S.
220
XIV.
Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität
in der Ätiologie der Neurosen1).„Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über
die ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die
Neurosen am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung
nachgeht. Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben abzu-
leugnen, daß sie eine Entwicklung durchgemacht und sich
während derselben verändert hat. Die Fachgenossen könnten
in diesem Zugeständnis die Gewähr finden, daß diese Theorie
nichts anderes ist als der Niederschlag fortgesetzter und ver-
tiefter Erfahrungen. Was im Gegensatze hierzu der Spekulation
entsprungen ist, das kann allerdings leicht mit einem Schlage
vollständig und dann unveränderlich auftreten.Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als
„Neurasthenie“ zusammengefaßten Krankheitsbilder, unter denen
mir zwei, gelegentlich auch rein auftretende Typen auffielen,
die ich als „eigentliche Neurasthenie“ und als „Angst-
neurose“ beschrieben habe. Es war ja immer bekannt, daß
sexuelle Momente in der Verursachung dieser Formen eine Rolle
spielen können, aber man fand dieselben weder regelmäßig
wirksam, noch dachte man daran, ihnen einen Vorrang vor anderen
ätiologischen Einflüssen einzuräumen. Ich wurde zunächst von
der Häufigkeit grober Störungen in der Vita sexualis der Nervösen
überrascht; je mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu
suchen, wobei ich mir vorhielt, daß die Menschen alle in sexuellen
Dingen die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde,1) Aus: Löwenfeld, „Sexualeben und Nervenleiden“, IV. Aufl., 1906.
S.
221
das Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen,
desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente
aus dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemeinheit
wenig zu fehlen schien. Man mußte aber von vornherein auf
ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmäßigkeiten
unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer Gesell-
schaft gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben, welches Maß
von Abweichung von der normalen Sexualfunktion als Krankheits-
ursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte daher auf den
regelmäßigen Nachweis sexueller Noxen nur weniger Wert legen
als auf eine zweite Erfahrung, die mir eindeutiger erschien. Es
ergab sich, daß die Form der Erkrankung, ob Neurasthenie oder
Angstneurose, eine konstante Beziehung zur Art der sexuellen
Schädlichkeit zeige. In den typischen Fällen der Neurasthenie
war regelmäßig Masturbation oder gehäufte Pollutionen, bei der
Angstneurose waren Faktoren wie der Coitus interruptus, die
„frustrane Erregung“ und andere nachweisbar, an denen das Moment
der ungenügenden Abfuhr der erzeugten Libido das Gemeinsame
schien. Erst seit dieser leicht zu machenden und beliebig oft zu
bestätigenden Erfahrung hatte ich den Mut, für die sexuellen
Einflüsse eine bevorzugte Stellung in der Ätiologie der Neurosen
zu beanspruchen. Es kam hinzu, daß bei den so häufigen Misch-
formen von Neurasthenie und Angstneurose auch die Vermengung
der für die beiden Formen angenommenen Ätiologien aufzuzeigen
war und daß eine solche Zweiteilung in der Erscheinungsform
der Neurose zu dem polaren Charakter der Sexualität (männlich
und weiblich) gut zu stimmen schien.Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Be-
deutung für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies1),
huldigte ich noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie
und Zwangsvorstellungen) einer rein psychologischen Theorie,
in welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere
emotionelle Quellen in Betracht kam. Ich hatte im Verein
mit J. Breuer und im Anschluß an Beobachtungen, die er
gut ein Dezennium vorher an einer hysterischen Kranken gemacht1) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrermen. Neurol. Zentral-
blatt, 1895.S.
222
hatte, den Mechanismus der Entstehung hysterischer Symptome
mittels des Erweckens von Erinnerungen im hypnotischen Zu-
stande studiert, und wir waren zu Aufschlüssen gelangt, welche
gestatteten, die Brücke von der traumatischen Hysterie Charcots
zur gemeinen, nicht traumatischen, zu schlagen1). Wir waren
zur Auffassung gelangt, daß die hysterischen Symptome Dauer-
wirkungen von psychischen Traumen sind, deren zugehörige
Affektgröße durch besondere Bedingungen von bewußter Be-
arbeitung abgedrängt worden ist und sich darum einen abnormen
Weg in die Körperinnervation gebahnt hat. Die Termini „ein-
geklemmter Affekt“, „Konversion“ und „Abreagieren“
fassen das Kennzeichnende dieser Anschauung zusammen.Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den
einfachen Neurosen, die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten
die diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt, konnte
es aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet gewonnene
Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Überdies führte,
von solcher Beeinflussung abgesehen, auch die Vertiefung in den
psychischen Mechanismus der hysterischen Symptome zu dem
gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich bei dem von Breuer
und mir eingesetzten „kathartischen“ Verfahren den psychischen
Traumen, von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten,
immer weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen,
welche der Kindheit des Kranken angehörten und sein Sexual-
leben betrafen, und zwar auch in solchen Fällen, in denen eine
banale Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit
veranlaßt hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit
in Betracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären,
deren Determinierung verständlich finden, noch deren Wiederkehr
verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung sexueller
Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als unzweifelhaft
festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis heute einer der
Grundpfeiler der Theorie geblieben.Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der
lebenslangen hysterischen Neurose liege in den meist an sich
geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so1) Studien über Hysterie, 1905.
S.
223
mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man aber
auf die historische Entwicklung der Lehre Rücksicht, verlegt den
Hauptinhalt derselben in den Satz, die Hysterie sei der Ausdruck
eines besonderen Verhaltens der Sexualfunktion des Individuums,
und dieses Verhalten werde bereits durch die ersten in der
Kindheit einwirkenden Einflüsse und Erlebnisse maßgebend
bestimmt, so sind wir zwar um ein Paradoxon ärmer, aber um
ein Motiv bereichert worden, den bisher arg vernachlässigten,
höchst bedeutsamen Nachwirkungen der Kindheitseindrücke über-
haupt unsere Aufmerksamkeit zu schenken.Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den sexuellen
Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und Zwangsneurose)
sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu behandeln, kehre ich
zu der Gestaltung der Theorie zurück, welche diese in einigen
kleinen, vorläufigen Publikationen der Jahre 1895 und 1896
angenommen hat1). Die Hervorhebung der angenommenen ätio-
logischen Momente gestattete damals, die gemeinen Neurosen als
Erkrankungen mit aktueller Ätiologie den Psychoneurosen gegen-
überzustellen, deren Ätiologie vor allem in den sexuellen Erleb-
nissen der Vorzeit zu suchen war. Die Lehre gipfelte in dem
Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmöglich.Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
halte, so ist es doch nicht zu verwundern, daß ich in zehn Jahren
fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser Verhältnisse
über meinen damaligen Standpunkt ein gutes Stück weit hinaus-
gekommen bin und mich heute in der Lage glaube, die Unvoll-
ständigkeit, die Verschiebungen und die Mißverständnisse, an
denen die Lehre damals litt, durch eingehendere Erfahrung zu
korrigieren. Ein Zufall des damals noch spärlichen Materials
hatte mir eine unverhältnismäßig große Anzahl von Fällen zu-
geführt, in deren Kindergeschichte die sexuelle Verführung durch
Erwachsene oder andere ältere Kinder die Hauptrolle spielte.
Ich überschätzte die Häufigkeit dieser (sonst nicht anzuzweifelnden)
Vorkommnisse, da ich überdies zu jener Zeit nicht imstande
war, die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen über1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen, Neurol.
Zentralblatt, 1896. – Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische Rund-
schau, 1896.S.
224
Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu
unterscheiden, während ich seitdem gelernt habe, so manche
Verführungsphantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung
der eigenen sexuellen Betätigung (Kindermasturbation) aufzulösen.
Mit dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „traumatischen“
Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb die
Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob spontan
oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der Reife
die Richtung vorschreibt. Dieselbe Aufklärung, die ja den
bedeutsamsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte, mußte
auch die Auffassung vom Mechanismus der hysterischen Symptome
verändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr als direkte Ab-
kömmlinge der verdrängten Erinnerungen an sexuelle Kindheits-
erlebnisse, sondern zwischen die Symptome und die infantilen
Eindrücke schoben sich nun die (meist in den Pubertätsjahren
produzierten) Phantasien (Erinnerungsdichtungen) der Kranken
ein, die auf der einen Seite sich aus und über den Kindheits-
erinnerungen aufbauten, auf der anderen sich unmittelbar in die
Symptome umsetzten. Erst mit der Einführung des Elementes
der hysterischen Phantasien wurde das Gefüge der Neurose und
deren Beziehung zum Leben der Kranken durchsichtig; auch
ergab sich eine wirklich überraschende Analogie zwischen diesen
unbewußten Phantasien der Hysteriker und den als Wahn bewußt
gewordenen Dichtungen bei der Paranoia.Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexual-
traumen“ in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der
Sexualität“ ersetzt. Eine zweite Abänderung der ursprünglichen
Theorie lag nicht ferne. Mit der angenommenen Häufigkeit der
Verführung in der Kindheit entfiel auch die übergroße Betonung
der akzidentellen Beeinflussung der Sexualität, welcher ich
bei der Verursachung des Krankseins die Hauptrolle zuschieben
wollte, ohne darum konstitutionelle und hereditäre Momente zu
leugnen. Ich hatte sogar gehofft, das Problem der Neurosenwahl,
die Entscheidung darüber, welcher Form von Psychoneurose
der Kranke verfallen solle, durch die Einzelheiten der sexuellen
Kindererlebnisse zu lösen, und damals – wenn auch mit Zurück-
haltung – gemeint, daß passives Verhalten bei diesen Szenen
die spezifische Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die fürS.
225
die Zwangsneurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich
später völlig Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche
den geahnten Zusammenhang zwischen Passivität und Hysterie,
Aktivität und Zwangsneurose in irgendeiner Weise aufrecht zu
halten gebietet. Mit dem Rücktritt der akzidentellen Einflüsse
des Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Here-
dität wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede
gegen die sonst herrschende Anschauung, daß bei mir die
„sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen neuro-
pathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den
Versuch gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Kon-
stitution sowie die Zusammengesetztheit des Sexualtriebes über-
haupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitragsquellen
im Organismus zu schildern.Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten Auf-
fassung der „sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich nun die
Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in den Veröffent-
lichungen der Jahre 1894 bis 1896 angezeigt worden war. Ich hatte
bereits damals, und noch ehe die Sexualität in die ihr gebührende
Stellung in der Ätiologie eingesetzt war, als Bedingung für die
pathogene Wirksamkeit eines Erlebnisses angegeben, daß dieses
dem Ich unerträglich erscheinen und ein Bestreben zur Abwehr
hervorrufen müsse1). Auf diese Abwehr hatte ich die psychische
Spaltung – oder wie man damals sagte: die Bewußtseins-
spaltung – der Hysterie zurückgeführt. Gelang die Abwehr,
so war das unerträgliche Erlebnis mit seinen Affektfolgen aus
dem Bewußtsein und der Erinnerung des Ichs vertrieben; unter
gewissen Verhältnissen entfaltete aber das Vertriebene als ein
nun Unbewußtes seine Wirksamkeit und kehrte mittels der
Symptome und der an ihnen haftenden Affekte ins Bewußtsein
zurück, so daß die Erkrankung einem Mißglücken der Abwehr
entsprach. Diese Auffassung hatte das Verdienst, auf das Spiel
der psychischen Kräfte einzugehen und somit die seelischen
Vorgänge der Hysterie den normalen anzunähern, anstatt die1) Die Abwehr‑Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie
der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und
gewisser halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Zentralblatt, 1894.S.
226
Charakteristik der Neurose in eine rätselhafte und weiter nicht
analysierbare Störung zu verlegen.Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle
Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben
der Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß speziell die Rolle
der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die akzidentellen
Einflüsse noch mehr gegen den der „Verdrängung“ (wie ich
anstatt „Abwehr“ zu sagen begann) zurück. Es kam also nicht
darauf an, was ein Individuum in seiner Kindheit an sexuellen
Erregungen erfahren hatte, sondern vor allem auf seine Reaktion
gegen diese Erlebnisse, ob es diese Eindrücke mit der „Ver-
drängung“ beantwortet habe oder nicht. Bei spontaner infantiler
Sexualbetätigung ließ sich zeigen, daß dieselbe häufig im Laufe
der Entwicklung durch einen Akt der Verdrängung abgebrochen
wurde. Das geschlechtsreife neurotische Individuum brachte so
ein Stück „Sexualverdrängung“ regelmäßig aus seiner Kindheit
mit, das bei den Anforderungen des realen Lebens zur Äußerung
kam, und die Psychoanalysen Hysterischer zeigten, daß ihre
Erkrankung ein Erfolg des Konflikts zwischen der Libido und
der Sexualverdrängung sei und daß ihre Symptome den Wert
von Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen haben.Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen
von der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie nicht
weiter aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, wo ich auf die somatischen
Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität zu suchen ist,
ein allerdings erst spärliches Licht zu werfen versucht habe.
Ich habe dort ausgeführt, daß die konstitutionelle sexuelle An-
lage des Kindes eine ungleich buntere ist, als man erwarten
konnte, daß sie „polymorph pervers“ genannt zu werden verdient,
und daß aus dieser Anlage durch Verdrängung gewisser Kom-
ponenten das sogenannte normale Verhalten der Sexualfunktion
hervorgeht. Ich konnte durch den Hinweis auf die infantilen
Charaktere der Sexualität eine einfache Verknüpfung zwischen
Gesundheit, Perversion und Neurose herstellen. Die Norm ergab
sich aus der Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten
der infantilen Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter dasS.
227
Primat der Genitalzonen im Dienste der Fortpflanzungsfunktion;
die Perversionen entsprachen Störungen dieser Zusammen-
fassung durch die übermächtige zwangsartige Entwicklung ein-
zelner dieser Partialtriebe, und die Neurose führte sich auf eine
zu weitgehende Verdrängung der libidinösen Strebungen zurück.
Da fast alle perversen Triebe der infantilen Anlage als symptom-
bildende Kräfte bei der Neurose nachweisbar sind, sich aber
bei ihr im Zustande der Verdrängung befinden, konnte ich die
Neurose als das „Negativ“ der Perversion bezeichnen.Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine Anschauungen
über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen Wandlungen doch
zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder verlassen haben, die
Schätzung der Sexualität und des Infantilismus. Sonst
sind an die Stelle akzidenteller Einflüsse konstitutionelle Momente,
für die rein psychologisch gemeinte „Abwehr“ ist die organische
„Sexualverdrängung“ eingetreten. Sollte nun jemand fragen,
wo ein zwingender Beweis für die behauptete ätiologische Be-
deutung sexueller Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden
sei, da man doch diese Erkrankungen auf die banalsten Gemüts-
bewegungen und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen
sieht, auf eine spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kinder-
erlebnisse verzichten muß, so nenne ich die psychoanalytische
Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus welcher die
bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn man sich
dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient, daß die
Symptome die Sexualbetätigung der Kranken dar-
stellen, die ganze oder eine partielle, aus den Quellen normaler
oder perverser Partialtriebe der Sexualität. Nicht nur, daß
ein guter Teil der hysterischen Symptomatologie direkt aus den
Äußerungen der sexuellen Erregtheit herstammt, nicht nur, daß
eine Reihe von erogenen Zonen in der Neurose in Verstärkung
infantiler Eigenschaften sich zur Bedeutung von Genitalien
erhebt; die kompliziertesten Symptome selbst enthüllen sich als
die konvertierten Darstellungen von Phantasien, welche eine
sexuelle Situation zum Inhalte haben. Wer die Sprache der
Hysterie zu deuten versteht, kann vernehmen, daß die Neurose
nur von der verdrängten Sexualität der Kranken handelt. Man
wolle nur die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantileS.
228
Anlage umschriebenen Umfange verstehen. Wo eine banale
Emotion zur Verursachung der Erkrankung gerechnet werden
muß, weist die Analyse regelmäßig nach, daß die nicht fehlende
sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses die pathogene
Wirkung ausgeübt hat.Wir sind unversehens von der Frage nach der Ver-
ursachung der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens vor-
gedrungen. Will man dem Rechnung tragen, was man durch
die Psychoanalyse erfahren hat, so kann man nur sagen, das
Wesen dieser Erkrankungen liege in Störungen der Sexual-
vorgänge, jener Vorgänge im Organismus, welche die Bildung
und Verwendung der geschlechtlichen Libido bestimmen. Es ist
kaum zu vermeiden, daß man sich diese Vorgänge in letzter
Linie als chemische vorstelle, so daß man in den sogenannten
aktuellen Neurosen die somatischen, in den Psychoneurosen
außerdem noch die psychischen Wirkungen der Störungen im
Sexualstoffwechsel erkennen dürfte. Die Ähnlichkeit der Neurosen
mit den Intoxikations‑ und Abstinenzerscheinungen nach gewissen
Alkaloiden, mit dem Morbus Basedowi und Morbus Addisoni
drängt sich ohne weiteres klinisch auf, und so wie man diese beiden
letzteren Erkrankungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten“
beschreiben darf, so werden wohl auch bald die echten „Neu-
rosen“ ihrer Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt
werden müssen.Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was
schädigend auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge ein-
wirken kann. In erster Linie also die Noxen, welche die Sexual-
funktion selbst betreffen, insoferne diese von der mit Kultur und
Erziehung veränderlichen Sexualkonstitution als Schädlichkeiten
angenommen werden. In zweiter Linie stehen alle andersartigen
Noxen und Traumen, welche sekundär durch Allgemeinschädigung
des Organismus die Sexualvorgänge in demselben zu schädigen
vermögen. Man vergesse aber nicht, daß das ätiologische Problem
bei den Neurosen mindestens ebenso kompliziert ist wie sonst
bei der Krankheitsverursachung. Eine einzige pathogene Ein-
wirkung ist fast niemals hinreichend; zu allermeist wird eine
Mehrheit von ätiologischen Momenten erfordert, die einander
unterstützen, die man also nicht in Gegensatz zu einanderS.
229
bringen darf. Dafür ist auch der Zustand des neurotischen
Krankseins von dem der Gesundheit nicht scharf geschieden.
Die Erkrankung ist das Ergebnis einer Summation, und das
Maß der ätiologischen Bedingungen kann von irgendeiner Seite
her voll gemacht werden. Die Ätiologie der Neurosen aus-
schließlich in der Heredität oder in der Konstitution zu suchen,
wäre keine geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die
akzidentellen Beeinflussungen der Sexualität im Leben zur
Ätiologie erheben wollte, wenn sich doch die Aufklärung ergibt,
daß das Wesen dieser Erkrankungen nur in einer Störung der
Sexualvorgänge im Organismus gelegen ist.Wien, Juni 1905.
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