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sei das Gefürchtete, zum Unterschied von der reinen trauma-
tischen Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneurosen,
doch ein innerer Feind. Die theoretischen Schwierigkeiten, die
einer solchen einigenden Auffassung im Wege stehen, scheinen nicht
unüberwindlich; man kann doch die Verdrängung, die jeder
Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein
Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen.GELEITWORT
zu DIE PSYCHOANALYTISCHE METHODE, eine erfahrungs-
wissenschaftlich-systematische Darstellung von Dr. OSKAR PFISTER,
Pfarrer in Zürich. Julius Klinkhardt Verlag, Leipzig.
(1913)Die Psychoanalyse ist auf medizinischem Boden entstanden als
ein Heilverfahren zur Behandlung gewisser nervöser Erkrankungen,
dic man „funktionelle“ geheißen hat, und in denen man mit
stetig wachsender Sicherheit Erfolge von Störungen des Affekt-
lebens erkannte. Sie erreicht ihre Absicht, die AuBerungen solcher
Stórungen, die Symptome, aufzuheben, indem sie voraussetzt, die-
selben seien nicht die einzig móglichen und endgültigen Ausginge
gewisser psychischer Prozesse, darum die Entwicklungsgeschichte
dieser Symptome in der Erinnerung aufdeckt, die ihnen zugrunde
liegenden Prozesse auffrischt und sie nun unter árztlicher Leitung
einem günstigeren Ausgang zuführt. Die Psychoanalyse hat sich
dieselben therapeutischen Ziele gesetzt wie die hypnotische Behand-
lung, die sich, von Liébault und Bernheim eingeführt,
nach langen und schweren Kimpfen einen Platz in der nerven-
ärztlichen Technik erworben hatte. Aber sie geht weit tiefer auf
die Struktur des seelischen Mechanismus ein und sucht dauernde
Beeinflussungen und haltbare Veränderungen ihrer Objekte zu
erreichen.Die hypnotische Suggestionsbehandlung hat seinerzeit sehr bald
das ärztliche Anwendungsgebiet überschritten und sich in den
Dienst der Erziehung jugendlicher Personen gestellt. Wenn wir
den Berichten Glauben schenken dürfen, hat sie sich als wirksamesS.
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Mittel erwiesen zur Beseitigung von Kinderfehlern, störenden
körperlichen Gewöhnungen und sonst unreduzierbaren Charakter-
zügen. Niemand nahm damals Anstoß daran oder verwunderte
sich über diese Erweiterung ihrer Brauchbarkeit, die uns allerdings
erst durch die psychoanalytische Forschung voll verständlich
geworden ist. Denn heute wissen wir, daß die krankhaften Sym-
ptome oft nichts anderes sind als die Ersatzbildungen für schlechte,
d. i. unbrauchbare Neigungen, und daß die Bedingungen dieser
Symptome in den Kindheits- und Jugendjahren konstituiert wer-
den, — zu denselben Zeiten, in welchen der Mensch Objekt der
Erziehung ist, — mögen nun die Krankheiten selbst noch in der
Jugend hervortreten oder erst in einer späteren Lebenszeit,
Erziehung und Therapie treten nun in ein angebbares Verhält-
nis zueinander. Die Erziehung will dafür sorgen, daß aus gewissen
Anlagen und Neigungen des Kindes nichts dem einzelnen wie der
Gesellschaft Schådliches hervorgehe. Die Therapie tritt in Wirk-
samkeit, wenn dieselben Anlagen bereits das unerwiinschte Ergebnis
der Krankheitssymptome geliefert haben. Der andere Ausgang,
nämlich, daß die unbrauchbaren Dispositionen des Kindes nicht
zu den Ersatzbildungen der Symptome, sondern zu direkten
Charakterperversionen geführt haben, ist fiir die Therapie fast
unzugånglich und der Beeinflussung durch den Erzieher meist ent-
zogen. Die Erziehung ist eine Prophylaxe, welche beiden Aus-
gängen, dem in Neurose wie dem in Perversion, vorbeugen soll;
die Psychotherapie will den labileren der beiden Ausgänge rück-
gångig machen und eine Art von Nacherziehung einsetzen.
Angesichts dieser Sachlage drängt sich von selbst die Frage
auf, ob man nicht die Psychoanalyse fiir die Zwecke der Erziehung
verwerten solle wie seinerzeit die hypnotische Suggestion. Die
Vorteile davon wären augenfillig. Der Erzieher ist einerseits
durch seine Kenntnis der allgemein menschlichen Dispositionen
der Kindheit vorbereitet, zu erraten, welche der kindlichen Anlagen
mit einem unerwiinschten Ausgang drohen, und wenn die Psycho-
analyse auf solche Entwicklungsrichtungen Einfluß hat, kann er
sie in Anwendung bringen, ehe sich die Zeichen einer ungiin-
stigen Entwicklung einstellen. Er kann also am noch gesundenS.
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Kinde prophylaktisch mit Hilfe der Analyse wirken. Anderseits
kann er die ersten Anzeichen einer Entwicklung zur Neurose
oder zur Perversion bemerken und das Kind vor der weiteren
Entwicklung zu einer Zeit behiiten, wo es aus einer Reihe von
Gründen dem Arzt niemals zugeführt würde. Man sollte meinen,
eine solche psychoanalytische Tätigkeit des Erziehers — und des
ihm gleichstehenden Seelsorgers in protestantischen Lindern —
müßte Unschátzbares leisten und oft die Tätigkeit des Arztes über-
flüssig machen können.Es fragt sich nur, ob nicht die Ausübung der Psychoanalyse eine
ärztliche Schulung voraussetzt, welche dem Erzieher und Seel-
sorger vorenthalten bleiben muß, oder ob nicht andere Verhilt-
nisse sich der Absicht widersetzen, die psychoanalytische Technik
in andere als ärztliche Hinde zu legen. Ich bekenne, daß ich
keine solchen Abhaltungen sehe. Die Ausübung der Psychoanalyse
fordert viel weniger ärztliche Schulung als psychologische Vor-
bildung und freien menschlichen Blick; die Mehrzahl der Arzte
aber ist für die Übung der Psychoanalyse nicht ausgerüstet und
hat in der Würdigung dieses Heilverfahrens völlig versagt. Der
Erzieher und der Seelsorger sind durch die Anforderungen ihres
Berufes zu denselben Rücksichten, Schonungen und Enthaltungen
verpflichtet, die der Arzt einzuhalten gewohnt ist, und ihre sonstige
Beschüftigung mit der Jugend macht sie zur Einfühlung in deren
Seclenleben vielleicht geeigneter. Die Garantie für eine schadlose
Anwendung des analytischen Verfahrens kann aber in beiden
Fållen nur von der Persönlichkeit des Analysierenden beigebracht
werden.Die Annäherung an das Gebiet des Seelisch-Abnormen wird den
analysierenden Erzieher nótigen, sich mit den dringendsten psychia-
trischen Kenntnissen vertraut zu machen und überdies den Arzt
zu Rate zu ziehen, wo Beurteilung und Ausgang der Störung
zweifelhaft erscheinen können. In einer Reihe von Fällen wird
erst das Zusammenwirken des Erzichers mit dem Arzte zum
Erfolge führen können.In einem einzigen Punkte wird die Verantwortlichkeit des
Erziehers die des Arztes vielleicht noch übersteigen. Der Arzt hatS.
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es in der Regel mit bereits erstarrten psychischen Formationen zu
tun und wird in der fertig gewordenen Individualität des Kranken
cine Grenze fiir seine eigene Leistung, aber auch eine Gewähr fiir
dessen Selbständigkeit finden. Der Erzieher aber arbeitet an
plastischem, jedem Eindruck zuginglichem Material und wird sich
die Verpflichtung vorzuhalten haben, das junge Seelenleben nicht
nach seinen persönlichen Idealen, sondern vielmehr nach den am
Objekt haftenden Dispositionen und Möglichkeiten zu formen.Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Erzie-
hung bald die Hoffnungen erfüllen, die Erzieher und Arzte an
sie knüpfen diirten! Ein Buch wie das Pfisters, welches dic
Analyse den Erzichern bekannt machen will, wird dann auf den
Dank später Generationen rechnen können.GELEITWORT
zu VERWAHRLOSTE JUGEND. Die Psychoanalyse in der Für-
sorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung von AUGUSTAICHHORN. Internationaler Psydioanalytischer Verlag, Wien.
(1925)
Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine so viel
Interesse gefunden, so viel Hoffnungen erweckt und demzufolge
so viele tiichtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die Theorie
und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen. Das
Kind ist das hauptsåchliche Objekt der psychoanalytischen For-
schung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker
abgelöst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im
Kranken das wenig veråndert fortlebende Kind aufgezeigt wie
im Tråumer und im Kiinstler, sie hat die Triebkrifte und Ten-
denzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein ihm eigenes
Gepråge geben und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die
Erwartung entstand, die psychoanalytische Bemiihung um das Kind
werde der erzieherischen Tätigkeit zugute kommen, die das Kind
auf seinem Weg zur Reife leiten, férdern und gegen Irrungen
sichern will.
von Dr. OSKAR PFISTER, Pfarrer in Zürich. Julius Klinkhardt Verlag, Leipzig. (1913)
freud-1931-neurosenlehre
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