Geleitwort zu DIE PSYCHANALYTISCHE METHODE, eine erfahrungs-wissenschaftlich-systematische Darstellung 1913-061/1931
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    sei das Gefürchtete, zum Unterschied von der reinen trauma-
    tischen Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneurosen,
    doch ein innerer Feind. Die theoretischen Schwierigkeiten, die
    einer solchen einigenden Auffassung im Wege stehen, scheinen nicht
    unüberwindlich; man kann doch die Verdrängung, die jeder
    Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein
    Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen.

    GELEITWORT
    zu DIE PSYCHOANALYTISCHE METHODE, eine erfahrungs-
    wissenschaftlich-systematische Darstellung von Dr. OSKAR PFISTER,
    Pfarrer in Zürich. Julius Klinkhardt Verlag, Leipzig.
    (1913)

    Die Psychoanalyse ist auf medizinischem Boden entstanden als
    ein Heilverfahren zur Behandlung gewisser nervöser Erkrankungen,
    dic man „funktionelle“ geheißen hat, und in denen man mit
    stetig wachsender Sicherheit Erfolge von Störungen des Affekt-
    lebens erkannte. Sie erreicht ihre Absicht, die AuBerungen solcher
    Stórungen, die Symptome, aufzuheben, indem sie voraussetzt, die-
    selben seien nicht die einzig móglichen und endgültigen Ausginge
    gewisser psychischer Prozesse, darum die Entwicklungsgeschichte
    dieser Symptome in der Erinnerung aufdeckt, die ihnen zugrunde
    liegenden Prozesse auffrischt und sie nun unter árztlicher Leitung
    einem günstigeren Ausgang zuführt. Die Psychoanalyse hat sich
    dieselben therapeutischen Ziele gesetzt wie die hypnotische Behand-
    lung, die sich, von Liébault und Bernheim eingeführt,
    nach langen und schweren Kimpfen einen Platz in der nerven-
    ärztlichen Technik erworben hatte. Aber sie geht weit tiefer auf
    die Struktur des seelischen Mechanismus ein und sucht dauernde
    Beeinflussungen und haltbare Veränderungen ihrer Objekte zu
    erreichen.

    Die hypnotische Suggestionsbehandlung hat seinerzeit sehr bald
    das ärztliche Anwendungsgebiet überschritten und sich in den
    Dienst der Erziehung jugendlicher Personen gestellt. Wenn wir
    den Berichten Glauben schenken dürfen, hat sie sich als wirksames

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    Mittel erwiesen zur Beseitigung von Kinderfehlern, störenden
    körperlichen Gewöhnungen und sonst unreduzierbaren Charakter-
    zügen. Niemand nahm damals Anstoß daran oder verwunderte
    sich über diese Erweiterung ihrer Brauchbarkeit, die uns allerdings
    erst durch die psychoanalytische Forschung voll verständlich
    geworden ist. Denn heute wissen wir, daß die krankhaften Sym-
    ptome oft nichts anderes sind als die Ersatzbildungen für schlechte,
    d. i. unbrauchbare Neigungen, und daß die Bedingungen dieser
    Symptome in den Kindheits- und Jugendjahren konstituiert wer-
    den, — zu denselben Zeiten, in welchen der Mensch Objekt der
    Erziehung ist, — mögen nun die Krankheiten selbst noch in der
    Jugend hervortreten oder erst in einer späteren Lebenszeit,
    Erziehung und Therapie treten nun in ein angebbares Verhält-
    nis zueinander. Die Erziehung will dafür sorgen, daß aus gewissen
    Anlagen und Neigungen des Kindes nichts dem einzelnen wie der
    Gesellschaft Schådliches hervorgehe. Die Therapie tritt in Wirk-
    samkeit, wenn dieselben Anlagen bereits das unerwiinschte Ergebnis
    der Krankheitssymptome geliefert haben. Der andere Ausgang,
    nämlich, daß die unbrauchbaren Dispositionen des Kindes nicht
    zu den Ersatzbildungen der Symptome, sondern zu direkten
    Charakterperversionen geführt haben, ist fiir die Therapie fast
    unzugånglich und der Beeinflussung durch den Erzieher meist ent-
    zogen. Die Erziehung ist eine Prophylaxe, welche beiden Aus-
    gängen, dem in Neurose wie dem in Perversion, vorbeugen soll;
    die Psychotherapie will den labileren der beiden Ausgänge rück-
    gångig machen und eine Art von Nacherziehung einsetzen.
    Angesichts dieser Sachlage drängt sich von selbst die Frage
    auf, ob man nicht die Psychoanalyse fiir die Zwecke der Erziehung
    verwerten solle wie seinerzeit die hypnotische Suggestion. Die
    Vorteile davon wären augenfillig. Der Erzieher ist einerseits
    durch seine Kenntnis der allgemein menschlichen Dispositionen
    der Kindheit vorbereitet, zu erraten, welche der kindlichen Anlagen
    mit einem unerwiinschten Ausgang drohen, und wenn die Psycho-
    analyse auf solche Entwicklungsrichtungen Einfluß hat, kann er
    sie in Anwendung bringen, ehe sich die Zeichen einer ungiin-
    stigen Entwicklung einstellen. Er kann also am noch gesunden

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    Kinde prophylaktisch mit Hilfe der Analyse wirken. Anderseits
    kann er die ersten Anzeichen einer Entwicklung zur Neurose
    oder zur Perversion bemerken und das Kind vor der weiteren
    Entwicklung zu einer Zeit behiiten, wo es aus einer Reihe von
    Gründen dem Arzt niemals zugeführt würde. Man sollte meinen,
    eine solche psychoanalytische Tätigkeit des Erziehers — und des
    ihm gleichstehenden Seelsorgers in protestantischen Lindern —
    müßte Unschátzbares leisten und oft die Tätigkeit des Arztes über-
    flüssig machen können.

    Es fragt sich nur, ob nicht die Ausübung der Psychoanalyse eine
    ärztliche Schulung voraussetzt, welche dem Erzieher und Seel-
    sorger vorenthalten bleiben muß, oder ob nicht andere Verhilt-
    nisse sich der Absicht widersetzen, die psychoanalytische Technik
    in andere als ärztliche Hinde zu legen. Ich bekenne, daß ich
    keine solchen Abhaltungen sehe. Die Ausübung der Psychoanalyse
    fordert viel weniger ärztliche Schulung als psychologische Vor-
    bildung und freien menschlichen Blick; die Mehrzahl der Arzte
    aber ist für die Übung der Psychoanalyse nicht ausgerüstet und
    hat in der Würdigung dieses Heilverfahrens völlig versagt. Der
    Erzieher und der Seelsorger sind durch die Anforderungen ihres
    Berufes zu denselben Rücksichten, Schonungen und Enthaltungen
    verpflichtet, die der Arzt einzuhalten gewohnt ist, und ihre sonstige
    Beschüftigung mit der Jugend macht sie zur Einfühlung in deren
    Seclenleben vielleicht geeigneter. Die Garantie für eine schadlose
    Anwendung des analytischen Verfahrens kann aber in beiden
    Fållen nur von der Persönlichkeit des Analysierenden beigebracht
    werden.

    Die Annäherung an das Gebiet des Seelisch-Abnormen wird den
    analysierenden Erzieher nótigen, sich mit den dringendsten psychia-
    trischen Kenntnissen vertraut zu machen und überdies den Arzt
    zu Rate zu ziehen, wo Beurteilung und Ausgang der Störung
    zweifelhaft erscheinen können. In einer Reihe von Fällen wird
    erst das Zusammenwirken des Erzichers mit dem Arzte zum
    Erfolge führen können.

    In einem einzigen Punkte wird die Verantwortlichkeit des
    Erziehers die des Arztes vielleicht noch übersteigen. Der Arzt hat

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    es in der Regel mit bereits erstarrten psychischen Formationen zu
    tun und wird in der fertig gewordenen Individualität des Kranken
    cine Grenze fiir seine eigene Leistung, aber auch eine Gewähr fiir
    dessen Selbständigkeit finden. Der Erzieher aber arbeitet an
    plastischem, jedem Eindruck zuginglichem Material und wird sich
    die Verpflichtung vorzuhalten haben, das junge Seelenleben nicht
    nach seinen persönlichen Idealen, sondern vielmehr nach den am
    Objekt haftenden Dispositionen und Möglichkeiten zu formen.

    Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Erzie-
    hung bald die Hoffnungen erfüllen, die Erzieher und Arzte an
    sie knüpfen diirten! Ein Buch wie das Pfisters, welches dic
    Analyse den Erzichern bekannt machen will, wird dann auf den
    Dank später Generationen rechnen können.

    GELEITWORT

    zu VERWAHRLOSTE JUGEND. Die Psychoanalyse in der Für-
    sorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung von AUGUST

    AICHHORN. Internationaler Psydioanalytischer Verlag, Wien.

    (1925)

    Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine so viel
    Interesse gefunden, so viel Hoffnungen erweckt und demzufolge
    so viele tiichtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die Theorie
    und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen. Das
    Kind ist das hauptsåchliche Objekt der psychoanalytischen For-
    schung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker
    abgelöst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im
    Kranken das wenig veråndert fortlebende Kind aufgezeigt wie
    im Tråumer und im Kiinstler, sie hat die Triebkrifte und Ten-
    denzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein ihm eigenes
    Gepråge geben und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
    zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die
    Erwartung entstand, die psychoanalytische Bemiihung um das Kind
    werde der erzieherischen Tätigkeit zugute kommen, die das Kind
    auf seinem Weg zur Reife leiten, férdern und gegen Irrungen
    sichern will.