Abducens 1888-021/1899
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    A b d u c e n s, der [lat. von a b d u c e r e der
     

    ableitende, nach einer Seite ziehende) 1. Mus-
    culus a. s. Augenmuskeln. 2. Nervus a.
    (frz. moteur oculaire externe, [nerf] abducen-
    teur, m; engl. abducent nerve, sixth pair;
    it. abducente m; sesto pajo). Der N. abdu-
    cens, der sechste in der Zwölf Hirnnerven (s. d.),
    entspringt aus einer neben der Mittellinie
    (Rhaphe) gelegenen Zellsäule des grauen Bo-
    dens vom 4. Ventrikel und tritt am hinteren
    Rande der Brücke (Pons) aus. Er ist mo-
    torisch und versorgt den äusseren geraden
    Augenmuskel (Rectus externus), der den Bul-
    bus nach aussen zieht. Bei Lähmung
    des M. rectus externus kann daher 1. das
    betreffende Auge nicht über die Mittellinie
    nach aussen bewegt (bei vollständiger Läh-
    mung) oder nicht ganz in den äusseren
    Winkel eingestellt werden, oder es geht (bei
    Parese) mit kurzen zuckenden Bewegungen
    nach aussen; 2. können Doppelbilder auf-
    treten, welche parallel stehen und sich um
    so mehr voneinander entfernen, je mehr der
    fixierte Gegenstand nach aussen (auf der
    Seite der Lähmung) gebracht wird. Diese
    Doppelbilder sind gleichnamige, d. h. das
    rechte Bild gehört dem rechten Auge an;
    3. wird der Kopf um die vertikale Achse
    nach der Seite der Lähmung gedreht ge-
    halten. Krampf eines äusseren Augenmuskels
    ist selten ein, und setzt die Lähmung des
    antagonistisch wirkenden inneren geraden
    Augenmuskels voraus. Bezüglich der Dia-
    gnosestellung sei bemerkt, dass eine Erkran-
    kung des Abducenskernes im verlängerten
    Mark ein sehr auffälliges Merkmal hat; es
    ist dabei nicht nur die Bewegung des einen
    Auges nach aussen unmöglich, sondern auch
    die Bewegung des anderen Auges nach innen
    beim gleichzeitigen Gebrauch beider Augen.
    Die nukleäre Affektion hat also die Auf-
    hebung der ganzen Seitenwendung der Augen
    z. B. nach rechts zur Folge, wenn der rechte
    Abducenskern erkrankt ist, während das
    linke Auge sehr wohl nach rechts (innen)
    gebracht werden kann, wenn es für sich
    agiert, oder wenn konvergiert wird (asso-
    ziierte Lähmung). Wegen der Nähe der
    beiderseitigen Abducenskerne greift der Pro-
    zess (Bluthard Tumor) häufig über und er-
    zeugt so eine Lähmung beider Seitenwen-
    dungen der Augen. – Häufiger als die von
    Erkrankung des Kerns ausgehenden Läh-
    mungen der A. sind die von der peripheren
    Strecke des Nerven ausgehenden, welche in
    intrakranielle (basale) und extrakranielle
    (orbitale) eingeteilt werden. Sitzt die Krank-
    heitsursache am Pons, so tritt neben der
    gleichseitigen Abducenslähmung gekreuzte
    Extremitätenlähmung auf; trifft dieselbe den
    Nerven in seinem Verlaufe durch die Dura
    mater, so sind zumeist auch noch Affek-
    tionen anderer Hirnnerven nachzuweisen.
    – Die Ursachen der (meist peripheren)
    A.-Lähmung sind sehr mannigfacher Natur.
    Die Hälfte aller Augenmuskellähmungen,
    hängt nach Gräfe von Syphilis ab, auf
    dem Wege der Kernerkrankung, Periostitis
     

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    an der Schädelbasis, oder Gummibildung in
    der Orbita. Demnächst häufig treten A-läh
    mungen bei Tabes und zwar häufig als In
    itialsymptome auf, die oft spontan zurück
    gehen, aber nach einiger Zeit folgen die
    Rückenmarkssymptome. Man erkenne daher
    auf „Erkältung“ beruhende A-lähmungen
    nur da an, wo auch wirklich eine Erkältung
    nachweisbar ist. A-lähmungen, die bei an
    scheinend gesunden Kindern auftreten, sind
    meist als Vorläufer einer basalen Meningitis
    aufzufassen. Bei ausgesprochener Meningitis
    wird einseitige oder doppelseitige A-läh
    mung häufig beobachtet, ebenso bei chro
    nischer Pachymeningitis. Andere Ursachen
    der A-lähmung sind: Diphtheritis, trau
    matischer Bluterguss an der Schädelbasis,
    Entzündung in der Orbita, Druck eines oft
    sehr entfernt liegenden Hirntumors, Diabetes;
    sehr selten: Bleiintoxikation. Auch kongeni
    tales Fehlen des M. rectus externus ist be
    obachtet worden und könnte zu irrtümlicher
    Diagnose einer A-lähmung Anlass geben.
    Prognose und Therapie der A-lähmung
    richten sich nach der Ursache. Die Pro
    gnose ist günstig bei Syphilis und Erkäl
    tung, ungünstig bei Tabes, obwohl sehr viele
    Heilerfolge bei Augenmuskellähmungen auf
    das spontane Zurückgehen von tabischen
    Lähmungen zu beziehen sind. Die direkte
    Anwendung der Elektrizität auf den er
    krankten Muskel ist möglich, wenn man die
    Empfindlichkeit der Conjunctiva durch
    Kokainisierung aufhebt.