S.
225
XIV.
Meine Ansichten über die Rolle der
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen1).„Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über die
ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neu-
rosen am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung nach-
geht. Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben abzuleugnen,
daß sie eine Entwicklung durchgemacht und sich während
derselben verändert hat. Die Fachgenossen könnten in diesem
Zugeständnis die Gewähr finden, daß diese Theorie nichts
anderes ist als der Niederschlag fortgesetzter und vertiefter
Erfahrungen. Was im Gegensatze hierzu der Spekulation ent-
sprungen ist, das kann allerdings leicht mit einem Schlage
vollständig und dann unveränderlich auftreten.Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als
„Neurasthenie“ zusammengefaßten Krankheitsbilder, unter
denen mir zwei, gelegentlich auch rein auftretende Typen,
auffielen, die ich als „eigentliche Neurasthenie“ und
als „Angstneurose“ beschrieben habe. Es war ja immer
bekannt, daß sexuelle Momente in der Verursachung dieser
Formen eine Rolle spielen können, aber man fand dieselben
weder regelmäßig wirksam, noch dachte man daran, ihnen
einen Vorrang vor anderen ätiologischen Einflüssen einzu-
räumen. Ich wurde zunächst von der Häufigkeit grober
Störungen in der Vita sexualis der Nervösen überrascht; je
mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu suchen, wobei
ich mir vorhielt, daß die Menschen alle in sexuellen Dingen
die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde, das
Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen,1) Aus: Löwenfeld, „Sexualleben und Nervenleiden“, IV. Aufl., 1906.
S.
226
desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente
aus dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemein-
heit wenig zu fehlen schien. Man mußte aber von vornherein
auf ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmäßig-
keiten unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer
Gesellschaft gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben,
welches Maß von Abweichung von der normalen Sexualfunktion
als Krankheitsursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte
daher auf den regelmäßigen Nachweis sexueller Noxen nur
weniger Wert legen als auf eine zweite Erfahrung, die mir
eindeutiger erschien. Es ergab sich, daß die Form der Er-
krankung, ob Neurasthenie oder Angstneurose, eine konstante
Beziehung zur Art der sexuellen Schädlichkeit zeige. In den
typischen Fällen der Neurasthenie war regelmäßig Masturbation
oder gehäufte Pollutionen, bei der Angstneurose waren Fak-
toren wie der Coitus interruptus, die „frustrane Erregung“
u. a. nachweisbar, an denen das Moment der ungenügenden
Abfuhr der erzeugten Libido das Gemeinsame schien. Erst
seit dieser leicht zu machenden und beliebig oft zu bestäti-
genden Erfahrung hatte ich den Mut, für die sexuellen Ein-
flüsse eine bevorzugte Stellung in der Ätiologie der Neurosen
zu beanspruchen. Es kam hinzu, daß bei den so häufigen
Mischformen von Neurasthenie und Angstneurose auch die
Vermengung der für die beiden Formen angenommenen Ätio-
logien aufzuzeigen war und daß eine solche Zweiteilung in
der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren Charakter
der Sexualität (männlich und weiblich) gut zu stimmen schien.Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Be-
deutung für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies1),
huldigte ich noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie
und Zwangsvorstellungen) einer rein psychologischen Theorie,
in welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere
emotionelle Quellen in Betracht kam. Ich hatte im Verein
mit J. Breuer und im Anschluß an Beobachtungen, die er1) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen. Neurol. Cen-
tralblatt, 1895.S.
227
gut ein Dezennium vorher an einer hysterischen Kranken
gemacht hatte, den Mechanismus der Entstehung hysterischer
Symptome mittels des Erweckens von Erinnerungen im hyp-
notischen Zustande studiert, und wir waren zu Aufschlüssen
gelangt, welche gestatteten, die Brücke von der traumatischen
Hysterie Charcot‘s zur gemeinen, nicht traumatischen, zu
schlagen1). Wir waren zur Auffassung gelangt, daß die hyste-
rischen Symptome Dauerwirkungen von psychischen Traumen
sind, deren zugehörige Affektgröße durch besondere Bedin-
gungen von bewußter Bearbeitung abgedrängt worden ist
und sich darum einen abnormen Weg in die Körperinnervation
gebahnt hat. Die Termini „eingeklemmter Affekt“,
„Konversion“ und „Abreagieren“ fassen das Kenn-
zeichnende dieser Anschauung zusammen.Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den
einfachen Neurosen, die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten
die diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt,
konnte es aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet
gewonnene Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Über-
dies führte, von solcher Beeinflussung abgesehen, auch die
Vertiefung in den psychischen Mechanismus der hysterischen
Symptome zu dem gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich
bei dem von Breuer und mir eingesetzten „kathartischen“
Verfahren den psychischen Traumen, von denen sich die
hysterischen Symptome ableiteten, immer weiter nachspürte,
gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche der Kindheit
des Kranken angehörten und sein Sexualleben betrafen, und
zwar auch in solchen Fällen, in denen eine banale Emotion
nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit veranlaßt
hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit in Be-
tracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären,
deren Determinierung verständlich finden, noch deren Wieder-
kehr verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung
sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als
unzweifelhaft festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis
heute einer der Grundpfeiler der Theorie geblieben.1) Studien über Hysterie, 1905.
S.
228
Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der
lebenslangen hysterischen Neurose liege in den meist an sich
geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so
mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man
aber auf die historische Entwicklung der Lehre Rücksicht,
verlegt den Hauptinhalt derselben in den Satz, die Hysterie
sei der Ausdruck eines besonderen Verhaltens der Sexual-
funktion des Individuums, und dieses Verhalten werde bereits
durch die ersten in der Kindheit einwirkenden Einflüsse und
Erlebnisse maßgebend bestimmt, so sind wir zwar um ein
Paradoxon ärmer, aber um ein Motiv bereichert worden, den
bisher arg vernachlässigten, höchst bedeutsamen Nachwirkungen
der Kindheitseindrücke überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu
schenken.Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den
sexuellen Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und
Zwangsneurose) sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu be-
handeln, kehre ich zu der Gestaltung der Theorie zurück,
welche diese in einigen kleinen, vorläufigen Publikationen
der Jahre 1895 und 1896 angenommen hat1). Die Hervorhebung
der angenommenen ätiologischen Momente gestattete damals,
die gemeinen Neurosen als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie
den Psychoneurosen gegenüberzustellen, deren Ätiologie
vor allem in den sexuellen Erlebnissen der Vorzeit zu suchen
war. Die Lehre gipfelte in dem Satze: Bei normaler Vita
sexualis ist eine Neurose unmöglich.Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
halte, so ist es doch nicht zu verwundern, daß ich in zehn
Jahren fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser
Verhältnisse über meinen damaligen Standpunkt ein gutes
Stück weit hinausgekommen bin und mich heute in der Lage
glaube, die Unvollständigkeit, die Verschiebungen und die
Mißverständnisse, an denen die Lehre damals litt, durch ein-
gehendere Erfahrung zu korrigieren. Ein Zufall des damals
noch spärlichen Materials hatte mir eine unverhältnismäßig1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr, Neuropsychosen, Neurol.
Centralblatt, 1896. – Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische
Rundschau, 1896.S.
229
große Anzahl von Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichte
die sexuelle Verführung durch Erwachsene oder andere ältere
Kinder die Hauptrolle spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit
dieser (sonst nicht anzuzweifelnden) Vorkommnisse, überdies
da ich zu jener Zeit nicht imstande war, die Erinnerungs-
täuschungen der Hysterischen über ihre Kindheit von den
Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu unterscheiden,
während ich seitdem gelernt habe, so manche Verführungs-
phantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung der eigenen
sexuellen Betätigung (Kindermasturbation) aufzulösen. Mit
dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „traumatischen“
Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb
die Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob
spontan oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der
Reife die Richtung vorschreibt. Dieselbe Aufklärung, die ja
den bedeutsamsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte,
mußte auch die Auffassung vom Mechanismus der hysterischen
Symptome verändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr
als direkte Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen an
sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern zwischen die Symptome
und die infantilen Eindrücke schoben sich nun die (meist in
den Pubertätsjahren produzierten) Phantasien (Erinnerungs-
dichtungen) der Kranken ein, die auf der einen Seite sich
aus und über den Kindheitserinnerungen aufbauten, auf der
anderen sich unmittelbar in die Symptome umsetzten. Erst
mit der Einführung des Elementes der hysterischen Phantasien
wurde das Gefüge der Neurose und deren Beziehung zum
Leben der Kranken durchsichtig; auch ergab sich eine wirk-
lich überraschende Analogie zwischen diesen unbewußten
Phantasien der Hysteriker und den als Wahn bewußt ge-
wordenen Dichtungen bei der Paranoia.Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexual-
traumen“ in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der
Sexualität“ ersetzt. Eine zweite Abänderung der ursprüng-
lichen Theorie lag nicht ferne. Mit der angenommenen
Häufigkeit der Verführung in der Kindheit entfiel auch die
übergroße Betonung der accidentellen Beeinflussung der
Sexualität, welcher ich bei der Verursachung des KrankseinsS.
230
die Hauptrolle zuschieben wollte, ohne darum konstitutionelle
und hereditäre Momente zu leugnen. Ich hatte sogar gehofft,
das Problem der Neurosenwahl, die Entscheidung darüber,
welcher Form von Psychoneurose der Kranke verfallen solle,
durch die Einzelheiten der sexuellen Kindererlebnisse zu
lösen, und damals – wenn auch mit Zurückhaltung – gemeint,
daß passives Verhalten bei diesen Szenen die spezifische
Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die für die Zwangs-
neurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich später völlig
Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche den geahnten
Zusammenhang zwischen Passivität und Hysterie, Aktivität
und Zwangsneurose in irgendeiner Weise aufrecht zu halten
gebietet. Mit dem Rücktritt der accidentellen Einflüsse des
Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Heredität
wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede
gegen die sonst herrschende Anschauung, daß bei mir die
„sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen neuro-
pathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den Ver-
such gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Kon-
stitution sowie die Zusammengesetztheit des Sexualtriebs
überhaupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitrags-
quellen im Organismus zu schildern.Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten
Auffassung der „sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich
nun die Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in
den Veröffentlichungen der Jahre 1894‑1896 angezeigt worden
war. Ich hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität
in die ihr gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt
war, als Bedingung für die pathogene Wirksamkeit eines
Erlebnisses angegeben, daß dieses dem Ich unerträglich er-
scheinen und ein Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse1).
Auf diese Abwehr hatte ich die psychische Spaltung – oder
wie man damals sagte: die Bewußtseinsspaltung – der Hysterie1) Die Abwehr‑Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie
der acquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser
halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Zentralblatt, 1894.S.
231
zurückgeführt. Gelang die Abwehr, so war das unerträgliche
Erlebnis mit seinen Affektfolgen aus dem Bewußtsein und der
Erinnerung des Ichs vertrieben; unter gewissen Verhältnissen
entfaltete aber das Vertriebene als ein nun Unbewußtes seine
Wirksamkeit und kehrte mittels der Symptome und der an ihnen
haftenden Affekte ins Bewußtsein zurück, so daß die Erkrankung
einem Mißglücken der Abwehr entsprach. Diese Auffassung
hatte das Verdienst, auf das Spiel der psychischen Kräfte
einzugehen und somit die seelischen Vorgänge der Hysterie
den normalen anzunähern, anstatt die Charakteristik der Neurose
in eine rätselhafte und weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle
Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben
der Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß speziell die
Rolle der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die
accidentellen Einflüsse noch mehr gegen den der „Ver-
drängung“ (wie ich anstatt „Abwehr“ zu sagen begann)
zurück. Es kam also nicht darauf an, was ein Individuum in
seiner Kindheit an sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern
vor allem auf seine Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es
diese Eindrücke mit der „Verdrängung“ beantwortet habe
oder nicht. Bei spontaner infantiler Sexualbetätigung ließ sich
zeigen, daß dieselbe häufig im Laufe der Entwicklung durch
einen Akt der Verdrängung abgebrochen wurde. Das geschlechts-
reife neurotische Individuum brachte so ein Stück „Sexual-
verdrängung“ regelmäßig aus seiner Kindheit mit, das bei den
Anforderungen des realen Lebens zur Äußerung kam, und
die Psychoanalysen Hysterischer zeigten, daß ihre Erkrankung
ein Erfolg des Konflikts zwischen der Libido und der Sexual-
verdrängung sei und daß ihre Symptome den Wert von
Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen haben.Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen
von der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie
nicht weiter aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, wo
ich auf die somatischen Vorgänge, in denen das Wesen derS.
232
Sexualität zu suchen ist, ein allerdings erst spärliches Licht
zu werfen versucht habe. Ich habe dort ausgeführt, daß die
konstitutionelle sexuelle Anlage des Kindes eine ungleich
buntere ist, als man erwarten konnte, daß sie „polymorph
pervers“ genannt zu werden verdient, und daß aus dieser
Anlage durch Verdrängung gewisser Komponenten das so-
genannte normale Verhalten der Sexualfunktion hervorgeht.
Ich konnte durch den Hinweis auf die infantilen Charaktere
der Sexualität eine einfache Verknüpfung zwischen Gesundheit,
Perversion und Neurose herstellen. Die Norm ergab sich aus
der Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten der
infantilen Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter
das Primat der Genitalzonen im Dienste der Fortpflanzungs-
funktion; die Perversionen entsprachen Störungen dieser
Zusammenfassung durch die übermächtige zwangsartige Ent-
wicklung einzelner dieser Partialtriebe, und die Neurose führte
sich auf eine zu weitgehende Verdrängung der libidinösen
Strebungen zurück. Da fast alle perversen Triebe der infantilen
Anlage als symptombildende Kräfte bei der Neurose nach-
weisbar sind, sich aber bei ihr im Zustande der Verdrängung
befinden, konnte ich die Neurose als das „Negativ“ der Per-
version bezeichnen.Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine An-
schauungen über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen
Wandlungen doch zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder
verlassen haben, die Schätzung der Sexualität und des
Infantilismus. Sonst sind an die Stelle accidenteller Ein-
flüsse konstitutionelle Momente, für die rein psychologisch
gemeinte „Abwehr“ ist die organische „Sexualverdrängung“
eingetreten. Sollte nun jemand fragen, wo ein zwingender
Beweis für die behauptete ätiologische Bedeutung sexueller
Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden sei, da man
doch diese Erkrankungen auf die banalsten Gemütsbewegungen
und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen sieht, auf
eine spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kinder-
erlebnisse verzichten muß, so nenne ich die psychoanalytische
Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus welcher die
bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn manS.
233
sich dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient,
daß die Symptome die Sexualbetätigung der
Kranken darstellen, die ganze oder eine partielle, aus
den Quellen normaler oder perverser Partialtriebe der Sexua-
lität. Nicht nur, daß ein guter Teil der hysterischen Sympto-
matologie direkt aus den Äußerungen der sexuellen Erregtheit
herstammt, nicht nur, daß eine Reihe von erogenen Zonen
in der Neurose in Verstärkung infantiler Eigenschaften sich
zur Bedeutung von Genitalien erhebt; die kompliziertesten
Symptome selbst enthüllen sich als die konvertierten Dar-
stellungen von Phantasien, welche eine sexuelle Situation
zum Inhalte haben. Wer die Sprache der Hysterie zu deuten
versteht, kann vernehmen, daß die Neurose nur von der
verdrängten Sexualität der Kranken handelt. Man wolle nur
die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantile
Anlage umschriebenen Umfange verstehen. Wo eine banale
Emotion zur Verursachung der Erkrankung gerechnet werden
muß, weist die Analyse regelmäßig nach, daß die nicht
fehlende sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses
die pathogene Wirkung ausgeübt hat.Wir sind unversehens von der Frage nach der Ver-
ursachung der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens
vorgedrungen. Will man dem Rechnung tragen, was man
durch die Psychoanalyse erfahren hat, so kann man nur
sagen, das Wesen dieser Erkrankungen liege in Störungen
der Sexualvorgänge, jener Vorgänge im Organismus, welche
die Bildung und Verwendung der geschlechtlichen Libido
bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden, daß man sich diese
Vorgänge in letzter Linie als chemische vorstelle, so daß
man in den sogenannten aktuellen Neurosen die somatischen,
in den Psychoneurosen außerdem noch die psychischen Wir-
kungen der Störungen im Sexualstoffwechsel erkennen dürfte.
Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxikations‑ und
Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden, mit dem
M. Basedowi und M. Addisoni drängt sich ohneweiters
klinisch auf, und so wie man diese beiden letzteren Erkran-
kungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten“ beschreiben darf,
so werden wohl auch bald die echten „Neurosen“ ihrerS.
234
Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
müssen.Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was
schädigend auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge
einwirken kann. In erster Linie also die Noxen, welche die
Sexualfunktion selbst betreffen, insoferne diese von der mit
Kultur und Erziehung veränderlichen Sexualkonstitution als
Schädlichkeiten angenommen werden. In zweiter Linie stehen
alle andersartigen Noxen und Traumen, welche sekundär durch
Allgemeinschädigung des Organismus die Sexualvorgänge in
demselben zu schädigen vermögen. Man vergesse aber nicht,
daß das ätiologische Problem bei den Neurosen mindestens
ebenso kompliziert ist wie sonst bei der Krankheitsverursachung.
Eine einzige pathogene Einwirkung ist fast niemals hinreichend;
zu allermeist wird eine Mehrheit von ätiologischen Momenten
erfordert, die einander unterstützen, die man also nicht in
Gegensatz zu einander bringen darf. Dafür ist auch der Zu-
stand des neurotischen Krankseins von dem der Gesundheit
nicht scharf geschieden. Die Erkrankung ist das Ergebnis
einer Summation, und das Maß der ätiologischen Bedingungen
kann von irgendeiner Seite her voll gemacht werden. Die
Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der Heredität oder
in der Konstitution zu suchen, wäre keine geringere Ein-
seitigkeit, als wenn man einzig die accidentellen Beeinflus-
sungen der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben wollte,
wenn sich doch die Aufklärung ergibt, daß das Wesen dieser
Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvorgänge im
Organismus gelegen ist.Wien, Juni 1905.
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