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Aus Vereinen und Versammlungen.
Über Psychanalyse.
(Vortrag gehalten in der Jahresversammlung der mitteldeutschen Neurologen und
Psychiater in Leipzig, am 22, Oktober 1911, von Dr. W anke, Friedrichroda i. Th.
Autoreferat und Diskussionsberieht1).I. Autoreferat.
Vortragender lenkte zunächst die Aufmerksamkeit auf die allgemeine Ab-
lehnung, welche die Psychanalyse durch Neurologen und Psychiater erfährt, und auf
die ganz ähnlichen Beziehungen, in welche sich vor 20—30 Jahren die Schulmedizin
zum Hypnotismus setzte. Wie dieser aber, unablässigen Angriffen mit den ver-
schiedenartigsten Waffen zum Trotz, sich Anerkennung erstritt und ein integrieren-
der Teil unseres therapeutischen Arsenals geworden ist, so ist zu wünschen und zu
hoffen, dass man endlich allgemeiner beginnen möge, die Leitsätze der Psychanalyse
sine ira et studio zu erwägen, ihre Ergebnisse nachzuprüfen und anzuerkennen.Dann wies Vortragender hin auf vielfältige Missverständnisse, welche hin-
sichtlich der Freud’schen Neurosenlehre bestehen. In den ersten Phasen ihrer
Entwickelung war die Psychanalyse nach Freud, wie jede andere junge Therapie,
oft noch unsicher und unzulänglich. Sie hat aber nun ihre Kinderkrankheiten hinter
sich, die Technik ist vervollkommnet und baut sich auf tiefster psychologischer Er-
kenntnis auf, Geduldiges Anhören und Beobachten des Patienten, Assoziations-
versuch, Deutung der Einfälle, der Träume des Patienten, überhaupt des Phantasie-
lebens sind es jetzt, welche uns das Unterbewusstsein des Patienten näher bringen.Nun kam Vortragender zu einem Vergleich des Freud’schen Verfahrens mit
der Vogt’schen ,Kausalanalyse® (ev. mit hypnotischer Hypermnesie) und mit den
verschiedenen Methoden des freien Assoziierens. Alle diese Methoden haben ihr
Gutes und nützen in einer Reihe von Fällen. Wenn aber die psychologischen
Wurzeln mit Charaktereigentümlichkeiten in Beziehung stehen oder sich mit pein-
lichen Affekten assoziierten und wenn sich deshalb hartnåckige Widerstände finden,
dann genügen diese einfachen Merhoden nicht, — In Wirklichkeit muss man an-
nehmen, dass auch die Anhänger Vogt’s (mit oder ohne Hypnose) Analysen im
Sinne Freud’s vollbringen, ohne sich bewusst zu werden, dass sie Widerstände
beseitigt haben, denn es gibt Fülle, in denen Widerstände leicht überwunden werden.Das Vogt'sche Verfahren versagt aber auch, wenn ausser den unterbewussten
Widerstinden, welche sich der Analyse bieten, auch noch bewusste Widerstände
gegen die Hypnose vorliegen.Hier erwühnte Vortragender zunüchst das Beispiel des Neurologen James J.
Putnam von der Harvard Medical School in Boston, welcher, angeregt durch Vor-
träge, die Freud'schen Probleme nachprüfte und innerhalb eines Jahres ganz für
die Psychanalyse nach Freud gewonnen wurde und besprach dann den Haupt-
grund für die Ablehnung der Freud'schen Neurosenlehre durch die Ärzteschaft
(Sexualität, infantile Wurzel, Verdrängung). — Wenn anderen Ärzten eine unein-
geschrünkte Exploration auf somatischem Gebiet gestattet wird, weshalb will man
uns dann dasselbe auf psychischem Gebiet versagen ? — Dass sich dem von Seiten1) Der Vortrag erscheint unverkiirzt in „Fortschritte der Medizin“, 1911, her-
ausgegeben von Koster und von von Briegern (bei Thieme, Leipzig.)S.
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der Patienten mitunter eine gewisse Prüderie entgegenstellt, ist ein Mangel des all-
gemeinen Bildungsniveaus. — Fr е а selbst råt immer eine vorsichtige und schonende
Erforschung. Schilderung des Vorfahrens, wie es in den meisten Fällen genügt, um
eine Affinität zwischen Ober- und Unterbewusstsein zu schaffen und fruchtbar zu
machen, — In schwierigen Fällen zunächst psychologische Unterweisung des Patienten
erforderlich. Vållige Umwandlung durch die Kur: an Stelle der endlosen krank-
haften Selbstbeobachtung tritt eine verstündige Erforschung des eigenen Inneren,
die Selbstanalyse. — Ausblick auf die vielseitige Verwendung der Freud'schen,
Analyse, ihrer Anwendungen und Folgerungen, besonders auch in Hinsicht auf Ab-
trennung mancher Psychoneurosen von den jetzt noch als solehe geltenden Psychosen.
Freud verstand es eben, viele und vielerlei Einzelerscheinungen und viele
längst bekannte und allgemein zugestandene Wahrheiten mit genialem Überblick auf
einen Ton zu stimmen und durch einheitliche Deutung unserem therapeutischen
Wirken und damit der Menschheit nutzbar zu machen. Einer der von ihm am meisten
herangezogenen Sätze, der vielleicht der fruchtbarste genannt werden darf und der
durch ihn eine spezifische Bedeutung erhalten hat, ist der: es gibt Stimmungen, Zu-
stände und Handlungen im menschlichen Leben, die aus Motiven entspringen, welche
uns zurzeit nicht klar bewusst sind, die wir nur verstehen kónnen, wenn wir zu
ihrer Erklärung das unterbewusste Leben des Menschen heranziehen.II. Diskussionsbericht.
In der offiziellen Diskussion sprachen kurz der Direktor der psychiatrischen
Universitåtsklinik in Halle, Geh. Med-Rat Prof. Dr. Anton und Geh. Med.Rat
Prof. von Striimpell. Den Namen eines dritten Diskussionsredners erfuhr ich
nicht, Keiner der Diskussionsredner ging tiefer auf das in Rede stehende Thema ein.Die Diskussion nahm vielmehr eine wenn auch gemissigte affektive Färbung
an und es dürfte sich deshalb an diesem Platz nicht lohnen, auf die einzelnen Eiu-
würfe einzugehen. Nur dem möchte ich einige Zeilen hinzufügen, was von Strümpell
in bezug auf meine Erwühnung des Neurologen Putnam erwiderte, Er sagte, es
sei ebwas ganz anderes, etwa in Amerika die Schriften über Analyse zu lesen und
sich dadurch ein Urteil zu bilden oder an Ort und Stelle sich' über manehe Einzel-
heiten unmittelbar unterrichten zu können.Von Strünipell hat dabei überhôrt, dass ich ausdrücklich erwähnte, dass
Putnam dureh sachliche und wohlwollende Nachprüfung der Freud'schen Probleme
dabin gekommen ist, sie anzuerkennen uud zu billigen, und dass er sich sein Urteil
über die Leistungsfühigkeit und über die wissenschaftliche Berechtigung der Freud-
schen Psychanalyse gebildet hat durch wiederholten Vergleich der Heilungsergebnisse
dieser neuen Therapie mit denjenigen der früheren (siehe dies Zentralblatt Nr. 12,
S. 588.)Mein Bericht über die Diskussion würde unvollständig sein, wenn ich nicht
auch einiger anerkennender und zustimmender Åusserungen mehrerer Kollegen gedenken
wollte, die in der Pause zu mir herantraten und wenigstens offiziós, wenn auch privatim,
ihr Votum abgaben, welches, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall uneingeschrünkt
Freudrechtgebend, doch in allen Füllen erfreuliche Kunde davon gab, dass Freud's
Lehre an Ausbreitung gewinnt, dass das Verständnis für Freud's Probleme zunimmt und
vor allem, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Und dies genügt ja und entschädigt
uns für die auch in diesem Fall unzulüngliche Diskussion, die im wesentlichen mit
Gefühlswerten arbeitete und moralisierte anstatt sachlich, logisch und unparteiisch
vorzugehen; es lässt uns auch hinwegsehen über die einstweilen noch bestehende
Apsychologie der Arzte und macht uns so den Blick frei für eine bessere ZukunftS.
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und fiir die Hoffnung, bald appellieren zu können a medico male informato ad medi-
cum melius (i. e. de psychologia) informandum.
Quod di bene vertant!Varia.
La géante.
Wie eine infantile Erinnerung an die eigene Mutter wirkt das folgende Ge-
dicht von Char. Baudelaire (Les fleurs du mal, p. 118.)
Du temps que la Nature en sa verve puissante
Concevait chaque jour des enfants monstrueux,
J'eusse aimé vivre auprès d’une jeune géante,
Comme aux pieds d’une reine un chat voluptueux.J'eusse aimé voir son corps fleurir avec son âme
Et grandir librement dans ses terribles jeux;
Deviner si son coeur couve une sombre flamme
Aux humides brouillards qui nagent dans ses yeux;
Parcourir à loisir ses magnifiques formes;Ramper sur le versant de ses genoux énormes,
Et parfois en été, quand les soleils malsains,
Lasse, la font s'étendre à travers la campagne,
Dormir nonchalamment à l’ombre de ses seins,
Comme un hameau paisible au pied d'une montagne. AS WaZum Wahrheitswert des Symbols: „Erde = Mutter". Unsere Gegner sind
darüber entristet, wenn die Psychoanalytiker die entzickte Begeisterung eines
Malers für die Schönheiten der Natur!) oder die anhaltende Interessen eines Natur-
forschers fiir die auf Erden befindlichen Dinge mit verdringten (und sublimierten)
sexuellen Interessen in Zusammenhang bringen, die seinerzeit mit der Person der
Mutter verkniipft waren. Sie werden vielleicht zur Nachprifung angeregt werden,
wenn sie über Leonardo da Vinci — über dessen Forscherarbeit und Mutterkomplex
sie in Freud's Monographie 2) eingehende Erórterungen finden können 一 Folgendes
hören werden:„Über die Gezeiten kommt er nicht ins Klare. Ist Ebbe und Flut eine Wirkung
des Mondes, der Sonne? fragt er. Die Antwort lautet verschieden. Bald meint er,
es sei das Atmen der Erde, die er lange, und nicht bloss im Phantasie-
spiel, für einlebendes Wesen, im Gleichnis des Tieres gebildethált,
und es wären die Berge die Knochen, und die Flüsse die Adern, gespeist aus unter-
irdischen Wassern wie aus einem Blutsee, Wassern, die zu den Gipfeln steigen, wie
das Blut zum Gehirn und so wie aus einer geborstenen Vene durch den Felsspalt
bráchen und Ursprung aller Flisse wiirden: so kreisten die Wasser und náhrten die
Erde, wie das Blut in den Adern kreist und den Leib ernährt“ 3).1) Vergl. Abraham: Giovanni Segantini. (Wien, Deuticke.)
2) Schriften zur angew. Seelenkunde, VII. Heft. (Wien, Deuticke.)
3) Marie Herzfeld, Leonardo da Vinci, der Denker, Forscher und Poet. 2. Aufl.
(Jena, Diederichs.) S. CXLIII—CXLIV. (Die Hervorhebungen stammen von mir.)
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