Was wir unser »UnbewuBtes« heißen,
    die tiefsten, aus dele en bestehenden Schichten unserer Seele,
    kennt „überhaupt nichts Negatives, keine Verneinung — Gegensätze
    fallen in ihm zusammen — und kennt darum auch nicht den eigenen
    Tod, dem wir nur einen negativen Inhalt geben können. Dem Todes-
    glauben kommt also nichts Triebhaftes in uns entgegen. Vielleicht
    ist dies sogar das Geheimnis des Heldentums. Die rationelle Be=
    gründung des Heldentums ruht auf dem Urteil, daß das eigene
    Leben nicht so wertvoll sein kann wie gewisse abstrakte und all=

    ! S, diese Zeitschr., Bd. II. I. c.
    ? Vgl. die glänzende Argumentation von Frazer in dieser Zeitschr., Bd. III.

    р. 377

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod 19

    gemeine Güter, Aber ich meine, häufiger dürfte das instinktive und
    impulsive Heldentum sein, welches von solcher Motivierung absieht
    und einfach nach der Zusicherung des Anzengruber’schen Stein=
    klopferhanns: Es kann dir nix g'scheh'n, den Gefahren trotzt.
    Oder jene Motivierung dient nur dazu, die Bedenken wegzuräumen,
    welche die dem Unbewußten entsprechende heldenhafte Reaktion
    hintanhalten können. Die Todesangst, unter deren Herrschaft wir
    häufiger stehen, als wir selbst wissen, ist dagegen etwas Sekundäres,
    und meist aus Schuldbewußtsein hervorgegangen.

    Anderseits anerkennen wir den Tod für Fremde und
    Feinde und verhängen ihn über sie ebenso bereitwillig und un=
    bedenklich wie der Lik Hier zeigt sich freilich ein Lines dici
    den man in der Wirklichkeit für entscheidend erklären wird. Unser
    UnbewuBtes führt die Tötung nicht aus, es denkt und wünscht sie
    bloß. Aber es wire unrecht, diese psychische Realität im Ver-
    gleiche zur faktischen so ganz zu unterschätzen. Sie ist bedeutsam
    und folgenschwer genug. Wir beseitigen in unseren unbewuBten
    Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die
    uns beleidigt und geschädigt haben. Das »Но ihn der Teufel«, das
    sich so häufig in scherzendem Unmut über unsere Lippen drängt,
    und das eigentlich sagen will: Hol’ ihn der Tod, in unserem Un=
    bewußten ist es ernsthafter, kraftvoller Todeswunsd. Ja, unser Un=
    bewuBtes mordet selbst für Kleinigkeiten, wie die alte athenische
    Gesetzgebung des Drakon kennt es fiir Verbrechen keine andere
    Strafe als den Tod, und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn
    jede Schädigung unseres allmächtigen und selbstherrlichen Ichs ist im
    Grunde ein crimen laesae majestatis.

    So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbe=
    wubten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte
    von Mórdern. Es ist ein Glud, daß alle diese Wünsche nicht die
    Kraft besitzen, die ihnen die Menschen in Urzeiten noch zutrauten
    in dem Kreuzfeuer von gegenseitigen Verwiinschungen wire die
    Menschheit längst zugrunde gegangen, die besten und weisesten
    der Männer darunter wie die schönsten und holdesten der Frauen.

    Mit Aufstellungen wie diese findet die Psychoanalyse bei den
    Laien meist keinen Glauben. Man weist sie als Verleumdungen zurück,
    welche gegen die Versicherungen des Bewußtseins nicht in Betracht
    kommen, und übersieht geschickt die geringen Anzeichen, durch welche
    sich auch das Unbewußte dem Bewußtsein zu verraten pflegt. Es
    ist darum am Platze darauf hinzuweisen, daß viele Denker, die nicht
    von der Psychoanalyse beeinflußt sein konnten, die Bereitschaft unserer
    stillen Gedanken, mit Hinwegsetzung über das Mordverbot zu be=
    seitigen, was uns im Wege steht, deutlich genug angeklagt haben.
    Ich wähle hiefür ein einziges berühmt gewordenes Beispiel an Stelle
    vieler anderer:

    1 Vgl. über »Allmadıt der Gedanken« in dieser Zeitschr., Bd. III. 1913.
    2

  • S.

    20 Sigm. Freud

    Im »Père Goriot« spielt Balzac auf eine Stelle in den Werken
    J. J. Rousseau's an, in welder dieser Autor den Leser fragt, was
    er wohl tun würde, wenn er — ohne Paris zu verlassen und natür=
    lich ohne entdeckt zu werden 一 einen alten Mandarin in Peking
    durch einen bloßen Willensakt töten könnte, dessen Ableben ihm
    einen großen Vorteil einbringen müßte. Er läßt erraten, daß er das
    Leben dieses Würdenträgers für nicht sehr gesichert hält. »Tuer son
    mandarin< ist dann sprihwårtli worden für diese geheime Bereitschaft
    auch der heutigen Menschen,

    Es gibt auch eine ganze Anzahl von zynischen Witzen und
    Anekdoten, welche nach derselben Richtung Zeugnis ablegen, wie
    z. B. die dem Ehemanne zugeschriebene Äußerung: Wenn einer von
    uns beiden stirbt, übersiedle ich nach Paris. Solche zynishe Witze
    wären nicht möglich, wenn sie nicht eine verleugnete Wahrheit mit=
    zuteilen hätten, zu der man sich nicht bekennen darf, wenn sie ernst=
    haft und unverhüllt ausgesprochen wird. Im Scherz darf man be«
    kanntlich sogar die Wahrheit sagen.

    Wie für den Urmenschen, so ergibt sich auch für unser Un-
    bewußtes ein Fall, in dem die beiden entgegengesetzten Einstellungen
    gegen den Tod, die eine, welche ihn als Lebensvernichtung anerkennt,
    und die andere, die ihn als unwirklich verleugnet, zusammenstoBen
    und in Konflikt geraten. Und dieser Fall ist der námlihe wie in
    der Urzeit, der Tod oder die Todesgefahr eines unserer Lieben,
    eines Eltern= oder Gattenteils, eines Geshwisters, Kindes oder lieben
    Freundes, Diese Lieben sind uns einerseits ein innerer Besitz, Be=
    standteile unseres eigenen Idis, anderseits aber auch teilweise Fremde,
    ja Feinde, Den zärtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen
    hängt mit Ausnahme ganz weniger Situationen ein Stückchen Feind-
    seligkeit an, welches den unbewußten Todeswunsch anregen kann.
    Aus diesem Ambivalenzkonflikt geht aber nicht wie dereinst die
    Seelenlehre und die Ethik hervor, sondern die Neurose, die uns tiefe
    Einblicke auch in das normale Seelenleben gestattet. Wie häufig
    haben die psychoanalytisch behandelnden Ärzte mit dem Symptom
    der überzártlihen Sorge um das Wohl der Angehörigen oder mit
    völlig unbegründeten Selbstvorwürfen nach dem Tode einer geliebten
    Person zu tun gehabt. Das Studium dieser Vorfälle hat ihnen über
    die Verbreitung und Bedeutung der unbewußten Todeswünsche
    keinen Zweifel gelassen.

    Der Laie empfindet ein außerordentliches Grauen vor dieser
    Gefühlsmöglichkeit und nimmt diese Abneigung als fegitimen Grund
    zum Unglauben gegen die Behauptungen der Psychoanalyse. Ich
    meine mit Unrecht. És wird keine Herabsetzung unseres Liebeslebens
    beabsichtigt, und es liegt auch keine solche vor. Unserem Verständnis
    wie unserer Empfindung liegt es freilich ferne, Liebe und Haß in
    solcher Weise miteinander zu verkoppeln, aber indem die Natur
    mit diesem Gegensatzpaar arbeitet, bringt sie es zustande, die Liebe
    immer wach und frisch zu erhalten, um sie gegen den hinter ihr

  • S.

    Zeitgemäßes über Krieg und Tod い A = 如

    =

    %
    lauernden Haß zu versichern. Man darf sagen, die schönsten Ent= >

    faltungen unseres Liebeslebens danken wir der Reaktion gegen
    den feindseligen Impuls, den wir in unserer Brust verspiiren.

    Resümieren wir nun: unser Unbewuftes ist gegen die Vor=
    stellung des eigenen Todes ebenso unzugánglid, gegen den Fremden
    ebenso mordlustig, gegen die geliebte Person ebenso zwiespältig
    (ambivalent) wie der Mensch der Urzeit. Wie weit haben wir uns
    aber in der konventionell-kulturellen Einstellung gegen den Tod von
    diesem Urzustand entfernt!

    Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzweiung
    eingreift. Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und
    läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er
    zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht
    lauben können, er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren
    Tod man herbeiführen oder herbeiwiinschen soll; er råt uns, uns
    úber den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen. Der Krieg ist
    aber nicht abzuschaffen, solange die Existenzbedingungen der Völker
    so verschieden und die AbstoBungen unter ihnen so heftig sind, wird
    es Kriege geben müssen. Da erhebt sich denn die Frage: Sollen
    wir nicht diejenigen sein, die nachgeben und sich ihm anpassen?
    Sollen wir nicht zugestehen, daß wir mit unserer kulturellen Ein-
    stellung zum Tode psychologisch wieder einmal über unseren Stand
    gelebt haben, und vielmehr umkehren und die Wahrheit fatieren?
    Wäre es nicht besser, dem Tod den Platz in der Wirklichkeit und
    in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere
    unbewußte Einstellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unter=
    drückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren? Es scheine das keine
    Höherleistung zu sein, eher ein Rückschritt in manchen Stücken, eine
    Regression, aber es hat den Vorteil, der Wahrhaftigkeit mehr Rech=
    nung zu tragen und uns das Leben wieder erträgliher zu machen.
    Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht aller Lebenden.

    Die Illusion wird wertlos, wenn sie uns darin stört,
    Wir erinnern uns des alten Spruches:

    Si vis pacem, para bellum.
    (Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Krieg.)

    Es wire zeitgemäß ihn abzuåndern:
    Si vis vitam, para mortem,

    (Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.)

    “M

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    NY

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