S.
SEPARATABDRUCK
aus der
INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT FUR ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
herausgegeben von Professor S. Freud, redigiert von Dr. 8. Ferenczi und Dr. 0. Rank,
I. Jahrgang 1913. Verlag von Hugo Heller & Co. in Leipzig und Wien I. Bauernmarkt 3.
Abonnementspreis ganzjährig M 18. ~~ = К 21.60.Ein Traum als Beweismittel.
9 Von Sigm. Freud.Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell leidet, stellt an
ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen keinen Moment aus den Augen
gelassen zu werden, weil sie sonst zu griibeln beginnen würde, was sie in dem
unbewachten Zeitraum Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines
Abends auf dem Diwan ausruht, glaubt sie zu bemerken, daB die diensthabende
Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt: Haben sie mich gesehen? ; die Pflegerin
fährt auf und antwortet: Ja, gewiß. Die Kranke hat nun Grund zu einem
neuen Zweifel und wiederholt nach einer Weile dieselbe Frage. Die Pflegerin
beteuert es von neuem; in diesem Augenblicke bringt eine andere Dienerin
das Abendessen.Dies ereignet sich eines Freitag abends. Am nächsten Morgen erzählt
die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel der Patientin zerstreut,Traum. Man hat ihr ein Kind gegeben, die Mutter ist
abgereist, und sie hat das Kind verloren. Sie fragt unter-
wegs die Leute auf der Straße, ob sie das Kind gesehen
haben. Dann kommt sie an ein großes Wasser, geht über
einen schmalen Steg. (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem Steg
ist plotzlich die Person einer anderen Pflegerin wie eine
Fata Morgana vor ihr aufgetaucht.) Dann ist sie in einer ihr
bekannten Gegend und trifft dort eine Frau, die sie als
Mädchen gekannt hat, die damals Verkäuferin in einem
Efiwarengeschäft war, später aber geheiratet hat. Sie fragt
die vor ihrer Tiir stehende Frau: Haben Sie das Kind gesehen?
Die Frau interessiert sich aber nicht für diese Frage, sondern
erzählt ihr, daß sie jetzt von ihrem Manne geschieden ist,
wobei sie hinzufügt, daß es auch in der Ehe nicht immer
glücklich geht. Dann wacht sie beruhigt auf und denkt sich,
das Kind wird sich schon bei einer Nachbarin finden.Analyse. Von diesem Traum nahm die Patientin an, daB er sich auf
das von der Pflegerin abgeleugnete Einschlafen beziehe. Was ihr die Pflegerin,S.
i
å2 Beiträge zur Traumdeutung.
ohne ausgefragt zu werden, im Anschluß an den Traum erzählte, setzte sie
in den Stand, eine praktisch zureichende, wenn auch an manchen Stellen
unvollständige Deutung des Traumes vorzunehmen. Ich selbst habe nur den
Bericht der Dame gehört, nicht die Pflegerin gesprochen; ich werde, nachdem
die Patientin ihre Deutung vorgetragen hat, hinzufügen, was sich aus unserer
allgemeinen Einsichtnahme in die Gesetze der Traumbildung ergänzen lükt.»Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Traume denke sie an eine Pflege,
von welcher sie sich außerordentlich befriedigt gefühlt habe. Es handelte
sich um ein an blenorrhoischer Augenentzündung erkranktes Kind, das nicht
sehen konnte. Aber die Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie nahm an
der Pflege teil. Dagegen weiß ich, daß mein Mann, der viel auf diese Pflegerin
hält, mich ihr beim Abschied zur Behütung übergeben hat, und daß sie ihm
damals versprach, auf mich acht zu geben — wie auf ein Kind!“Wir erraten anderseits aus der Analyse der Patientin, daß sie sich mit
ihrer Forderung, nicht aus den Augen gelassen zu werden, selbst in die
Kindheit zurückversetzt hat,„Sie hat das Kind verloren, fährt die Patientin fort, heißt, sie hat mich
nicht gesehen, hat mich aus den Augen verloren. Das ist ihr Geständnis, daß
sie wirklich eine Weile geschlafen und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat.“Das Stückchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei den Leuten auf
der Straße nach dem Kinde fragt, blieb der Dame dunkel, dagegen weiß sie
über die weiteren Elemente des manifesten Traumes gute Auskunft zu geben.„Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber sie setzt hinzu,
es war doch weit größer als der Rhein. Sie erinnert sich dann, daß ich ihr
am Abend vorher die Geschichte von Jonas und dem Walfisch vorgelesen und
erzählt habe, daß ich selbst einmal im Ärmelkanal einen Walfisch gesehen,
Ich meine, das große Wasser ist das Meer, also eine Anspielung auf die
Geschichte von Jonas,“„Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der nämlichen, in Mundart
geschriebenen lustigen Geschichte herrührt. In ihr wird erzählt, daß der
Religionslehrer den Schulkindern das wunderbare Abenteuer des Jonas vorträgt,
worauf ein Knabe den Einwand macht, das könne doch nicht sein, denn der
Herr Lehrer habe ein anderes Mal gesagt, der Walfisch habe einen so engen
Schlund, daß er nur ganz kleine Tiere schlucken könne. Der Lehrer hilft
sich mit der Erklärung, Jonas sei eben ein Jude gewesen, und der drücke
sich überall durch. Meine Pflegerin ist sehr religiös, aber zu religiösen
Zweifeln geneigt, und ich habe mir darum Vorwürfe gemacht, daß ich durch
meine Vorlesung vielleicht ihre Zweifel angeregt habe.“„Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung einer anderen
ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren Geschichte erzählt, diese ist in
den Rhein gegangen, weil man sie aus der Pflege, in der sie sich etwas hatte
zu Schulden kommen lassen, weggeschickt hatte.!) Sie fürchtet also auch1) Ich habe mir an dieser Stelle eine Verdichtung des Materials zu Schulden
kommen lassen, die ich bei einer Revision der Niederschrift vor der referierenden
Dame korrigieren konnte. Die als Erscheinung auf dem Steg auftretende Pflegerin
hatte sich in der Pflege nichts zu Schulden kommen lassen. Sie wurde weggeschickt,
weil die Mutter des Kindes, die zur Abreise genötigt war, erklärte, sie wolle in ihrer
Abwesenheit eine ältere — also doch verläflichere — Warteperson bei dem Kinde
haben. Daran reihte sich eine zweite Erzählung von einer anderen Pflegerin, die
wirklich wegen einer Nachlässigkeit entlassen worden war, sich darum aber nicht
ertränkt hatte. Das für die Deutung des Traumelements nötige Material ist hier wieS.
Sigm. Freud: Ein Traum als Beweismittel. 3
wegen jenes Einschlafens weggeschickt zu werden. Übrigens hat sie am Tage
nach dem Vorfall und der Traumerzählung heftig geweint und mir, auf meine
Frage nach ihren Grinden, recht barsch geantwortet: Das wissen Sie so gut
wie ich, und jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr zu mir haben.“ *Da die Erscheinnng der ertränkten Pflegerin ein Nachtrag, und zwar
von besonderer Deutlichkeit war, håtten wir der Dame raten miissen, die
Traumdeutung an diesem Punkte zu beginnen. Diese erste НА те des Traumes
war nach dem Bericht der Trüumerin auch von heftigster Angst erfüllt, im
zweiten Teil bereitet sich die Beruhigung vor, mit welcher sie erwacht.„Im nächsten Stück des Traumes, setzt die analysierende Dame fort,
finde ich wieder einen sicheren Beweis får meine Auffassung, daB es sich darin
um den Vorfall am Freitag Abend handelt, denn mit der Frau, die frither
Verkäuferin in einem Eßwarengeschäft war, kann nur das Mädchen gemeint
sein, welches damals das Nachtmahl brachte. Ich bemerke, daB die Pflegerin
den ganzen Tag über Ubligkeiten geklagt hatte. Die Frage, die sie an die
Frau richtet: Haben Sie das Kind geschen?, ist ja offenbar abgeleitet von
meiner Frage: Haben Sie mich gesehen?, wie meine Formel lautet, die ich
eben zum zweitenmal stellte, als das Mädchen mit den Schüsseln eintrat.“Auch im Traume wird in zwei Stellen nach dem Kind gefragt. — Daß
die Frau keine Antwort gibt, sich nicht interessiert, möchten wir als eine
Herabsetzung der anderen Dienerin zu Gunsten der ‘Träumerin deuten, die
sich im Traum über die andere erhebt, gerade weil sie gegen Vorwürfe wegen
ihrer Unachtsamkeit anzukåmpfen hat. ⑧„Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich von ihrem Manne
geschieden. Die ganze Stelle stammt aus der Lebensgeschichte des anderen
Mädchens, welches durch das Machtwort ihrer Eltern von einem Manne fern
gehalten — geschieden — wird, der sie heiraten will. Der Satz, daß es in
der Ehe auch nicht immer gut abgeht, ist wahrscheinlich ein Trost, der in
Gesprächen der beiden zur Verwendung kam. Dieser Trost wird ihr zum
Vorbild für einen anderen, mit dem der Traum schließt; Das Kind wird sich
schon finden.“„Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die Pflegerin an
jenem Abend wirklich eingeschlafen war und darum weggeschickt zu werden
fürchtet. Ich habe darum den Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung
aufgegeben. Übrigens hat sie nach der Erzählung des Traumes hinzugefügt,
sie bedaure es sehr, daß sie kein Traumbuch mitgebracht habe. Als ich be-
merkte, in solchen Büchern stehe doch nur der schlimmste Aberglaube, ent-
gegnete sie, sie sei gar nicht abergläubisch, aber das müsse sie sagen: alle
Unannehmlichkeiten ihres Lebens seien ihr immer an Freitagen passiert.
Außerdem behandelt sie mich jetzt schlecht, zeigt sich empfindlich, reizbar
und macht mir Szenen.“Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen, daß sie den Traum
ihrer Pflegerin richtig gedeutet und verwertet hat. Wie so oft bei der Traum-
deutung in der Psychoanalyse kommen für die Übersetzung des Traumes nicht
allein die Ergebnisse der Assoziation in Betracht, sondern auch die Begleit- 3
umstände der Traumerzühlung, das Benehmen des Trüumers vor und nach der |sonst nicht selten, auf zwei Quellen verteilt. Mein Gedächtnis vollzog die
zur Deutung führende Synthese. — Übrigens findet sich in der Geschichte der er-
trånkten Pflegerin das Moment des Abreisens der Mutter, welches von der D:
die Abreise ihres Mannes bezogen wird. Wie man sieht, eine Uberdeterminiert
welche die Eleganz der Deutung beeinträchtigt.S.
- 4 Beiträge zur Traumdeutung,
Traumanalyse, sowie alles, was er ungefähr gleichzeitig mit dem Traume —
in derselben Stunde der Behandlung — äußert und verrät. Nehmen wir die
Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung auf den unglückbringenden Freitag
u. a. hinzu, so werden wir das Urteil bestätigen, der Traum enthalte das
Geständnis, daß sie damals, als sie es ableugnete, wirklich eingenickt sei und
darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu werden.!)Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische Bedeutung hatte,
regt bei uns das theoretische Interesse nach zwei Richtungen an. Der Traum
läuft zwar in eine Tröstung aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die
Beziehung zu ihrer Dame wichtiges Geständnis, Wie kommt der Traum,
der doch der Wunscherfüllung dienen soll, dazu, ein Geständnis zu ersetzen,
welches der Träumerin nicht einmal vorteilhaft wird? Sollen wir uns wirklich
veranlaßt finden, außer den Wunsch- (und Angst-) Träumen auch Geständnis-
träume zuzugeben, sowie Warnungsträume, Reflexionsträume, Anpassungs-
träume u. dgl.?Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe, warum der Stand-
punkt, den meine Traumdeutung gegen solche Versuchungen einnimmt, bei so
vielen und darunter namhaften Psychoanalytikern Bedenken findet. Die Unter-
scheidung von Wunsch-, Geständnis-, Warnungs- und Anpassungsträumen u. dgl.
scheint mir nicht viel sinnreicher, als die notgedrungen zugelassene Differen-
zierung ärztlicher Spezialisten in Frauen-, Kinder- und Zahnärzten. Ich nehme
mir hier die Freiheit, die Erörterungen der Traumdeutung über diesen Punkt
hier in äußerster Kürze zu wiederholen.?)Als Schlafstörer und Traumbildner können die sogenannten „Tagesreste“
fungieren, affektbesetzte Denkvorgänge des Traumtages, welche der allgemeinen
Schlaferniedrigung einigermaßen widerstanden haben. Diese Tagesreste deckt
man auf, indem man den manifesten Traum auf die latenten Traumgedanken
zurückführt; sie sind Stücke dieser letzteren, gehören also den — bewußt
oder vorbewußt gebliebenen — Tätigkeiten des Wachens an, die sich in die
Zeit des Schlafens fortsetzen mögen. Entsprechend der Mannigfaltigkeit der
Denkvorgänge im Bewußten und Vorbewußten haben diese Tagesreste die
vielfachsten und verschiedenartigsten Bedeutungen, es können unerledigte Wünsche
oder Befürchtungen sein, ebenso Vorsätze, Überlegungen, Warnungen, An-
passungsversuche an bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja die in
Rede stehende Charakteristik der Träume nach ihrem durch Deutung erkannten
Inhalt gerechtfertigt erscheinen. Aber diese Tagesreste sind noch nicht der
Traum, vielmehr fehlt ihnen das Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie
sind für sich allein nicht im stande, einen Traum zu bilden. Streng genommen
sind sie nur psychisches Material für die Traumarbeit, wie die zufällig vor-
handenen Sinnes- und Leibreize oder eingeführte experimentelle Bedingungen
deren somatisches Material bilden. Ihnen die Hauptrolle bei der Traum-
bildung zuschreiben, heißt nichts anderes als den voranalytischen Irrtum an
neuer Stelle wiederholen, Träume erklärten sich durch den Nachweis eines
verdorbeneri Magens oder einer gedrückten Hautstelle, So zählebig sind
wissenschaftliche Irrtiimer und so gern bereit, sich, wenn abgewiesen, unter
neuen Masken wieder einzuschleichen.Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, miissen wir sagen, der
wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein unbewuBter Wunsch, in der Regel1) Die Pflegerin gestand übrigens einige Tage später einer dritten Person ihr
Einschlafen an jenem Abend zu und rechtfertigte so die Deutung der Dame,
2) 3. Auflage, p. 367 u. ff.S.
Sigm. Freud: Ein Traum als Beweismittel. 5
ein infantiler, jetzt verdrängter, welcher sich in jenem somatischen oder
‚psychischen Material (also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck bringen
kann und ihnen darum seine Kraft leiht, so daß sie auch während der nächt-
lichen Denkpause zum Bewußtsein durchdringen können, Dieses unbe-
wubten Wunsches Erfüllung ist jedesmal der Traum, mag er sonst was immer
enthalten, Warnung, Überlegung, Geständnis und was sonst aus dem reichen
Inhalt des vorbewußten Wachlebens unerledigt in die Nacht hineinragt.
Dieser unbewußte Wunsch ist es, welcher der Traumarbeit ihren eigentümlichen
Charakter gibt als einer unbewußten Bearbeitung eines vorbewußten Materials.
Der Psychoanalytiker kann den Traum nur charakterisieren als Ergebnis der
Traumarbeit, die latenten Traumgedanken kann er nicht dem Traume zurechnen,
sondern dem vorbewußten Nachdenken, wenngleich er diese Gedanken erst
aus der Deutung des Traumes erfahren hat. (Die sekundäre Bearbeitung
durch die bewußte Instanz ist hiebei der Traumarbeit zugezählt; es wird an
dieser Auffassung nichts geändert, wenn man sie absondert. Man müßte dann
sagen: der Traum im psychoanalytischen Sinne umfaßt die eigentliche Traum-
arbeit und die sekundäre Bearbeitung ihres Ergebnisses.) Der Schluß aus
diesen Erwägungen lautet, daß man den Wunscherfüllungscharakter des
Traumes ‘nicht in einen Rang mit dessen Charakter als Warnung, Geständnis,
Lösungsversuch usw. versetzen darf, ohne den Gesichtspunkt der psychischen
Tiefendimension, also den Standpunkt der Psychoanalyse, zu verleugnen.Kehren wir nun zum Traume der Pflegerin zurück, um an ihm den
Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzuweisen. Wir sind darauf vorbe-
reitet, daß seine Deutung durch die Dame keine vollständige ist. Es erübrigen
die Partien des Trauminhaltes, denen sie nicht gerecht werden konnte, Sie
leidet überdies an einer Zwangsneurose, welche nach meinen Eindrücken das
Verständnis der Traumsymbole erheblich erschwert, ähnlich wie die. Dementia
praecox es erleichtert,Unsere Kenntnis der Traumsymbolik gestattet uns aber, ungedeutete
Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter den bereits gedeuteten einen
tieferen Sinn zu erraten. Es muß uns auffallen, daß einiges Material, welches
die Pflegerin verwendet, aus dem Komplex des Gebärens, Kinderhabens
kommt. Das große Wasser (der Rhein, der Kanal, in dem der Walfisch
gesehen wurde) ist wohl das Wasser, aus dem die Kinder kommen. Sie
kommt ja auch dahin „auf der Suche nach dem Kinde“. Die Jonasmythe
hinter der Determinierung dieses Wassers, die Frage, wie Jonas (das Kind)
durch die enge Spalte kommt, gehören demselben Zusammenhang an. Die
Pflegerin, die.sich aus Kränkung in den Rhein gestürzt hat, ins Wasser ge-
gangen ist, hat ja auch in ihrer Verzweiflung am Leben eine sexualsymbolische
Trostung an der Todesart gefunden. Der enge Steg, auf dem ihr die Er-
scheinung entgegentritt, ist sehr wahrscheinlich gleichfalls als ein Genitalsymbol
zu deuten, wenngleich ich gestehen muß, daß dessen genauere Erkenntnis noch
aussteht.Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der Traumbildner
aus dem Unbewußten zu sein, und kein anderer scheint besser geeignet, die
Pflegerin über die peinliche Situation der Realität zu trösten. „Man wird
mich wegschicken, ich werde mein Pflegekind verlieren. Was liegt daran?
Ich werde mir dafür ein eigenes, leibliches verschaffen.“ Vielleicht gehört
die ungedeutete Stelle, daß sie alle Leute auf der Straße nach dem Kinde
fragt, in diesen Zusammenhang; sie wäre dann zu übersetzen: und müßte ich
mich auf der Straße ausbieten, ich werde mir das Kind zu schaffen wissen.
Ein bisher verdeckter Trotz der Träumerin wird hier plötzlich laut, und zuS.
|
6 Beiträge zur Traumdeutung.
diesem paßt erst das Geständnis: „Also gut, ich habe die Augen zugemacht
und meine Verläßlichkeit als Pflegerin kompromittiert, ich werde jetzt die
Stelle verlieren, Werde ich so dumm sein, ins Wasser zu gehen. wie die X?
Nein, ich bleibe überhaupt nicht Pflegerin, ich will heiraten, Weib sein, ein
leibliches Kind haben, daran lasse ich mich nicht hindern.“ Diese Über-
setzung rechtfertigt sich durch die Erwägung, daß „Kinderhaben“ wohl der
infantile Ausdruck des Wunsches nach dem Sexualverkehr ist, wie es auch
vor dem Bewußtsein zum euphemistischen Ausdruck dieses anstößigen Wunsches
gewählt werden kann.Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem wohl im Wach-
leben eine gewisse Neigung vorhanden war, ist also im Traume ermöglicht
worden, indem ein latenter Charakterzug der Pflegerin sich desselben zur
Herstellung einer infantilen Wunscherfüllung bediente. Wir dürfen vermuten,
daß dieser Charakter in innigem Zusammenhang — zeitlichem wie inhaltlichem
— mit dem Wunsche nach Kind und Sexualgenuß steht,Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das erste Stück dieser
Traumdeutung danke, förderte folgende unerwartete Aufschlisse über
die Lebensschicksale der Pflegerin zu Tage. Sie ‚wollte, ehe sie Pflegerin
wurde, einen Mann heiraten, der sich eifrig um sie bemühte, verzichtete aber
darauf infolge des Einspruchs einer Tante, zu welcher sie in einem merk-
würdigen, aus Abhängigkeit und Trotz gemischten Verhältnis steht. Diese
Tante, die ihr das Heiraten versagte, ist selbst Oberin eines Krankenpfleger-
ordens; die Tråumerin sah in ihr immer ihr Vorbild, sie ist durch Erb-
rücksichten an sie gebunden, widersetzte sich ihr aber, indem sie nicht in
den Orden eintrat, den ihr die Tante bestimmt hatte. Der Trotz, der sich
im Traume verraten, gilt also der Tante. Wir haben diesem Charakterzug
analerotische Herkunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinteressen
sind, welche sie von der Tante abhängig machen, denken auch daran, daß
das Kind die anale Geburtstheorie bevorzugt.Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht einen innigeren
Zusammenhang zwischen den ersten und der letzten Szene des Traumes annehmen
lassen. Die ehemalige Verkäuferin von Eßwaren im Traume ist zunächst die
andere Dienerin der Dame, die im Moment der Frage: Haben Sie mich ge-
sehen? mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat, Aber es scheint, daß sie über-
haupt die Stelle der feindlichen Konkurrentin zu übernehmen bestimmt ist.
Sie wird als Pflegeperson herabgesetzt, indem sie sich für das verlorene Kind
gar nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegenheiten Antwort
gibt. Auf sie wird also die Gleichgültigkeit gegen das Pflegekind verschoben,
zu der sich die Träumerin gewendet hat. Ihr wird die unglückliche Ehe
und Scheidung angedichtet, welche die Träumerin in ihren geheimsten Wünschen
selbst fürchten müßte. Wir wissen aber, daf es die Tante ist, welche die
Triumerin von ihrem Verlobten geschieden hat. So mag die „Verkäuferin
von Eßwaren“ (was einer infantilen symbolischen Bedeutung nicht zu ent-
behren braucht) zur Repräsentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-
Oberin werden, welche bei unserer Träumerin die hergebrachte Rolle der Mutter-
Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Bestätigung dieser Deutung liegt in
dem Umstand, daß der im Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede stehende
Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben diese Tante als Oberin lebt.Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Objekt der Analyse
trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter in das Gewebe dieses Traumes
einzudringen. Man darf vielleicht sagen, auch soweit er der Deutung
zugänglich wurde, zeigte er sich reich an Bestätigungen wie an neuen Problemen,
3051-VS-26
1
–6