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Vorwort
Die im Jahre 1908 erschienene erste Auflage dieses Buches wurde
durch ein Vorwort von Sigmund Freud eingeleitet. Ich stand damals
als Schüler den genialen Psychologen unter seinem Einflusse und gestattete
ihm eine strenge Kontrolle über das Werk. Freud handelte es sich
vornehmlich darum, die »A n g s t n e u r o s e«, als »A k t u a l n e u r o s e«,
d. h. als ein durch eine physische Irritation der Sexuallebens entstandenes
Leiden, darzustellen. Ich hatte frühzeitig durch Freud das Wesen der
Angstneurose kennen gelernt, die er als selbständigen Symptomen
komplex von der »N e u r a s t h e n i e«, seiner zweiten »A k t u a l n e u r o s e«,
abgetrennt hatte. Ich erkannte im Beginne meiner psychotherapeutischen
»P r a x i s« noch nicht, daß Freud einfach die Angstkomponente des Zustandes,
welchen die Ärzte damals »N e u r a s t h e n i e« benannten, entdeckte und als
Krankheit sui generis beschrieben hatte. Bald wurde mir klar, daß diese
Angstneurose immer psychogene Wurzeln hatte. Freud schlug mir vor,
die psychogenen Angstneurosen »A n g s t h y s t e r i e n« zu benennen und
gesondert zu beschreiben.
Aber schon die im Jahre 1912 erschienene zweite Auflage dieses
Werkes betonte, daß die Grenzen zwischen Angstneurose und Angst
hysterie willkürlich wären. Sie stellte sich ganz auf den Boden der
»P s y c h o g e n i e a l l e r N e u r o s e n«. Diese tiefgehende Differenz der An
schauungen über das Wesen der Neurosen mußte zu einer Trennung
von Schüler und Meister führen. So schmerzlich diese Trennung für
mich war, weil sie manche häßliche Erscheinung im Gefolge hatte, so
segensreich war sie für mein Schaffen. Erst in der Distanz von dem
gewaltigen Schöpfer der Psychoanalyse konnte ich Falsches von Wahrem
trennen, das Sichere erhalten, das Schwankende überdenken, das Neue
einfügen, die Übertreibungen vermeiden und alte Fehler korrigieren.
Es wurde mir bald klar, daß die Libidotheorie Freuds ein Mißgriff war.
Ich konnte den fast mystischen Ausführungen des Lehrers und seiner
Schüler über die Schicksale und Wandlungen der Libido nicht mehrS.
VI. **VI**
folgen. Ich konnte auch die »m o n o s e x u e l l e Ä t i o l o g i e« der Neurosen
nicht mehr aufrechthalten, da die Erfahrungen des Weltkrieges mich
eines Besseren belehrten. Ich zog mich auf meine alte Formel zurück,
die ich schon 1907 in »U r s a c h e n d e r N e r v o s i t ä t« vertreten hatte: Die
Ursache aller Neurosen ist ein psychischer Konflikt!
Aber auch die Grenzen zwischen den einzelnen Neurosen, die
Freud scharf gezogen hatte, verschwanden bei tieferer Einsicht. Ich sah
immer nur Affektstörungen, die sich bald in dem einen, bald in dem
anderen Bilde äußerten. Neurasthenie und Hysterie wurden für mich
leere Worte. Ich prägte daher das neue Wort: P a r a p a t h i e.
In der vorliegenden dritten Auflage sind die neuesten Erfahrungen
aufgenommen. Die Krankheitsbilder sind die gleichen. Aber die Art,
wie ich sie sehe, ist eine andere. Der erste Teil ist wohl für den Praktiker
der wichtigste. Er enthält das Riesengebiet der »O r g a n s p r a c h e d e r S e e l e«.
Der zweite Teil zeigt uns die Psychogenie der Phobien, wobei die
»A n a l y s e e i n e r V o g e l p h o b i e« die Wiedergabe einer Analyse aus der
jüngsten Zeit darstellt. Auch die Kapitel über »A n g s t v o r G e s p e n s t e r n«
und »Z o o p h o b i e n« wurden neu eingerneit, dem alten Material wurden
einige neue Beobachtungen hinzugefügt; die neue Literatur wurde nach
Möglichkeit berücksichtigt.Leider habe ich nicht mehr die Erfahrungen der gewöhnlichen
»P r a x i s«. Die Tätigkeit eines Spezialisten bringt es mit sich, daß ich
nur die schweren und schwersten Fälle sehe. Auch erfordert der Ausbau
des gesamten Werkes eine Kraft, die einem Einzelnen kaum zur Ver
fügung steht. Ich habe mich aber bemüht, das alte Werk auf der Höhe
zu erhalten und hoffe, daß es auch in der neuen Gestalt eine so freund
liche Aufnahme finden wird, wie sie den beiden ersten Auflagen
beschieden war.Ich möchte diese Ausführungen nicht beschließen, ohne darauf
aufmerksam zu machen, daß mich die persönlichen und wissenschaftlichen
Differenzen mit Freud nicht ungerecht und undankbar gemacht haben.
Es wird das unsterbliche Verdienst von Freud bleiben, uns allen den
Weg zu einer neuen Wissenschaft gewiesen zu haben. Erst die Zukunft
wird es erweisen, wieviel von seiner gigantischen Arbeit Ewigkeitswert
hat. Eines ist sicher: Er hat wie kein zweiter die dornenden Geister
der Gegenwart angeregt und ihnen die Pfade in den Urwald der Neu
rosen gebahnt.Wenn ich also gezwungen bin, in diesem Werke eigene Wege zu
gehen und mit dem Lehrer zu polemisieren, so geschieht es nicht, um
mich als der Klügere und Stärkere zu erweisen. Ich habe schon in
einem anderen Werke betont, daß der Zwerg auf den Schultern einesS.
VII
VorwortRiesen weiter sieht als der Riese selbst. Nun bin ich unbescheiden
genug, mich nicht mit einem Zwerge zu vergleichen. Und ich habe
auch aus den Fehlern gelernt und mancher Irrtum erwies sich als
heuristisch sehr wertvoll.Nun will ich mein Werk sprechen lassen. Ich schließe mit den
Worten Freuds, die der ersten Auflage entnommen sind: »Ich darf
sagen, daß Stekels Werke auf reicher Erfahrung fußt und daß es dazu
bestimmt ist, andere Ärzte anzuregen, unsere Ansichten über die Ätiologie
dieser Zustände durch eigene Bemühungen zu bestätigen. Es eröffnet oft
unerwartete Einblicke in die Wirklichkeiten des Lebens, die sich hinter
den neurotischen Symptomen zu verbergen pflegen, und wird die Kollegen
wohl überzeugen, daß es nicht gleichgültig sein kann, welche Stellung
sie zu den hier gegebenen Winken und Aufklärungen einnehmen wollen.«Wien, im Oktober 1920.
Der Verfasser
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