Meine Ansicht über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 1906-001/1906.2
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    XIV.

    Meine Ansichten über die Rolle der
    Sexualität in der Ätiologie der Neurosen1).

    „Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über die
    ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neu-
    rosen am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung nach-
    geht. Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben abzuleugnen,
    daß sie eine Entwicklung durchgemacht und sich während
    derselben verändert hat. Die Fachgenossen könnten in diesem
    Zugeständnis die Gewähr finden, daß diese Theorie nichts
    anderes ist als der Niederschlag fortgesetzter und vertiefter
    Erfahrungen. Was im Gegensatze hierzu der Spekulation ent-
    sprungen ist, das kann allerdings leicht mit einem Schlage
    vollständig und dann unveränderlich auftreten.

    Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als
    „Neurasthenie“ zusammengefaßten Krankheitsbilder, unter
    denen mir zwei, gelegentlich auch rein auftretende Typen,
    auffielen, die ich als „eigentliche Neurasthenie“ und
    als „Angstneurose“ beschrieben habe. Es war ja immer
    bekannt, daß sexuelle Momente in der Verursachung dieser
    Formen eine Rolle spielen können, aber man fand dieselben
    weder regelmäßig wirksam, noch dachte man daran, ihnen
    einen Vorrang vor anderen ätiologischen Einflüssen einzu-
    räumen. Ich wurde zunächst von der Häufigkeit grober
    Störungen in der Vita sexualis der Nervösen überrascht; je
    mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu suchen, wobei
    ich mir vorhielt, daß die Menschen alle in sexuellen Dingen
    die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde, das
    Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen,

    1) Aus: Löwenfeld, „Sexualleben und Nervenleiden“, IV. Aufl., 1906.

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    desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente
    aus dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemein-
    heit wenig zu fehlen schien. Man mußte aber von vornherein
    auf ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmäßig-
    keiten unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer
    Gesellschaft gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben,
    welches Maß von Abweichung von der normalen Sexualfunktion
    als Krankheitsursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte
    daher auf den regelmäßigen Nachweis sexueller Noxen nur
    weniger Wert legen als auf eine zweite Erfahrung, die mir
    eindeutiger erschien. Es ergab sich, daß die Form der Er-
    krankung, ob Neurasthenie oder Angstneurose, eine konstante
    Beziehung zur Art der sexuellen Schädlichkeit zeige. In den
    typischen Fällen der Neurasthenie war regelmäßig Masturbation
    oder gehäufte Pollutionen, bei der Angstneurose waren Fak-
    toren wie der Coitus interruptus, die „frustrane Erregung“
    u. a. nachweisbar, an denen das Moment der ungenügenden
    Abfuhr der erzeugten Libido das Gemeinsame schien. Erst
    seit dieser leicht zu machenden und beliebig oft zu bestäti-
    genden Erfahrung hatte ich den Mut, für die sexuellen Ein-
    flüsse eine bevorzugte Stellung in der Ätiologie der Neurosen
    zu beanspruchen. Es kam hinzu, daß bei den so häufigen
    Mischformen von Neurasthenie und Angstneurose auch die
    Vermengung der für die beiden Formen angenommenen Ätio-
    logien aufzuzeigen war und daß eine solche Zweiteilung in
    der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren Charakter
    der Sexualität (männlich und weiblich) gut zu stimmen schien.

    Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Be-
    deutung für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies1),
    huldigte ich noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie
    und Zwangsvorstellungen) einer rein psychologischen Theorie,
    in welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere
    emotionelle Quellen in Betracht kam. Ich hatte im Verein
    mit J. Breuer und im Anschluß an Beobachtungen, die er

    1) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
    Symptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen. Neurol. Cen-
    tralblatt, 1895.

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    gut ein Dezennium vorher an einer hysterischen Kranken
    gemacht hatte, den Mechanismus der Entstehung hysterischer
    Symptome mittels des Erweckens von Erinnerungen im hyp-
    notischen Zustande studiert, und wir waren zu Aufschlüssen
    gelangt, welche gestatteten, die Brücke von der traumatischen
    Hysterie Charcot‘s zur gemeinen, nicht traumatischen, zu
    schlagen1). Wir waren zur Auffassung gelangt, daß die hyste-
    rischen Symptome Dauerwirkungen von psychischen Traumen
    sind, deren zugehörige Affektgröße durch besondere Bedin-
    gungen von bewußter Bearbeitung abgedrängt worden ist
    und sich darum einen abnormen Weg in die Körperinnervation
    gebahnt hat. Die Termini „eingeklemmter Affekt“,
    Konversion“ und „Abreagieren“ fassen das Kenn-
    zeichnende dieser Anschauung zusammen.

    Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den
    einfachen Neurosen, die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten
    die diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt,
    konnte es aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet
    gewonnene Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Über-
    dies führte, von solcher Beeinflussung abgesehen, auch die
    Vertiefung in den psychischen Mechanismus der hysterischen
    Symptome zu dem gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich
    bei dem von Breuer und mir eingesetzten „kathartischen“
    Verfahren den psychischen Traumen, von denen sich die
    hysterischen Symptome ableiteten, immer weiter nachspürte,
    gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche der Kindheit
    des Kranken angehörten und sein Sexualleben betrafen, und
    zwar auch in solchen Fällen, in denen eine banale Emotion
    nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit veranlaßt
    hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit in Be-
    tracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären,
    deren Determinierung verständlich finden, noch deren Wieder-
    kehr verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung
    sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als
    unzweifelhaft festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis
    heute einer der Grundpfeiler der Theorie geblieben.

    1) Studien über Hysterie, 1905.

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    Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der
    lebenslangen hysterischen Neurose liege in den meist an sich
    geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so
    mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man
    aber auf die historische Entwicklung der Lehre Rücksicht,
    verlegt den Hauptinhalt derselben in den Satz, die Hysterie
    sei der Ausdruck eines besonderen Verhaltens der Sexual-
    funktion des Individuums, und dieses Verhalten werde bereits
    durch die ersten in der Kindheit einwirkenden Einflüsse und
    Erlebnisse maßgebend bestimmt, so sind wir zwar um ein
    Paradoxon ärmer, aber um ein Motiv bereichert worden, den
    bisher arg vernachlässigten, höchst bedeutsamen Nachwirkungen
    der Kindheitseindrücke überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu
    schenken.

    Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den
    sexuellen Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und
    Zwangsneurose) sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu be-
    handeln, kehre ich zu der Gestaltung der Theorie zurück,
    welche diese in einigen kleinen, vorläufigen Publikationen
    der Jahre 1895 und 1896 angenommen hat1). Die Hervorhebung
    der angenommenen ätiologischen Momente gestattete damals,
    die gemeinen Neurosen als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie
    den Psychoneurosen gegenüberzustellen, deren Ätiologie
    vor allem in den sexuellen Erlebnissen der Vorzeit zu suchen
    war. Die Lehre gipfelte in dem Satze: Bei normaler Vita
    sexualis ist eine Neurose unmöglich.

    Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
    halte, so ist es doch nicht zu verwundern, daß ich in zehn
    Jahren fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser
    Verhältnisse über meinen damaligen Standpunkt ein gutes
    Stück weit hinausgekommen bin und mich heute in der Lage
    glaube, die Unvollständigkeit, die Verschiebungen und die
    Mißverständnisse, an denen die Lehre damals litt, durch ein-
    gehendere Erfahrung zu korrigieren. Ein Zufall des damals
    noch spärlichen Materials hatte mir eine unverhältnismäßig

    1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr, Neuropsychosen, Neurol.
    Centralblatt, 1896. – Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische
    Rundschau, 1896. 

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    große Anzahl von Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichte
    die sexuelle Verführung durch Erwachsene oder andere ältere
    Kinder die Hauptrolle spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit
    dieser (sonst nicht anzuzweifelnden) Vorkommnisse, überdies
    da ich zu jener Zeit nicht imstande war, die Erinnerungs-
    täuschungen der Hysterischen über ihre Kindheit von den
    Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu unterscheiden,
    während ich seitdem gelernt habe, so manche Verführungs-
    phantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung der eigenen
    sexuellen Betätigung (Kindermasturbation) aufzulösen. Mit
    dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „traumatischen“
    Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb
    die Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob
    spontan oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der
    Reife die Richtung vorschreibt. Dieselbe Aufklärung, die ja
    den bedeutsamsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte,
    mußte auch die Auffassung vom Mechanismus der hysterischen
    Symptome verändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr
    als direkte Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen an
    sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern zwischen die Symptome
    und die infantilen Eindrücke schoben sich nun die (meist in
    den Pubertätsjahren produzierten) Phantasien (Erinnerungs-
    dichtungen) der Kranken ein, die auf der einen Seite sich
    aus und über den Kindheitserinnerungen aufbauten, auf der
    anderen sich unmittelbar in die Symptome umsetzten. Erst
    mit der Einführung des Elementes der hysterischen Phantasien
    wurde das Gefüge der Neurose und deren Beziehung zum
    Leben der Kranken durchsichtig; auch ergab sich eine wirk-
    lich überraschende Analogie zwischen diesen unbewußten
    Phantasien der Hysteriker und den als Wahn bewußt ge-
    wordenen Dichtungen bei der Paranoia.

    Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexual-
    traumen“ in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der
    Sexualität“ ersetzt. Eine zweite Abänderung der ursprüng-
    lichen Theorie lag nicht ferne. Mit der angenommenen
    Häufigkeit der Verführung in der Kindheit entfiel auch die
    übergroße Betonung der accidentellen Beeinflussung der
    Sexualität, welcher ich bei der Verursachung des Krankseins

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    die Hauptrolle zuschieben wollte, ohne darum konstitutionelle
    und hereditäre Momente zu leugnen. Ich hatte sogar gehofft,
    das Problem der Neurosenwahl, die Entscheidung darüber,
    welcher Form von Psychoneurose der Kranke verfallen solle,
    durch die Einzelheiten der sexuellen Kindererlebnisse zu
    lösen, und damals – wenn auch mit Zurückhaltung – gemeint,
    daß passives Verhalten bei diesen Szenen die spezifische
    Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die für die Zwangs-
    neurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich später völlig
    Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche den geahnten
    Zusammenhang zwischen Passivität und Hysterie, Aktivität
    und Zwangsneurose in irgendeiner Weise aufrecht zu halten
    gebietet. Mit dem Rücktritt der accidentellen Einflüsse des
    Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Heredität
    wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede
    gegen die sonst herrschende Anschauung, daß bei mir die
    „sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen neuro-
    pathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den Ver-
    such gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Kon-
    stitution sowie die Zusammengesetztheit des Sexualtriebs
    überhaupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitrags-
    quellen im Organismus zu schildern.

    Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten
    Auffassung der „sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich
    nun die Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in
    den Veröffentlichungen der Jahre 1894‑1896 angezeigt worden
    war. Ich hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität
    in die ihr gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt
    war, als Bedingung für die pathogene Wirksamkeit eines
    Erlebnisses angegeben, daß dieses dem Ich unerträglich er-
    scheinen und ein Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse1).
    Auf diese Abwehr hatte ich die psychische Spaltung – oder
    wie man damals sagte: die Bewußtseinsspaltung – der Hysterie

    1) Die Abwehr‑Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie
    der acquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser
    halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Zentralblatt, 1894.

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    zurückgeführt. Gelang die Abwehr, so war das unerträgliche
    Erlebnis mit seinen Affektfolgen aus dem Bewußtsein und der
    Erinnerung des Ichs vertrieben; unter gewissen Verhältnissen
    entfaltete aber das Vertriebene als ein nun Unbewußtes seine
    Wirksamkeit und kehrte mittels der Symptome und der an ihnen
    haftenden Affekte ins Bewußtsein zurück, so daß die Erkrankung
    einem Mißglücken der Abwehr entsprach. Diese Auffassung
    hatte das Verdienst, auf das Spiel der psychischen Kräfte
    einzugehen und somit die seelischen Vorgänge der Hysterie 
    den normalen anzunähern, anstatt die Charakteristik der Neurose
    in eine rätselhafte und weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.

    Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
    Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle
    Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben
    der Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß speziell die
    Rolle der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die
    accidentellen Einflüsse noch mehr gegen den der „Ver-
    drängung
    “ (wie ich anstatt „Abwehr“ zu sagen begann)
    zurück. Es kam also nicht darauf an, was ein Individuum in
    seiner Kindheit an sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern
    vor allem auf seine Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es
    diese Eindrücke mit der „Verdrängung“ beantwortet habe
    oder nicht. Bei spontaner infantiler Sexualbetätigung ließ sich
    zeigen, daß dieselbe häufig im Laufe der Entwicklung durch
    einen Akt der Verdrängung abgebrochen wurde. Das geschlechts-
    reife neurotische Individuum brachte so ein Stück „Sexual-
    verdrängung“ regelmäßig aus seiner Kindheit mit, das bei den
    Anforderungen des realen Lebens zur Äußerung kam, und
    die Psychoanalysen Hysterischer zeigten, daß ihre Erkrankung
    ein Erfolg des Konflikts zwischen der Libido und der Sexual-
    verdrängung sei und daß ihre Symptome den Wert von
    Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen haben.

    Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen
    von der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie
    nicht weiter aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, wo
    ich auf die somatischen Vorgänge, in denen das Wesen der

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    Sexualität zu suchen ist, ein allerdings erst spärliches Licht
    zu werfen versucht habe. Ich habe dort ausgeführt, daß die
    konstitutionelle sexuelle Anlage des Kindes eine ungleich
    buntere ist, als man erwarten konnte, daß sie „polymorph
    pervers“ genannt zu werden verdient, und daß aus dieser
    Anlage durch Verdrängung gewisser Komponenten das so-
    genannte normale Verhalten der Sexualfunktion hervorgeht.
    Ich konnte durch den Hinweis auf die infantilen Charaktere
    der Sexualität eine einfache Verknüpfung zwischen Gesundheit,
    Perversion und Neurose herstellen. Die Norm ergab sich aus
    der Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten der
    infantilen Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter
    das Primat der Genitalzonen im Dienste der Fortpflanzungs-
    funktion; die Perversionen entsprachen Störungen dieser
    Zusammenfassung durch die übermächtige zwangsartige Ent-
    wicklung einzelner dieser Partialtriebe, und die Neurose führte
    sich auf eine zu weitgehende Verdrängung der libidinösen
    Strebungen zurück. Da fast alle perversen Triebe der infantilen
    Anlage als symptombildende Kräfte bei der Neurose nach-
    weisbar sind, sich aber bei ihr im Zustande der Verdrängung
    befinden, konnte ich die Neurose als das „Negativ“ der Per-
    version bezeichnen.

    Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine An-
    schauungen über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen
    Wandlungen doch zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder
    verlassen haben, die Schätzung der Sexualität und des
    Infantilismus. Sonst sind an die Stelle accidenteller Ein-
    flüsse konstitutionelle Momente, für die rein psychologisch
    gemeinte „Abwehr“ ist die organische „Sexualverdrängung“
    eingetreten. Sollte nun jemand fragen, wo ein zwingender
    Beweis für die behauptete ätiologische Bedeutung sexueller
    Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden sei, da man
    doch diese Erkrankungen auf die banalsten Gemütsbewegungen
    und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen sieht, auf
    eine spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kinder-
    erlebnisse verzichten muß, so nenne ich die psychoanalytische
    Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus welcher die
    bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn man

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    sich dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient,
    daß die Symptome die Sexualbetätigung der
    Kranken darstellen
    , die ganze oder eine partielle, aus
    den Quellen normaler oder perverser Partialtriebe der Sexua-
    lität. Nicht nur, daß ein guter Teil der hysterischen Sympto-
    matologie direkt aus den Äußerungen der sexuellen Erregtheit
    herstammt, nicht nur, daß eine Reihe von erogenen Zonen
    in der Neurose in Verstärkung infantiler Eigenschaften sich
    zur Bedeutung von Genitalien erhebt; die kompliziertesten
    Symptome selbst enthüllen sich als die konvertierten Dar-
    stellungen von Phantasien, welche eine sexuelle Situation
    zum Inhalte haben. Wer die Sprache der Hysterie zu deuten
    versteht, kann vernehmen, daß die Neurose nur von der
    verdrängten Sexualität der Kranken handelt. Man wolle nur
    die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantile
    Anlage umschriebenen Umfange verstehen. Wo eine banale
    Emotion zur Verursachung der Erkrankung gerechnet werden
    muß, weist die Analyse regelmäßig nach, daß die nicht
    fehlende sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses
    die pathogene Wirkung ausgeübt hat.

    Wir sind unversehens von der Frage nach der Ver-
    ursachung der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens
    vorgedrungen. Will man dem Rechnung tragen, was man
    durch die Psychoanalyse erfahren hat, so kann man nur
    sagen, das Wesen dieser Erkrankungen liege in Störungen
    der Sexualvorgänge, jener Vorgänge im Organismus, welche
    die Bildung und Verwendung der geschlechtlichen Libido
    bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden, daß man sich diese
    Vorgänge in letzter Linie als chemische vorstelle, so daß
    man in den sogenannten aktuellen Neurosen die somatischen,
    in den Psychoneurosen außerdem noch die psychischen Wir-
    kungen der Störungen im Sexualstoffwechsel erkennen dürfte.
    Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxikations‑ und
    Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden, mit dem
    M. Basedowi und M. Addisoni drängt sich ohneweiters
    klinisch auf, und so wie man diese beiden letzteren Erkran-
    kungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten“ beschreiben darf,
    so werden wohl auch bald die echten „Neurosen“ ihrer

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    Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
    müssen.

    Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was
    schädigend auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge
    einwirken kann. In erster Linie also die Noxen, welche die
    Sexualfunktion selbst betreffen, insoferne diese von der mit
    Kultur und Erziehung veränderlichen Sexualkonstitution als
    Schädlichkeiten angenommen werden. In zweiter Linie stehen
    alle andersartigen Noxen und Traumen, welche sekundär durch
    Allgemeinschädigung des Organismus die Sexualvorgänge in
    demselben zu schädigen vermögen. Man vergesse aber nicht,
    daß das ätiologische Problem bei den Neurosen mindestens
    ebenso kompliziert ist wie sonst bei der Krankheitsverursachung.
    Eine einzige pathogene Einwirkung ist fast niemals hinreichend;
    zu allermeist wird eine Mehrheit von ätiologischen Momenten
    erfordert, die einander unterstützen, die man also nicht in
    Gegensatz zu einander bringen darf. Dafür ist auch der Zu-
    stand des neurotischen Krankseins von dem der Gesundheit
    nicht scharf geschieden. Die Erkrankung ist das Ergebnis
    einer Summation, und das Maß der ätiologischen Bedingungen
    kann von irgendeiner Seite her voll gemacht werden. Die
    Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der Heredität oder
    in der Konstitution zu suchen, wäre keine geringere Ein-
    seitigkeit, als wenn man einzig die accidentellen Beeinflus-
    sungen der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben wollte,
    wenn sich doch die Aufklärung ergibt, daß das Wesen dieser
    Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvorgänge im
    Organismus gelegen ist.

    Wien, Juni 1905.