Ein Traum als Beweismittel 1913-004/1913.2
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    SEPARATABDRUCK

    aus der

    INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT FUR ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE

    herausgegeben von Professor S. Freud, redigiert von Dr. 8. Ferenczi und Dr. 0. Rank,
    I. Jahrgang 1913. Verlag von Hugo Heller & Co. in Leipzig und Wien I. Bauernmarkt 3.
    Abonnementspreis ganzjährig M 18. ~~ = К 21.60.

    Ein Traum als Beweismittel.
    9 Von Sigm. Freud.

    Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell leidet, stellt an
    ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen keinen Moment aus den Augen
    gelassen zu werden, weil sie sonst zu griibeln beginnen würde, was sie in dem
    unbewachten Zeitraum Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines
    Abends auf dem Diwan ausruht, glaubt sie zu bemerken, daB die diensthabende
    Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt: Haben sie mich gesehen? ; die Pflegerin
    fährt auf und antwortet: Ja, gewiß. Die Kranke hat nun Grund zu einem
    neuen Zweifel und wiederholt nach einer Weile dieselbe Frage. Die Pflegerin
    beteuert es von neuem; in diesem Augenblicke bringt eine andere Dienerin
    das Abendessen.

    Dies ereignet sich eines Freitag abends. Am nächsten Morgen erzählt
    die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel der Patientin zerstreut,

    Traum. Man hat ihr ein Kind gegeben, die Mutter ist
    abgereist, und sie hat das Kind verloren. Sie fragt unter-
    wegs die Leute auf der Straße, ob sie das Kind gesehen
    haben. Dann kommt sie an ein großes Wasser, geht über
    einen schmalen Steg. (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem Steg
    ist plotzlich die Person einer anderen Pflegerin wie eine
    Fata Morgana vor ihr aufgetaucht.) Dann ist sie in einer ihr
    bekannten Gegend und trifft dort eine Frau, die sie als
    Mädchen gekannt hat, die damals Verkäuferin in einem
    Efiwarengeschäft war, später aber geheiratet hat. Sie fragt
    die vor ihrer Tiir stehende Frau: Haben Sie das Kind gesehen?
    Die Frau interessiert sich aber nicht für diese Frage, sondern
    erzählt ihr, daß sie jetzt von ihrem Manne geschieden ist,
    wobei sie hinzufügt, daß es auch in der Ehe nicht immer
    glücklich geht. Dann wacht sie beruhigt auf und denkt sich,
    das Kind wird sich schon bei einer Nachbarin finden.

    Analyse. Von diesem Traum nahm die Patientin an, daB er sich auf
    das von der Pflegerin abgeleugnete Einschlafen beziehe. Was ihr die Pflegerin,

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    2 Beiträge zur Traumdeutung.

    ohne ausgefragt zu werden, im Anschluß an den Traum erzählte, setzte sie
    in den Stand, eine praktisch zureichende, wenn auch an manchen Stellen
    unvollständige Deutung des Traumes vorzunehmen. Ich selbst habe nur den
    Bericht der Dame gehört, nicht die Pflegerin gesprochen; ich werde, nachdem
    die Patientin ihre Deutung vorgetragen hat, hinzufügen, was sich aus unserer
    allgemeinen Einsichtnahme in die Gesetze der Traumbildung ergänzen lükt.

    »Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Traume denke sie an eine Pflege,
    von welcher sie sich außerordentlich befriedigt gefühlt habe. Es handelte
    sich um ein an blenorrhoischer Augenentzündung erkranktes Kind, das nicht
    sehen konnte. Aber die Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie nahm an
    der Pflege teil. Dagegen weiß ich, daß mein Mann, der viel auf diese Pflegerin
    hält, mich ihr beim Abschied zur Behütung übergeben hat, und daß sie ihm
    damals versprach, auf mich acht zu geben — wie auf ein Kind!“

    Wir erraten anderseits aus der Analyse der Patientin, daß sie sich mit
    ihrer Forderung, nicht aus den Augen gelassen zu werden, selbst in die
    Kindheit zurückversetzt hat,

    „Sie hat das Kind verloren, fährt die Patientin fort, heißt, sie hat mich
    nicht gesehen, hat mich aus den Augen verloren. Das ist ihr Geständnis, daß
    sie wirklich eine Weile geschlafen und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat.“

    Das Stückchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei den Leuten auf
    der Straße nach dem Kinde fragt, blieb der Dame dunkel, dagegen weiß sie
    über die weiteren Elemente des manifesten Traumes gute Auskunft zu geben.

    „Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber sie setzt hinzu,
    es war doch weit größer als der Rhein. Sie erinnert sich dann, daß ich ihr
    am Abend vorher die Geschichte von Jonas und dem Walfisch vorgelesen und
    erzählt habe, daß ich selbst einmal im Ärmelkanal einen Walfisch gesehen,
    Ich meine, das große Wasser ist das Meer, also eine Anspielung auf die
    Geschichte von Jonas,“

    „Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der nämlichen, in Mundart
    geschriebenen lustigen Geschichte herrührt. In ihr wird erzählt, daß der
    Religionslehrer den Schulkindern das wunderbare Abenteuer des Jonas vorträgt,
    worauf ein Knabe den Einwand macht, das könne doch nicht sein, denn der
    Herr Lehrer habe ein anderes Mal gesagt, der Walfisch habe einen so engen
    Schlund, daß er nur ganz kleine Tiere schlucken könne. Der Lehrer hilft
    sich mit der Erklärung, Jonas sei eben ein Jude gewesen, und der drücke
    sich überall durch. Meine Pflegerin ist sehr religiös, aber zu religiösen
    Zweifeln geneigt, und ich habe mir darum Vorwürfe gemacht, daß ich durch
    meine Vorlesung vielleicht ihre Zweifel angeregt habe.“

    „Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung einer anderen
    ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren Geschichte erzählt, diese ist in
    den Rhein gegangen, weil man sie aus der Pflege, in der sie sich etwas hatte
    zu Schulden kommen lassen, weggeschickt hatte.!) Sie fürchtet also auch

    1) Ich habe mir an dieser Stelle eine Verdichtung des Materials zu Schulden
    kommen lassen, die ich bei einer Revision der Niederschrift vor der referierenden
    Dame korrigieren konnte. Die als Erscheinung auf dem Steg auftretende Pflegerin
    hatte sich in der Pflege nichts zu Schulden kommen lassen. Sie wurde weggeschickt,
    weil die Mutter des Kindes, die zur Abreise genötigt war, erklärte, sie wolle in ihrer
    Abwesenheit eine ältere — also doch verläflichere — Warteperson bei dem Kinde
    haben. Daran reihte sich eine zweite Erzählung von einer anderen Pflegerin, die
    wirklich wegen einer Nachlässigkeit entlassen worden war, sich darum aber nicht
    ertränkt hatte. Das für die Deutung des Traumelements nötige Material ist hier wie

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    Sigm. Freud: Ein Traum als Beweismittel. 3

    wegen jenes Einschlafens weggeschickt zu werden. Übrigens hat sie am Tage
    nach dem Vorfall und der Traumerzählung heftig geweint und mir, auf meine
    Frage nach ihren Grinden, recht barsch geantwortet: Das wissen Sie so gut
    wie ich, und jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr zu mir haben.“ *

    Da die Erscheinnng der ertränkten Pflegerin ein Nachtrag, und zwar
    von besonderer Deutlichkeit war, håtten wir der Dame raten miissen, die
    Traumdeutung an diesem Punkte zu beginnen. Diese erste НА те des Traumes
    war nach dem Bericht der Trüumerin auch von heftigster Angst erfüllt, im
    zweiten Teil bereitet sich die Beruhigung vor, mit welcher sie erwacht.

    „Im nächsten Stück des Traumes, setzt die analysierende Dame fort,
    finde ich wieder einen sicheren Beweis får meine Auffassung, daB es sich darin
    um den Vorfall am Freitag Abend handelt, denn mit der Frau, die frither
    Verkäuferin in einem Eßwarengeschäft war, kann nur das Mädchen gemeint
    sein, welches damals das Nachtmahl brachte. Ich bemerke, daB die Pflegerin
    den ganzen Tag über Ubligkeiten geklagt hatte. Die Frage, die sie an die
    Frau richtet: Haben Sie das Kind geschen?, ist ja offenbar abgeleitet von
    meiner Frage: Haben Sie mich gesehen?, wie meine Formel lautet, die ich
    eben zum zweitenmal stellte, als das Mädchen mit den Schüsseln eintrat.“

    Auch im Traume wird in zwei Stellen nach dem Kind gefragt. — Daß
    die Frau keine Antwort gibt, sich nicht interessiert, möchten wir als eine
    Herabsetzung der anderen Dienerin zu Gunsten der ‘Träumerin deuten, die
    sich im Traum über die andere erhebt, gerade weil sie gegen Vorwürfe wegen
    ihrer Unachtsamkeit anzukåmpfen hat. ⑧

    „Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich von ihrem Manne
    geschieden. Die ganze Stelle stammt aus der Lebensgeschichte des anderen
    Mädchens, welches durch das Machtwort ihrer Eltern von einem Manne fern
    gehalten — geschieden — wird, der sie heiraten will. Der Satz, daß es in
    der Ehe auch nicht immer gut abgeht, ist wahrscheinlich ein Trost, der in
    Gesprächen der beiden zur Verwendung kam. Dieser Trost wird ihr zum
    Vorbild für einen anderen, mit dem der Traum schließt; Das Kind wird sich
    schon finden.“

    „Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die Pflegerin an
    jenem Abend wirklich eingeschlafen war und darum weggeschickt zu werden
    fürchtet. Ich habe darum den Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung
    aufgegeben. Übrigens hat sie nach der Erzählung des Traumes hinzugefügt,
    sie bedaure es sehr, daß sie kein Traumbuch mitgebracht habe. Als ich be-
    merkte, in solchen Büchern stehe doch nur der schlimmste Aberglaube, ent-
    gegnete sie, sie sei gar nicht abergläubisch, aber das müsse sie sagen: alle
    Unannehmlichkeiten ihres Lebens seien ihr immer an Freitagen passiert.
    Außerdem behandelt sie mich jetzt schlecht, zeigt sich empfindlich, reizbar
    und macht mir Szenen.“

    Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen, daß sie den Traum
    ihrer Pflegerin richtig gedeutet und verwertet hat. Wie so oft bei der Traum-
    deutung in der Psychoanalyse kommen für die Übersetzung des Traumes nicht
    allein die Ergebnisse der Assoziation in Betracht, sondern auch die Begleit- 3
    umstände der Traumerzühlung, das Benehmen des Trüumers vor und nach der |

    sonst nicht selten, auf zwei Quellen verteilt. Mein Gedächtnis vollzog die
    zur Deutung führende Synthese. — Übrigens findet sich in der Geschichte der er-
    trånkten Pflegerin das Moment des Abreisens der Mutter, welches von der D:
    die Abreise ihres Mannes bezogen wird. Wie man sieht, eine Uberdeterminiert
    welche die Eleganz der Deutung beeinträchtigt.

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    - 4 Beiträge zur Traumdeutung,

    Traumanalyse, sowie alles, was er ungefähr gleichzeitig mit dem Traume —
    in derselben Stunde der Behandlung — äußert und verrät. Nehmen wir die
    Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung auf den unglückbringenden Freitag
    u. a. hinzu, so werden wir das Urteil bestätigen, der Traum enthalte das
    Geständnis, daß sie damals, als sie es ableugnete, wirklich eingenickt sei und
    darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu werden.!)

    Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische Bedeutung hatte,
    regt bei uns das theoretische Interesse nach zwei Richtungen an. Der Traum
    läuft zwar in eine Tröstung aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die
    Beziehung zu ihrer Dame wichtiges Geständnis, Wie kommt der Traum,
    der doch der Wunscherfüllung dienen soll, dazu, ein Geständnis zu ersetzen,
    welches der Träumerin nicht einmal vorteilhaft wird? Sollen wir uns wirklich
    veranlaßt finden, außer den Wunsch- (und Angst-) Träumen auch Geständnis-
    träume zuzugeben, sowie Warnungsträume, Reflexionsträume, Anpassungs-
    träume u. dgl.?

    Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe, warum der Stand-
    punkt, den meine Traumdeutung gegen solche Versuchungen einnimmt, bei so
    vielen und darunter namhaften Psychoanalytikern Bedenken findet. Die Unter-
    scheidung von Wunsch-, Geständnis-, Warnungs- und Anpassungsträumen u. dgl.
    scheint mir nicht viel sinnreicher, als die notgedrungen zugelassene Differen-
    zierung ärztlicher Spezialisten in Frauen-, Kinder- und Zahnärzten. Ich nehme
    mir hier die Freiheit, die Erörterungen der Traumdeutung über diesen Punkt
    hier in äußerster Kürze zu wiederholen.?)

    Als Schlafstörer und Traumbildner können die sogenannten „Tagesreste“
    fungieren, affektbesetzte Denkvorgänge des Traumtages, welche der allgemeinen
    Schlaferniedrigung einigermaßen widerstanden haben. Diese Tagesreste deckt
    man auf, indem man den manifesten Traum auf die latenten Traumgedanken
    zurückführt; sie sind Stücke dieser letzteren, gehören also den — bewußt
    oder vorbewußt gebliebenen — Tätigkeiten des Wachens an, die sich in die
    Zeit des Schlafens fortsetzen mögen. Entsprechend der Mannigfaltigkeit der
    Denkvorgänge im Bewußten und Vorbewußten haben diese Tagesreste die
    vielfachsten und verschiedenartigsten Bedeutungen, es können unerledigte Wünsche
    oder Befürchtungen sein, ebenso Vorsätze, Überlegungen, Warnungen, An-
    passungsversuche an bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja die in
    Rede stehende Charakteristik der Träume nach ihrem durch Deutung erkannten
    Inhalt gerechtfertigt erscheinen. Aber diese Tagesreste sind noch nicht der
    Traum, vielmehr fehlt ihnen das Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie
    sind für sich allein nicht im stande, einen Traum zu bilden. Streng genommen
    sind sie nur psychisches Material für die Traumarbeit, wie die zufällig vor-
    handenen Sinnes- und Leibreize oder eingeführte experimentelle Bedingungen
    deren somatisches Material bilden. Ihnen die Hauptrolle bei der Traum-
    bildung zuschreiben, heißt nichts anderes als den voranalytischen Irrtum an
    neuer Stelle wiederholen, Träume erklärten sich durch den Nachweis eines
    verdorbeneri Magens oder einer gedrückten Hautstelle, So zählebig sind
    wissenschaftliche Irrtiimer und so gern bereit, sich, wenn abgewiesen, unter
    neuen Masken wieder einzuschleichen.

    Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, miissen wir sagen, der
    wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein unbewuBter Wunsch, in der Regel

    1) Die Pflegerin gestand übrigens einige Tage später einer dritten Person ihr
    Einschlafen an jenem Abend zu und rechtfertigte so die Deutung der Dame,
    2) 3. Auflage, p. 367 u. ff.

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    Sigm. Freud: Ein Traum als Beweismittel. 5

    ein infantiler, jetzt verdrängter, welcher sich in jenem somatischen oder
    ‚psychischen Material (also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck bringen
    kann und ihnen darum seine Kraft leiht, so daß sie auch während der nächt-
    lichen Denkpause zum Bewußtsein durchdringen können, Dieses unbe-
    wubten Wunsches Erfüllung ist jedesmal der Traum, mag er sonst was immer
    enthalten, Warnung, Überlegung, Geständnis und was sonst aus dem reichen
    Inhalt des vorbewußten Wachlebens unerledigt in die Nacht hineinragt.
    Dieser unbewußte Wunsch ist es, welcher der Traumarbeit ihren eigentümlichen
    Charakter gibt als einer unbewußten Bearbeitung eines vorbewußten Materials.
    Der Psychoanalytiker kann den Traum nur charakterisieren als Ergebnis der
    Traumarbeit, die latenten Traumgedanken kann er nicht dem Traume zurechnen,
    sondern dem vorbewußten Nachdenken, wenngleich er diese Gedanken erst
    aus der Deutung des Traumes erfahren hat. (Die sekundäre Bearbeitung
    durch die bewußte Instanz ist hiebei der Traumarbeit zugezählt; es wird an
    dieser Auffassung nichts geändert, wenn man sie absondert. Man müßte dann
    sagen: der Traum im psychoanalytischen Sinne umfaßt die eigentliche Traum-
    arbeit und die sekundäre Bearbeitung ihres Ergebnisses.) Der Schluß aus
    diesen Erwägungen lautet, daß man den Wunscherfüllungscharakter des
    Traumes ‘nicht in einen Rang mit dessen Charakter als Warnung, Geständnis,
    Lösungsversuch usw. versetzen darf, ohne den Gesichtspunkt der psychischen
    Tiefendimension, also den Standpunkt der Psychoanalyse, zu verleugnen.

    Kehren wir nun zum Traume der Pflegerin zurück, um an ihm den
    Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzuweisen. Wir sind darauf vorbe-
    reitet, daß seine Deutung durch die Dame keine vollständige ist. Es erübrigen
    die Partien des Trauminhaltes, denen sie nicht gerecht werden konnte, Sie
    leidet überdies an einer Zwangsneurose, welche nach meinen Eindrücken das
    Verständnis der Traumsymbole erheblich erschwert, ähnlich wie die. Dementia
    praecox es erleichtert,

    Unsere Kenntnis der Traumsymbolik gestattet uns aber, ungedeutete
    Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter den bereits gedeuteten einen
    tieferen Sinn zu erraten. Es muß uns auffallen, daß einiges Material, welches
    die Pflegerin verwendet, aus dem Komplex des Gebärens, Kinderhabens
    kommt. Das große Wasser (der Rhein, der Kanal, in dem der Walfisch
    gesehen wurde) ist wohl das Wasser, aus dem die Kinder kommen. Sie
    kommt ja auch dahin „auf der Suche nach dem Kinde“. Die Jonasmythe
    hinter der Determinierung dieses Wassers, die Frage, wie Jonas (das Kind)
    durch die enge Spalte kommt, gehören demselben Zusammenhang an. Die
    Pflegerin, die.sich aus Kränkung in den Rhein gestürzt hat, ins Wasser ge-
    gangen ist, hat ja auch in ihrer Verzweiflung am Leben eine sexualsymbolische
    Trostung an der Todesart gefunden. Der enge Steg, auf dem ihr die Er-
    scheinung entgegentritt, ist sehr wahrscheinlich gleichfalls als ein Genitalsymbol
    zu deuten, wenngleich ich gestehen muß, daß dessen genauere Erkenntnis noch
    aussteht.

    Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der Traumbildner
    aus dem Unbewußten zu sein, und kein anderer scheint besser geeignet, die
    Pflegerin über die peinliche Situation der Realität zu trösten. „Man wird
    mich wegschicken, ich werde mein Pflegekind verlieren. Was liegt daran?
    Ich werde mir dafür ein eigenes, leibliches verschaffen.“ Vielleicht gehört
    die ungedeutete Stelle, daß sie alle Leute auf der Straße nach dem Kinde
    fragt, in diesen Zusammenhang; sie wäre dann zu übersetzen: und müßte ich
    mich auf der Straße ausbieten, ich werde mir das Kind zu schaffen wissen.
    Ein bisher verdeckter Trotz der Träumerin wird hier plötzlich laut, und zu

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    6 Beiträge zur Traumdeutung.

    diesem paßt erst das Geständnis: „Also gut, ich habe die Augen zugemacht
    und meine Verläßlichkeit als Pflegerin kompromittiert, ich werde jetzt die
    Stelle verlieren, Werde ich so dumm sein, ins Wasser zu gehen. wie die X?
    Nein, ich bleibe überhaupt nicht Pflegerin, ich will heiraten, Weib sein, ein
    leibliches Kind haben, daran lasse ich mich nicht hindern.“ Diese Über-
    setzung rechtfertigt sich durch die Erwägung, daß „Kinderhaben“ wohl der
    infantile Ausdruck des Wunsches nach dem Sexualverkehr ist, wie es auch
    vor dem Bewußtsein zum euphemistischen Ausdruck dieses anstößigen Wunsches
    gewählt werden kann.

    Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem wohl im Wach-
    leben eine gewisse Neigung vorhanden war, ist also im Traume ermöglicht
    worden, indem ein latenter Charakterzug der Pflegerin sich desselben zur
    Herstellung einer infantilen Wunscherfüllung bediente. Wir dürfen vermuten,
    daß dieser Charakter in innigem Zusammenhang — zeitlichem wie inhaltlichem
    — mit dem Wunsche nach Kind und Sexualgenuß steht,

    Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das erste Stück dieser
    Traumdeutung danke, förderte folgende unerwartete Aufschlisse über
    die Lebensschicksale der Pflegerin zu Tage. Sie ‚wollte, ehe sie Pflegerin
    wurde, einen Mann heiraten, der sich eifrig um sie bemühte, verzichtete aber
    darauf infolge des Einspruchs einer Tante, zu welcher sie in einem merk-
    würdigen, aus Abhängigkeit und Trotz gemischten Verhältnis steht. Diese
    Tante, die ihr das Heiraten versagte, ist selbst Oberin eines Krankenpfleger-
    ordens; die Tråumerin sah in ihr immer ihr Vorbild, sie ist durch Erb-
    rücksichten an sie gebunden, widersetzte sich ihr aber, indem sie nicht in
    den Orden eintrat, den ihr die Tante bestimmt hatte. Der Trotz, der sich
    im Traume verraten, gilt also der Tante. Wir haben diesem Charakterzug
    analerotische Herkunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinteressen
    sind, welche sie von der Tante abhängig machen, denken auch daran, daß
    das Kind die anale Geburtstheorie bevorzugt.

    Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht einen innigeren
    Zusammenhang zwischen den ersten und der letzten Szene des Traumes annehmen
    lassen. Die ehemalige Verkäuferin von Eßwaren im Traume ist zunächst die
    andere Dienerin der Dame, die im Moment der Frage: Haben Sie mich ge-
    sehen? mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat, Aber es scheint, daß sie über-
    haupt die Stelle der feindlichen Konkurrentin zu übernehmen bestimmt ist.
    Sie wird als Pflegeperson herabgesetzt, indem sie sich für das verlorene Kind
    gar nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegenheiten Antwort
    gibt. Auf sie wird also die Gleichgültigkeit gegen das Pflegekind verschoben,
    zu der sich die Träumerin gewendet hat. Ihr wird die unglückliche Ehe
    und Scheidung angedichtet, welche die Träumerin in ihren geheimsten Wünschen
    selbst fürchten müßte. Wir wissen aber, daf es die Tante ist, welche die
    Triumerin von ihrem Verlobten geschieden hat. So mag die „Verkäuferin
    von Eßwaren“ (was einer infantilen symbolischen Bedeutung nicht zu ent-
    behren braucht) zur Repräsentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-
    Oberin werden, welche bei unserer Träumerin die hergebrachte Rolle der Mutter-
    Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Bestätigung dieser Deutung liegt in
    dem Umstand, daß der im Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede stehende
    Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben diese Tante als Oberin lebt.

    Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Objekt der Analyse
    trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter in das Gewebe dieses Traumes
    einzudringen. Man darf vielleicht sagen, auch soweit er der Deutung
    zugänglich wurde, zeigte er sich reich an Bestätigungen wie an neuen Problemen,