S.
207
EINIGE PSYCHISCHE FOLGEN
DES ANATOMISCHEN GESCHLECHTS-
UNTERSCHIEDS
(1925)
Meine und meiner Schüler Arbeiten vertreten mit stetig
wachsender Entschiedenheit die Forderung, daß die Analyse
der Neurotiker auch die erste Kindheitsperiode, die Zeit der
Frühblüte des Sexuallebens, durchdringen müsse. Nur wenn
man die ersten Äußerungen der mitgebrachten Triebkonsti-
tution und die Wirkungen der frühesten Lebenseindrücke er-
forscht, kann man die Triebkräfte der späteren Neurose richtig
erkennen und ist gesichert gegen die Irrtümer, zu denen man
durch die Umbildungen und Überlagerungen der Reifezeit ver-
lockt würde. Diese Forderung ist nicht nur theoretisch be-
deutsam, sie hat auch praktische Wichtigkeit, denn sie scheidet
unsere Bemühungen von der Arbeit solcher Ärzte, die, nur
therapeutisch orientiert, sich eine Strecke weit analytischer
Methoden bedienen. Solch eine Frühzeitanalyse ist langwierig,
mühselig und stellt Ansprüche an Arzt und Patient, deren
Erfüllung die Praxis nicht immer entgegenkommt. Sie führt
S.
208
Einige psychische Folgen
ferner in Dunkelheiten, durch welche uns noch immer die
Wegweiser fehlen. Ja, ich meine, man darf den Analytikern
die Versicherung geben, daß ihrer wissenschaftlichen Arbeit die
Gefahr, mechanisiert und damit uninteressant zu werden, auch
für die nächsten Jahrzehnte nicht droht.
Im folgenden teile ich ein Ergebnis der analytischen For-
schung mit, das sehr wichtig wäre, wenn es sich als allgemein
gültig erweisen ließe. Warum schiebe ich die Veröffentlichung
nicht auf, bis mir eine reichere Erfahrung diesen Nachweis,
wenn er zu erbringen ist, geliefert hat? Weil in meinen Arbeits-
bedingungen eine Veränderung eingetreten ist, deren Folgen
ich nicht verleugnen kann. Früher einmal gehörte ich nicht zu
denen, die eine vermeintliche Neuheit nicht eine Weile bei
sich behalten können, bis sie Bekräftigung oder Berichtigung
gefunden hat. Die „,Traumdeutung" und das „,Bruchstück einer
Hysterieanalyse (der Fall Dora) sind, wenn nicht durch neun
Jahre nach dem Horazischen Rezept, so doch durch vier bis
fünf Jahre von mir unterdrückt worden, ehe ich sie der Öffent-
lichkeit preisgab. Aber damals dehnte sich die Zeit unabsehbar
vor mir aus oceans of time, wie ein liebenswürdiger Dichter
sagt und das Material strömte mir so reichlich zu, daß ich
mich der Erfahrungen kaum erwehren konnte. Auch war ich
der einzige Arbeiter auf einem neuem Gebiet, meine Zurück-
haltung brachte mir keine Gefahr und anderen keinen mög-
lichen Schaden.
Das ist nun alles anders geworden. Die Zeit vor mir ist
begrenzt, sie wird nicht mehr vollständig von der Arbeit
ausgenützt, die Gelegenheiten, neue Erfahrungen zu machen,
kommen also nicht so reichlich. Wenn ich etwas Neues zu
sehen glaube, bleibt es mir unsicher, ob ich die Bestätigung
abwarten kann. Auch ist alles bereits abgeschöpft, was an der
Oberfläche dahintrieb; das übrige muß in langsamer Bemühung
aus der Tiefe geholt werden. Endlich bin ich nicht mehr allein,
S.
des anatomischen Geschlechtsunterschieds
209
eine Schar von eifrigen Mitarbeitern ist bereit, sich auch das
Unfertige, unsicher Erkannte zunutze zu machen, ich darf
ihnen den Anteil der Arbeit überlassen, den ich sonst selbst
besorgt hätte. So fühle ich mich gerechtfertigt, diesmal etwas
mitzuteilen, was dringend der Nachprüfung bedarf, ehe es in
seinem Wert oder Unwert erkannt werden kann.
Wenn wir die ersten psychischen Gestaltungen des Sexual-
lebens beim Kinde untersuchten, nahmen wir regelmäßig das
männliche Kind, den kleinen Knaben, zum Objekt. Beim
kleinen Mädchen, meinten wir, müsse es ähnlich zugehen, aber
doch in irgendeiner Weise anders. An welcher Stelle des Ent-
wicklungsganges diese Verschiedenheit zu finden ist, das wollte
sich nicht klar ergeben.
Die Situation des Ödipuskomplexes ist die erste Station, die
wir beim Knaben mit Sicherheit erkennen. Sie ist uns leicht
verständlich, weil in ihr das Kind an demselben Objekt fest-
hält, das es bereits in der vorhergehenden Säuglings- und
Pflegeperiode mit seiner noch nicht genitalen Libido besetzt
hatte. Auch daß es dabei den Vater als störenden Rivalen
empfindet, den es beseitigen und ersetzen möchte, leitet sich
glatt aus den realen Verhältnissen ab. Daß die Ödipuseinstel-
lung des Knaben der phallischen Phase angehört und an der
Kastrationsangst, also am narziẞtischen Interesse für das Geni-
tale, zugrunde geht, habe ich an anderer Stelle¹ ausgeführt.
Eine Erschwerung des Verständnisses ergibt sich aus der Kom-
plikation, daß der Ödipuskomplex selbst beim Knaben doppel-
sinnig angelegt ist, aktiv und passiv, der bisexuellen Anlage
entsprechend. Der Knabe will auch als Liebesobjekt des Vaters
die Mutter ersetzen, was wir als feminine Einstellung be-
zeichnen.
An der Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Knaben
ist uns noch lange nicht alles klar. Wir kennen aus ihr eine
1) Der Untergang des Ödipuskomplexes. [Ges. Schriften, Bd. V.]
Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie
14
S.
Einige psychische Folgen
210
Identifizierung mit dem Vater zärtlicher Natur, welcher der
Sinn der Rivalität bei der Mutter noch abgeht. Ein anderes
Element dieser Vorzeit ist die, wie ich meine, nie ausbleibende
masturbatorische Betätigung am Genitale, die frühkindliche
Onanie, deren mehr oder minder gewalttätige Unterdrückung
von seiten der Pflegepersonen den Kastrationskomplex akti-
viert. Wir nehmen an, daß diese Onanie am Ödipuskomplex
hängt und die Abfuhr seiner Sexualerregung bedeutet. Ob
sie von Anfang an diese Beziehung hat oder nicht viel-
mehr spontan als Organbetätigung auftritt und erst später den
Anschluß an den Ödipuskomplex gewinnt, ist unsicher; die
letztere Möglichkeit ist die weitaus wahrscheinlichere. Fraglich
ist auch noch die Rolle des Bettnässens und seiner Abge-
wöhnung durch die Eingriffe der Erziehung. Wir bevorzugen
die einfache Synthese, das fortgesetzte Bettnässen sei der Er-
folg der Onanie, seine Unterdrückung werde vom Knaben wie
eine Hemmung der Genitaltätigkeit, also im Sinne einer Ka-
strationsdrohung, gewertet, aber ob wir damit jedesmal recht
haben, steht dahin. Endlich läßt uns die Analyse schattenhaft
erkennen, wie eine Belauschung des elterlichen Koitus in sehr
früher Kinderzeit die erste sexuelle Erregung setzen und durch
ihre nachträglichen Wirkungen der Ausgangspunkt für die
ganze Sexualentwicklung werden kann. Die Onanie sowie die
beiden Einstellungen des Ödipuskomplexes knüpfen späterhin
an den in der Folge gedeuteten Eindruck an. Allein wir können
nicht annehmen, daß solche Koitusbeobachtungen ein regel-
mäßiges Vorkommnis sind, und stoßen hier mit dem Problem
der,,Urphantasien“ zusammen. So vieles ist also auch in der
Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Knaben noch un-
geklärt, harrt der Sichtung und der Entscheidung, ob immer
der nämliche Hergang anzunehmen ist, oder ob nicht sehr
verschiedenartige Vorstadien zum Treffpunkt der gleichen
Endsituation führen.
S.
des anatomischen Geschlechtsunterschieds
2II
Der Ödipuskomplex des kleinen Mädchens birgt ein Pro-
blem mehr als der des Knaben. Die Mutter war anfänglich
beiden das erste Objekt, wir haben uns nicht zu verwundern,
wenn der Knabe es für den Ödipuskomplex beibehält. Aber
wie kommt das Mädchen dazu, es aufzugeben und dafür den
Vater zum Objekt zu nehmen? In der Verfolgung dieser
Frage habe ich einige Feststellungen machen können, die gerade
auf die Vorgeschichte der Ödipusrelation beim Mädchen Licht
werfen können.
Jeder Analytiker hat die Frauen kennengelernt, die mit be-
sonderer Intensität und Zähigkeit an ihre Vaterbindung fest-
halten und an dem Wunsch, vom Vater ein Kind zu be-
kommen, in dem diese gipfelt. Man hat guten Grund anzu-
nehmen, daß diese Wunschphantasie auch die Triebkraft ihrer
infantilen Onanie war, und gewinnt leicht den Eindruck, hier
vor einer elementaren, nicht weiter auflösbaren Tatsache des
kindlichen Sexuallebens zu stehen. Eingehende Analyse gerade
dieser Fälle zeigt aber etwas anderes, nämlich daß der Ödipus-
komplex hier eine lange Vorgeschichte hat und eine gewisser-
maßen sekundäre Bildung ist.
Nach einer Bemerkung des alten Kinderarztes Lindner²
entdeckt das Kind die lustspendende Genitalzone
- Penis
oder Klitoris während des Wonnesaugens (Lutschens). Ich
will es dahingestellt sein lassen, ob das Kind diese neu-
gewonnene Lustquelle wirklich zum Ersatz für die kürzlich
verlorene Brustwarze der Mutter nimmt, worauf spätere Phan-
tasien (Fellatio) deuten mögen. Kurz, die Genitalzone wird
irgendeinmal entdeckt und es scheint unberechtigt, den ersten
Betätigungen an ihr einen psychischen Inhalt unterzulegen.
Der nächste Schritt in der so beginnenden phallischen Phase
ist aber nicht die Verknüpfung dieser Onanie mit den Objekt-
_
2) Siehe: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. [Ges. Schriften,
Bd. V.]
14
S.
Einige psychische Folgen
212
besetzungen des Ödipuskomplexes, sondern eine folgenschwere
Entdeckung, die dem kleinen Mädchen beschieden ist. Es
bemerkt den auffällig sichtbaren, groß angelegten Penis eines
Bruders oder Gespielen, erkennt ihn sofort als überlegenes
Gegenstück seines eigenen, kleinen und versteckten Organs und
ist von da an dem Penisneid verfallen.
Ein interessanter Gegensatz im Verhalten der beiden Ge-
schlechter: Im analogen Falle, wenn der kleine Knabe die
Genitalgegend des Mädchens zuerst erblickt, benimmt er sich
unschlüssig, zunächst wenig interessiert; er sieht nichts, oder er
verleugnet seine Wahrnehmung, schwächt sie ab, sucht nach
Auskünften, um sie mit seiner Erwartung in Einklang zu
bringen. Erst später, wenn eine Kastrationsdrohung auf ihn
Einfluß gewonnen hat, wird diese Beobachtung für ihn be-
deutungsvoll werden; ihre Erinnerung oder Erneuerung regt
einen fürchterlichen Affektsturm in ihm an und unterwirft ihn
dem Glauben an die Wirklichkeit der bisher verlachten An-
drohung. Zwei Reaktionen werden aus diesem Zusammen-
treffen hervorgehen, die sich fixieren können und dann jede
einzeln oder beide vereint oder zusammen mit anderen Mo-
menten sein Verhältnis zum Weib dauernd bestimmen werden:
Abscheu vor dem verstümmelten Geschöpf oder triumphierende
Geringschätzung desselben. Aber diese Entwicklungen gehören
einer, wenn auch nicht weit entfernten Zukunft an.
Anders das kleine Mädchen. Sie ist im Nu fertig mit ihrem
Urteil und ihrem Entschluß. Sie hat es gesehen, weiß, daß sie
es nicht hat, und will es haben.³
3) Hier ist der Anlaß, eine Behauptung zu berichtigen, die ich
vor Jahren aufgestellt habe. Ich meinte, das Sexualinteresse der
Kinder werde nicht wie das der Heranreifenden durch
den
Geschlechtsunterschied geweckt, sondern entzünde sich an dem
Problem, woher die Kinder kommen. Das trifft also wenigstens
für das Mädchen gewiß nicht zu. Beim Knaben wird es wohl das
eine Mal so, das andere Mal anders zugehen können, oder bei
S.
des anatomischen Geschlechtsunterschieds
213
An dieser Stelle zweigt der sogenannte Männlichkeits-
komplex des Weibes ab, welcher der vorgezeichneten Ent-
wicklung zur Weiblichkeit eventuell große Schwierigkeiten
bereiten wird, wenn es nicht gelingt, ihn bald zu überwinden.
Die Hoffnung, doch noch einmal einen Penis zu bekommen
und dadurch dem Manne gleich zu werden, kann sich bis in
unwahrscheinlich späte Zeiten erhalten und zum Motiv für
sonderbare, sonst unverständliche Handlungen werden. Oder
es tritt der Vorgang ein, den ich als Verleugnung be-
zeichnen möchte, der im kindlichen Seelenleben weder selten
noch sehr gefährlich zu sein scheint, der aber beim Erwachsenen
eine Psychose einleiten würde. Das Mädchen verweigert es,
die Tatsache ihrer Kastration anzunehmen, versteift sich in der
Überzeugung, daß sie doch einen Penis besitzt, und ist ge-
zwungen, sich in der Folge so zu benehmen, als ob sie ein
Mann wäre.
Die psychischen Folgen des Penisneides, so weit er nicht in
der Reaktionsbildung des Männlichkeitskomplexes aufgeht,
sind vielfältige und weittragende. Mit der Anerkennung seiner
narziẞtischen Wunde stellt sich gleichsam als Narbe ein
Minderwertigkeitsgefühl beim Weibe her. Nachdem es den
ersten Versuch, seinen Penismangel als persönliche Strafe zu
erklären, überwunden und die Allgemeinheit dieses Geschlechts-
charakters erfaßt hat, beginnt es, die Geringschätzung des
Mannes für das in einem entscheidenden Punkt verkürzte
Geschlecht zu teilen und hält wenigstens in diesem Urteil an
der eigenen Gleichstellung mit dem Manne fest.
beiden Geschlechtern werden die zufälligen Anlässe des Lebens
darüber entscheiden.
4) Ich habe schon in meiner ersten kritischen Äußerung „Zur
Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", 1913, erkannt, daß
dies der Wahrheitskern der Adler schen Lehre ist, die kein Be-
denken trägt, die ganze Welt aus diesem einen Punkte (Organ-
minderwertigkeit männlicher Protest - Abrücken von der weib-
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Einige psychische Folgen
214
Auch wenn der Penisneid auf sein eigentliches Objekt ver-
zichtet hat, hört er nicht auf zu existieren, er lebt in der
Charaktereigenschaft der Eifersucht mit leichter Ver-
schiebung fort. Gewiß ist die Eifersucht nicht allein einem
Geschlecht eigen und begründet sich auf einer breiteren Basis,
aber ich meine, daß sie doch im Seelenleben des Weibes eine
weitaus größere Rolle spielt, weil sie aus der Quelle des ab-
gelenkten Penisneides eine ungeheure Verstärkung bezieht.
Ehe ich noch diese Ableitung der Eifersucht kannte, hatte ich
für die bei Mädchen so häufige Onaniephantasie,,Ein Kind
wird geschlagen" eine erste Phase konstruiert, in der sie die
Bedeutung hat, ein anderes Kind, auf das man als Rivalen
eifersüchtig ist, soll geschlagen werden. Diese Phantasie scheint
ein Relikt aus der phallischen Periode der Mädchen; die eigent-
tümliche Starrheit, die mir an der monotonen Formel: Ein
Kind wird geschlagen, auffiel, läßt wahrscheinlich noch eine
besondere Deutung zu. Das Kind, das da geschlagen - gelieb-
kost wird, mag im Grunde nichts anderes sein, als die Klitoris
selbst, so daß die Aussage zu allertiefst das Eingeständnis
der Masturbation enthält, die sich vom Anfang in der phal-
lischen Phase bis in späte Zeiten an den Inhalt der Formel
knüpft.
lichen Linie) zu erklären und sich dabei rühmt, die Sexualität
zugunsten des Machtstrebens ihrer Bedeutung beraubt zu haben!
Das einzige „minderwertige" Organ, das ohne Zweideutigkeit
diesen Namen verdient, wäre also die Klitoris. Andrerseits hört
man, daß Analytiker sich rühmen, trotz jahrzehntelanger Be-
mühung nichts von der Existenz eines Kastrationskomplexes wahr-
genommen zu haben. Man muß sich vor der Größe dieser Leistung
in Bewunderung beugen, wenn es auch nur eine negative Leistung,
ein Kunststück im Übersehen und Verkennen ist. Die beiden
Lehren ergeben ein interessantes Gegensatzpaar: Hier keine Spur
von einem Kastrationskomplex, dort nichts anderes als Folgen
desselben.
5) Ein Kind wird geschlagen." (In diesem Bande, S. 124 ff.)
S.
des anatomischen Geschlechtsunterschieds
215
Eine dritte Abfolge des Penisneides scheint die Lockerung
des zärtlichen Verhältnisses zum Mutterobjekt. Man versteht
den Zusammenhang nicht sehr gut, überzeugt sich aber, daß
am Ende fast immer die Mutter für den Penismangel ver-
antwortlich gemacht wird, die das Kind mit so ungenügender
Ausrüstung in die Welt geschickt hat. Der historische Her-
gang
ist oft der, daß bald nach der Entdeckung der Benach-
teiligung am Genitale Eifersucht gegen ein anderes Kind auf-
tritt, das von der Mutter angeblich mehr geliebt wird, wo-
durch eine Motivierung für die Lösung von der Mutterbindung
gewonnen ist. Dazu stimmt es dann, wenn dies von der Mutter
bevorzugte Kind das erste Objekt der in Masturbation aus-
laufenden Schlagephantasie wird.
Eine andere überraschende Wirkung des Penisneides - oder
der Entdeckung der Minderwertigkeit der Klitoris
gewiß die wichtigste von allen. Ich hatte oftmals vorher den
Eindruck gewonnen, daß das Weib im allgemeinen die
Masturbation schlechter verträgt als der Mann, sich öfter gegen
sie sträubt und außerstande ist, sich ihrer zu bedienen, wo
der Mann unter gleichen Verhältnissen unbedenklich zu diesem
Auskunftsmittel gegriffen hätte. Es ist begreiflich, daß die
Erfahrung ungezählte Ausnahmen von diesem Satz aufweisen
würde, wenn man ihn als Regel aufstellen wollte. Die Re-
aktionen der menschlichen Individuen beiderlei Geschlechts sind
ja aus männlichen und weiblichen Zügen gemengt. Aber es
blieb doch der Anschein übrig, daß der Natur des Weibes die
Masturbation ferner liege, und man konnte zur Lösung des
angenommenen Problems die Erwägung heranziehen, daß
wenigstens die Masturbation an der Klitoris eine männliche
Betätigung sei, und daß die Entfaltung der Weiblichkeit die
Wegschaffung der Klitorissexualität zur Bedingung habe. Die
Analysen der phallischen Vorzeit haben mich nun gelehrt, daß
beim Mädchen bald nach den Anzeichen des Penisneides eine
ist
S.
Einige psychische Folgen
216
intensive Gegenströmung gegen die Onanie auftritt, die nicht
allein auf den Einfluß der erziehenden Pflegeperson zurück-
geführt werden kann. Diese Regung ist offenbar ein Vorbote
jenes Verdrängungsschubes, der zur Zeit der Pubertät ein
großes Stück der männlichen Sexualität beseitigen wird, um
Raum für die Entwicklung der Weiblichkeit zu schaffen. Es
mag sein, daß diese erste Opposition gegen die autoerotische
Betätigung ihr Ziel nicht erreicht. So war es auch in den von
mir analysierten Fällen. Der Konflikt setzte sich dann fort
und das Mädchen tat damals wie später alles, um sich vom
Zwang zur Onanie zu befreien. Manche späteren Äußerungen
des Sexuallebens beim Weibe bleiben unverständlich, wenn
man dies starke Motiv nicht erkennt.
Ich kann mir diese Auflehnung des kleinen Mädchens gegen
die phallische Onanie nicht anders als durch die Annahme
erklären, daß ihm diese lustbringende Betätigung durch ein
nebenher gehendes Moment arg verleidet wird. Dieses Moment
brauchte man dann nicht weit weg zu suchen; es müßte die
mit dem Penisneid verknüpfte narzißtische Kränkung sein,
die Mahnung, daß man es in diesem Punkte doch nicht mit
dem Knaben aufnehmen kann und darum die Konkurrenz
mit ihm am besten unterläßt. In solcher Weise drängt die
Erkenntnis des anatomischen Geschlechtsunterschieds das kleine
Mädchen von der Männlichkeit und von der männlichen
Onanie weg in neue Bahnen, die zur Entfaltung der Weiblich-
keit führen.
Vom Ödipuskomplex war bisher nicht die Rede, er hatte
auch soweit keine Rolle gespielt. Nun aber gleitet die Libido
des Mädchens man kann nur sagen: längs der vorgezeich-
neten symbolischen Gleichung Penis = Kind - in eine neue
Position. Es gibt den Wunsch nach dem Penis auf, um den
Wunsch nach einem Kinde an die Stelle zu setzen, und nimmt
in dieser Absicht den Vater zum Liebesobjekt. Die
S.
des anatomischen Geschlechtsunterschieds
217
Mutter wird zum Objekt der Eifersucht, aus dem Mädchen ist
ein kleines Weib geworden. Wenn ich einer vereinzelten ana-
lytischen Erhebung glauben darf, kann es in dieser neuen
Situation zu körperlichen Sensationen kommen, die als vor-
zeitiges Erwachen des weiblichen Genitalapparats zu beurteilen
sind. Wenn diese Vaterbindung später als verunglückt auf-
gegeben werden muß, kann sie einer Vateridentifizierung
weichen, mit der das Mädchen zum Männlichkeitskomplex
zurückkehrt und sich eventuell an ihm fixiert.
Ich habe nun das Wesentliche gesagt, das ich zu sagen
hatte, und mache halt, um das Ergebnis zu überblicken. Wir
haben Einsicht in die Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim
Mädchen bekommen. Das Entsprechende beim Knaben ist
ziemlich unbekannt. Beim Mädchen ist der Ödipuskomplex
eine sekundäre Bildung. Die Auswirkungen des Kastrations-
komplexes gehen ihm vorher und bereiten ihn vor. Für das
Verhältnis zwischen Ödipus- und Kastrationskomplex stellt
sich ein fundamentaler Gegensatz der beiden Geschlechter her.
Während der Ödipuskomplex des Knaben
am Kastrationskomplex zugrunde geht,
wird der des Mädchens durch den Kastra-
tionskomplex ermöglicht und eingeleitet.
Dieser Widerspruch erhält seine Aufklärung, wenn man er-
wägt, daß der Kastrationskomplex dabei immer im Sinne
seines Inhaltes wirkt, hemmend und einschränkend für die
Männlichkeit, befördernd auf die Weiblichkeit. Die Differenz
in diesem Stück der Sexualentwicklung beim Mann und Weib
ist eine begreifliche Folge der anatomischen Verschiedenheit
der Genitalien und der damit verknüpften psychischen Situa-
tion, sie entspricht dem Unterschied von vollzogener und
bloß angedrohter Kastration. Unser Ergebnis ist also im
6) Siehe: Der Untergang des Ödipuskomplexes. [Ges. Schriften,
Bd. V.]
S.
Einige psychische Folgen
218
Grunde eine Selbstverständlichkeit, die man hätte vorhersehen
können.
Indes, der Ödipuskomplex ist etwas so Bedeutsames, daß
es auch nicht folgenlos bleiben kann, auf welche Weise man
in ihn hineingeraten und von ihm losgekommen ist. Beim
Knaben - so habe ich in der letzterwähnten Publikation
ausgeführt, an die ich hier überhaupt anknüpfe wird der
Komplex nicht einfach verdrängt, er zerschellt förmlich unter
dem Schock der Kastrationsdrohung. Seine libidinösen Be-
setzungen werden aufgegeben, desexualisiert und zum Teil
sublimiert, seine Objekte dem Ich einverleibt, wo sie den Kern
des Über-Ichs bilden und dieser Neuformation charakteristische
Eigenschaften verleihen. Im normalen, besser gesagt: im
idealen Falle besteht dann auch im Unbewußten kein Ödipus-
komplex mehr, das Über-Ich ist sein Erbe geworden. Da der
Penis im Sinne Ferenczis - seine außerordentlich
hohe narziẞtische Besetzung seiner organischen Bedeutung für
die Fortsetzung der Art verdankt, kann man die Katastrophe
des Ödipuskomplexes -die Abwendung vom Inzest, die Ein-
setzung von Gewissen und Moral als einen Sieg der Genera-
tion über das Individuum auffassen. Ein interessanter Gesichts-
punkt, wenn man erwägt, daß die Neurose auf einem Sträuben
des Ichs gegen den Anspruch der Sexualfunktion beruht. Aber
das Verlassen des Standpunktes der individuellen Psychologie
führt zunächst nicht zur Klärung der verschlungenen Be-
ziehungen.
Beim Mädchen entfällt das Motiv für die Zertrümmerung
des Ödipuskomplexes. Die Kastration hat ihre Wirkung bereits
früher getan und diese bestand darin, das Kind in die Situation
des Ödipuskomplexes zu drängen. Dieser entgeht darum dem
Schicksal, das ihm beim Knaben bereitet wird, er kann langsam
verlassen, durch Verdrängung erledigt werden, seine Wirkungen
weit in das für das Weib normale Seelenleben verschieben.
S.
des anatomischen Geschlechtsunterschieds
219
Man zögert es auszusprechen, kann sich aber doch der Idee
nicht erwehren, daß das Niveau des sittlich Normalen für das
Weib ein anderes wird. Das Über-Ich wird niemals so un-
erbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven
Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern. Charakterzüge,
die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß es
weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung
zur Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des
Lebens, sich öfter in seinen Entscheidungen von zärtlichen und
feindseligen Gefühlen leiten läßt, fänden in der oben abge-
leiteten Modifikation der Über-Ichbildung eine ausreichende
Begründung. Durch den Widerspruch der Feministen, die uns
eine völlige Gleichstellung und Gleichschätzung der Ge-
schlechter aufdrängen wollen, wird man sich in solchen Urteilen
nicht beirren lassen, wohl aber bereitwillig zugestehen, daß auch
die Mehrzahl der Männer weit hinter dem männlichen Ideal
zurückbleibt, und daß alle menschlichen Individuen infolge
ihrer bisexuellen Anlage und der gekreuzten Vererbung männ-
liche und weibliche Charaktere in sich vereinigen, so daß die
reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruk-
tionen bleiben mit ungesichertem Inhalt.
Ich bin geneigt, den hier vorgebrachten Ausführungen über
die psychischen Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds
Wert beizulegen, aber ich weiß, daß diese Schätzung nur auf-
rechtzuhalten ist, wenn sich die an einer Handvoll Fällen
gemachten Funde allgemein bestätigen und als typisch heraus-
stellen. Sonst bliebe es eben ein Beitrag zur Kenntnis der
mannigfaltigen Wege in der Entwicklung des Sexuallebens.
In den schätzenswerten und inhaltreichen Arbeiten über den
Männlichkeits- und Kastrationskomplex des Weibes von
Abraham (Äußerungsformen des weiblichen Kastrations-
komplexes, Int. Zschr. f. PsA., Bd. VII), Horney (Zur Ge-
nese des weiblichen Kastrationskomplexes, ebendort, Bd. IX),
S.
Fetischismus
220
Helene Deutsch (Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunk-
tionen, Neue Arb. z. ärztl. PsA., Nr. V) findet sich vieles, was
nahe an meine Darstellung rührt, nichts, was sich ganz mit
ihr deckt, so daß ich diese Veröffentlichung auch in dieser
Hinsicht rechtfertigen möchte.
FETISCHISMUS
(1927)
In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, eine Anzahl von
Männern, deren Objektwahl von einem Fetisch beherrscht war,
analytisch zu studieren. Man braucht nicht zu erwarten, daß
diese Personen des Fetisch wegen die Analyse aufgesucht hatten,
denn der Fetisch wird wohl von seinen Anhängern als eine
Abnormität erkannt, aber nur selten als ein Leidenssymptom
empfunden; meist sind sie mit ihm recht zufrieden oder loben
sogar die Erleichterungen, die er ihrem Liebesleben bietet. Der
Fetisch spielte also in der Regel die Rolle eines Nebenbefundes.
Die Einzelheiten dieser Fälle entziehen sich aus nahe-
liegenden Gründen der Veröffentlichung. Ich kann darum auch
nicht zeigen, in welcher Weise zufällige Umstände zur Aus-
wahl des Fetisch beigetragen haben. Am merkwürdigsten er-
schien ein Fall, in dem ein junger Mann einen gewissen „Glanz
auf der Nase" zur fetischistischen Bedingung erhoben hatte.
Das fand seine überraschende Aufklärung durch die Tatsache,
daß der Patient eine englische Kinderstube gehabt hatte, dann
aber nach Deutschland gekommen war, wo er seine Mutter-
sprache fast vollkommen vergaß. Der aus den ersten Kinder-
zeiten stammende Fetisch war nicht deutsch, sondern englisch
zu lesen, der „,Glanz auf der Nase" war eigentlich ein,,Blick
auf die Nase" (glance Blick), die Nase war also der Fetisch,
dem er übrigens nach seinem Belieben jenes besondere Glanz-
licht verlieh, das andere nicht wahrnehmen konnten.
=
freud-1931-sexualtheorie
207
–220