Aus Vereinen und Versammlungen [Juli 1911] 1911-769/1911
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    424 È Referate und Kritiken.

    die Mechanismen des seelischen Apparates führte, insbesondere 4. zur
    Anerkennung des Verdrängung genannten Vorganges; der das normale
    Seelenleben reguliert und dessen Missglücken die neurotische Symptom-
    bildung bedingt; 5. die Tatsache des aus dem Widerstreit der verschiedenen
    psychischen Systeme. folgenden psychischen Konfliktes, der
    einerseits zur Substitution (Zwangsneurose) oder hei entsprechendem
    somatischem Entgegenkommen zur Konversion (Hysterie) führen kann;
    6. die Bedeutung.des kindlichen Seelenlebens fir die spitere
    Entwickelung der Psyche, insbesondere fiir Inhalt und Virulenz des Un-
    bewussten; endlich 7. der vorwiegende Einfluss der psychosexuellen
    Regungen auf spätere Erkrankung oder Gesundheit, sowie Art und
    Grad der psychischen Leistungsfihigkeit.

    Schliesslich. bespricht der Verfasser einige Anwendungsgebiete der
    Freud'schen Psychologie, insbesondere, ausführlich das Gebiet des in-
    fantilen Sexuallebens sowie der Traumdeutung und weist auf die Arbeiten
    über das Wesen des Witzes, die Psychopathologie des Alltagslebens und
    die Quellen der künstlerischen Produktion (einschliesslich Mythen, Märchen,
    Sagen) hin. Rank.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Freud’sche Theorien in der IV. Jahresversammlung
    der Gesellschaft deutscher Nervenärzte,
    Berlin 6.—8. Oktober 1910.

    In der vierten Jahresversammlung deutscher Nervenärzte hat auch
    Oppenheim Stellung gegen die Psychanalyse genommen. Er hat
    seine Patienten mit nervôsen Angstzuständen in bezug auf ihr Ge-
    schlechtsleben ‚eingehend exploriert und fügt in einer Anmerkung hin-
    zu: , Ich will aber gern zugeben, dass geschlechtliche Verirrungen und
    Missbråuche bei den hier beriicksichtigten Patienten öfter vorgekommen
    sein werden, als ‘es in der Tabelle zum Ausdruck kommt." Für den
    Autor sind andere als sexuelle Gemiitserschiitterungen (7. В. Schrecken
    der Pogrome) geniigende, ja wirksamere Erzeuger von Nervenleiden
    und Angstzustinden. Oppenheim , war somit nicht veranlasst, bei
    der Erforschung der Ursachen ins Unterbewusstsein hinabzustsigen
    und aus den Träumen und Assoziationen das Geheimnis der Atio-
    logie herauszuholen“. Dennoch will er seinen Hôrern geben, was sie
    verlangen : „eine klare Stellungnahme zu den Freud'schen Lehren,
    ihre Anerkennung oder Widerlegung“. Zu diesem Zwecke macht er
    zunächst darauf aufmerksam, dass man bei der Lektüre von Stekel’s
    Angstneurose so recht erkennen könne, welches Unheil der Psych-
    analytiker in der Seele eines ihm anvertrauten Menschen anrichten
    kann. Er hat aber die Hauptsache unterlassen, nämlich zu zeigen,
    worin denn das Unheil besteht. Stekel erzählt von vielen glück-
    lichen Kuren in Fillen, die gerade nach dem, was in jener Versamm-
    lung von den kompetentesten Leuten gesprochen worden, recht schlimme

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    Aus Vereinen. und Versammlungen. 425

    Prognose haben. Das Unheil muss der Leser hineinlegen, und das
    kann er ja, wenn er der Meinung ist, dass es ein Schaden sei, sexuelle
    Dinge, die man sonst nur unklar ,fühlt", einmal klar zu denken, oder
    wenn man gar von vornherein annimmt, dass solche Dinge nur vom
    Arzt suggeriert werden. Die erstere Ansicht braucht man nicht zu
    teilen, die zweite müsste bewiesen werden, und in beiden Fällen müsste
    noch gezeigt werden, dass es schlimmer ist, als geheilter Angstneurotiker
    einige sexuelle Ideen zu denken oder suggeriert bekommen zu haben,
    als nicht geheilt zu sein 1).

    Der Redner ging dann auf die Symbolik über und führte aus,
    dass es kein korperliches Objekt geben könne, das nicht als Symbol
    des Penis und der Vagina angesehen werde. Das ist allerdings eine
    Übertreibung, ebenso wie die auch von anderen oft gewählte, in den
    folgenden Sätzen benutzte Darstellungsart komplizierter Symbole:
    „Leidet jemand an Angst vor dem Betreten eines Geschäftes, so rührt
    das daher, weil er in der Kindheit ein Geschäft (d. h. die Stuhl-
    entleerung) mit Wollust ausgeführt hat. . . . Trāumt die Wienerin von
    der Donau, so ist das Fluor albus." Diese Darstellung ist unrichtig;
    die betreffenden Stellen bei Stekel erlauben diese Verallgemeinerung
    nicht, wenn auch sonst mancher unvorsichtige Ausdruck eines Psych-
    analytikers ein solches Missverständnis begünstigen mag. Oppen-
    heim vermisst in solchen Fällen „den tiefen inneren Zusammenhang".
    Damit kann er nur einen Zusammenhang im Sinne logischer Operationen
    meinen. Er sagt aber nieht, warum denn die Symbolik und die Krank-
    heitssymptome wirklich einen solchen tiefen inneren Zusammenhang
    haben müssen. Nicht nur die Freud'sche Forschung, sondern auch
    die sonstige psychologische Erfahrung zeigt im Gegenteil jedem, der
    es sehen will, dass hier die Zusammenhänge im Sinne der Logik durch-
    aus zurücktreten vor anderen Mechanismen. Und soweit es den Traum
    betrifft, hat denn doch noch niemand einen Zusammenhang im Sinne
    unserer wachen Logik zu verlangen gewagt.

    Einen Heiterkeitserfolg hat sich der Redner gesichert durch die
    Aufzählung der Symbole für die Genitalien, für den, der etwas von
    diesen Dingen beobachtet hat, allerdings unverdientermassen. Er täuscht
    Sich, wenn er meint, diese Symbole seien nur ,der Sexualphantasie
    der Freud'schen Schule" bekannt. Wer sich die Mühe nimmt, die
    Zoten, die er in der gewóhnlichen Schule oder spáter am Biertisch
    gehört hat, daraufhin anzusehen, wird die meisten dieser Dinge auch
    da finden; recht vieles kann er auch in der Mythologie sehen, einer
    Wissenschaft, die schon lange vor Freud Verstindnis für sexuelle
    Symbolik zeigte.

    Ein Symbol ist eine spezielle Art der Anwendung eines Vergleiches.
    Ein Vergleich steht auf dem Tertium comparationis; im übrigen hinkt
    er bekanntlich. Nichts destoweniger ist man gewohnt und ist es er-
    laubt und nützlieh, Vergleiche anzuwenden. Oppenheim selber tut
    es; dabei nimmt er mit Recht nicht mehr Rücksicht auf den tiefen

    1) Ich kann mir auch nicht denken, dass Oppenheim etwa das als Unheil
    bezeichne, dass ein oder zwei der Stekel'schen Patienten durch die Kur zu ausser-
    ehelichem Koitus veranlasst worden sein mögen. In der Prostitutionsfrage wenigstens
    Eu а herrschende Meinung so etwas viel weniger ernst, als man meiner Ansicht
    nach sollte.

    Zentralblatt für Psychoanalyse. I”. 29

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    426 Aus Vereinen und Versammlungen,

    inneren Zusammenhang als der Traum und die Neurose. Sogar das
    Tertium comparationis darf bei ihm hinken. Der Redner sagt näm-
    lich, die Art, wie den Kranken Geständnisse abgepresst werden, er-
    innere durchaus an die alten Foltermethoden. Gerade im wesentlichen
    Teil hinkt das Bild: Wenn der Patient die Behandlung als Folter
    empfinden wiirde, entzoge er sich ihr doch schleunigst. Und auf etwas
    anderes als die subjektive Wertung (des Patienten nämlich, nicht des
    Kritikers) kommt es hier doch allein an. Übrigens steht die Anklage
    in diametralem Gegensatze zu der viel håufigeren, dass die Patienten
    sich zum sexuellen Vergniigen analysieren lassen; denn niemand besser
    als der Psychanalytiker weiss, dass nicht bei allen Patienten die
    ,masochistisehe Komponente" dominiert. Es ist also für die grosse
    Mehrheit auszuschliessen, dass sie sich zum sexuellen Vergnügen sollte
    foltern lassen. Der menschliche Geist arbeitet also innerhalb und ansser-
    halb der Mauern der Freud’schen Schule in gleicher Weise. Sym-
    bolisieren und Vergleichen sind altbekannte und altgeübte Tätigkeiten
    und werden doch von den Intelligentesten noch oft missbraucht. Die
    Deutung der Symbole ist in der Hauptsache etwas ganz Neues, ihre
    Grenzen sind erst noch festzustellen; es kann also nicht anders sein, als
    dass sie wie jede andere neue Auffassung übertrieben werde. Soweit
    sie Kunst ist, enthält sie ausserdem eine stark subjektive Komponente.
    Selbstverståndlich also, dass nicht alles, was da gedruckt worden ist,
    genügende Fundamente hat. Das ist aber kein Grund, auch das Ge-
    nügende Fundamente hat. Das ist aber kein Grund, auch das Ge-
    sicherte zu verwerfen.
    In bezug auf die Verdrángungstheorie macht Oppenheim die
    Missverståndnisse Isserlin's zu den seinen. Es ist also nicht nötig,
    darauf einzugehen.
    Dafür will der Redner die schon von anderen ausgesprochene
    Warnung vor Árzten und Sanatorien, die Psychanalyse treiben, zu
    einem System ausbilden. Was nichts nützt, kann nieht nótig sein;
    und dass derartige Warnungen nichts nützen, kennen wir leider vom
    Kampfe mit der Kurpfuscherei; aber gibt es nieht noch viele andere
    Gründe dagegen, solange der Schaden nicht einwandsfrei nachge-
    wiesen ist?
    Oppenheim hat also trotz unleugbarem gutem Willen seinen
    Vorsatz nicht ausführen können. Eine Anerkennung der Fre u d’schen
    Lehren sind seine Ausführungen gewiss nicht; aber noch weniger
    eine Widerlegung. Freud hat offenbar noch mehr Recht, als Referent
    glaubte, denn irgendwelche tatsächliche oder logische Einwendungen
    weiss zurzeit nicht einmal der erste Neurologe Deutschlands zu machen.
    Affektive Gründe aber sind gut zum Streiten und suggerieren, nicht
    zum Belehren.
    In der Diskussion suchte Raimann „Freud durch Misserfolge
    zu widerlegen, über die in Wien einiges zu erfahren ist. Patienten
    von ihm erkranken wieder, werden ohne ihn wieder gesund; andere
    sind von Anfang an refraktür; endlich kommen welche nach monate-
    langer Freudbehandlung in die Anstalt". Das Unternehmen wäre
    sehr gut, aber die gleichen Worte könnte man auf jede beliebige ,,Me-
    thode" anwenden, auch wenn nicht 90% der Kollegen sich ein Ver-
    gnügen oder eine Pflicht daraus machten, die Patienten durch Gegen-
    suggestionen zu ruinieren.

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                                                                                         Aus Vereinen und Versammlungen.                                                  427

    Übrigens muss sehr energisch betont werden, dass man auf diese
    Weise niemals wissenschaftliche Statistik machen darf. Es ist selbst-
    verständlich, dass auch durch eine Psychoanalyse viele Neurotische
    nicht geheilt werden können, so z. B. diejenigen, die nicht geheilt
    werden wollen. Die Ungeheilten kommen wieder zum Arzt, nicht die
    Geheilten, und die letzteren haben gerade in diesem Falle sehr ge-
    wichtige Gründe, nichts von ihrer Kur verlauten zu lassen.
    Interessant ist, dass Bunnemann eine Psychoanalyse bei der
    Therapie der Angstanfälle ebenfalls nützlich fand, allerdings nicht die
    Freud’sche, sondern eine andere, die ausserhalb der Sexualität nach
    psychischen Ursachen sucht; es muss nach ihm „der unbewusste Vor-
    stellungskomplex bewusst, der Zusammenhang zwischen diesem und
    den Symptomen dem Patienten glaubhaft gemacht werden“, worauf
    erst die Gegensuggestionen wirksam, dass ein angeführter Fall von
    Heilung ist sehr hübsch: Ein Herr konnte im Sitzen keine geistige
    Arbeit verrichten ohne heftige Angst, weil ihm einmal ein Arzt Angst
    vor der Bluthure im Gehirn gemacht hatte. Er scheint geheilt zu sein
    durch Bunnemann’s Psychoanalyse.
                                                                                         Bleuler, Burghölzli.


    Wiener psychoanalytische Vereinigung.

    21. Sitzung, am 1. März 1911:

    Prof. Freud: Materialen zur Traumlehre.

    Es werden zwei neue Sexualsymbole (die Krawatte als männliches, das Holz
    als weibliches) des Träumen erwiesen, ferner einige technische Kunstgriffe zur
    Symbolik (Ort, an dem man schon einmal war) wie zur Umkehrungsdeutung (doppelte
    Umkehrung) gegeben, und endlich drei Beispiele auf die Annahme Freud’s hin
    geprüft, dass das Material des Traumes vor einem periodischen Zeitintervall er-
    lebt wurde. Die ausführliche Analyse ergibt in zwei Fällen allerdings ein periodisches
    Intervall, aber die Ereignisse des Traumtages determinieren das Traummaterial in
    völlig ausreichender Weise, so dass der Einfluss der periodischen Tätigkeit sehr
    zweifelhaft bleibt.

    22. Sitzung, am 8. März 1911:

    Bernhard Dattner: Psychoanalytische Probleme in
    Dostojewskis Raskolnikow.

    Der Vortragende betrachtet, unter psychoanalytischer Verwertung des Traumes,
    den Raskolnikow vor dem Morde hat und der den Anstoss zur Tat gibt, den von
    dem Helden vollführten Mord aus drei Gesichtspunkten: 1. aus welchen Motiven
    er die Tat begehen wollte, 2. aus welchen Motiven er selbst sie begangen zu
    haben glaubt, und 3. aus welchen Motiven er sie wirklich begangen hat. Er
    kommt zu dem Schluss, dass sowohl das Motiv des sozialen Mitleids als auch die
    grossmannssüchtige Identifizierung mit Napoleon hinter dem eigentlichen Motiv
    zurücktreten müsse, das dem Mutter-Schwesterkomplex entstamme.

    23. Sitzung, am 15. März 1911:

    Dr. Friedrich S. Krauss als Gast: Das Mieder in Sitte und
    Brauch der Völker.

    29*

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    428                                                                                      Aus Vereinen und Versammlungen.

    Von der Tatsache des Miederfetischismus ausgehend erläutert der Vortragende
    aus einem reichen folkloristischen Material, dass nicht nur die Schlankheit des
    Frauenleibes, die Taille, sondern in noch viel höherem Grade die Fettleibigkeit der
    Frau bei den meisten Völkern dem Idealtypus entspreche. Von dem Gesichtspunkte,
    dass das Mieder nicht so sehr der Frau als dem Manne unentbehrlich sei, indem
    es ihm die sekundären Geschlechts-Charakteren des Liebeobjekten in sinnlicher
    Weise darbiete, glaubt der Vortragende für die Mieder als Schönheitsmittel der
    Frau und damit als Kulturfaktor eintreten zu sollen.

    24. Sitzung, am 22. März 1911:

    Referate und kleinere kasuistische sowie sonstige Mit-
    teilungen.

    1. Frau Dr. Hilferding: Über einen Fall von hysterischem Erbrechen.
    2. Dr. Sachs: Deutung eines Traumes auf Grund der symbolischen Bedeu-
    tung der Krawatte.
    3. Dr. D. E. Oppenheim: Zwei psychoanalytisch interessante Dichter-
    stellen:
                 a) aus Lenaus Faust,
                 b) aus Dostojewskis Roman: Ein Werdennder.
    4. Dr. J. Sadger: Über Mondsucht und Nachtwandeln. — Über die Mastur-
    bationsphantasien.

    25. Vortragsabend, am 29. März 1911:

    Referate und kleinere kasuistische sowie sonstige Mit-
    teilungen.

    5. Dr. Furtmüller: Eine Knabenphantasie Goethes.
    6. Dr. Hitschmann: Über Nachwirkungen der Träume und Beeinflussung
    des Wachzustandes durch dieselben. — Über die Beziehung von Traum und
    Dichtung.
    7. G. Grüner: Psychoanalytische Betrachtungen eines Witzes.
    8. Dr. R. Reitler: Über Leonardo da Vincis „Anatomische Darstellung des
    Geschlechtsaktes“. — Über tendenziöses Vergessen.
    9. Dr. D. Oppenheim: Über ein Detail des Osirismythos. — Material zur
    Frage des Ödipusmythos.                                                              Rank.


    Aus der Sitzung der neurologisch-psychiatrischen Sektion der
    Warschauer Gesellschaft der Ärzte.

    Die am 7. Mai 1910 in der Warschauer Gesellschaft der Ärzte
    abgehaltene Sitzung der neurologisch-psychiatrischen Sektion war
    ausschließlich dem Thema „Hysterie“ gewidmet.
    Zwei der Referenten Dr. Jaroszynski und Sterling, besprachen
    dabei ausführlich die Freud’sche Neurosenlehre. Während sich jedoch Jaros-
    zynski darauf beschränkte, die Freud’sche Theorie mit denen von Babinski
    und Janet in ihrer therapeutischen Wirksamkeit zu vergleichen, wobei er ihr als
    einer kausalen und prophylaktischen, einen Vorzug einräumte, hat Sterling die
    Freud’sche Neurosenlehre ausführlicher besprochen. Die Mängel dieser Lehre,
    die er eine der kühnsten psychologischen Verallgemeinerungen der letzten Zeit
    nannt, — erblickt Sterling in der willkürlichen Auffassung der Symptome als

    ```

  • S.

    Aus Vereinen und Versammlungen. 429

    Symbole, im Fehlen wirklicher Beweise für die Existenz des Verdrängungsmechanis-
    mus, endlich in der übern en Einschätzung der infantilen Sexual tra um en (21).

    In der Diskussion erwies sich Hi gier als besonders unerbittlicher Kritiker.
    Nachdem er konstatierte, dass die Psychoanalyse ihre Vorlåufer bereits in der
    kathartischen Theorie des Hippokrates, Sejunktionstheorie von Wernicke,
    Kompensationstheorie von Anton, Ideogenititslehre von Gross, sowie in
    Janet's ,idées fixes subconscientes” hatte, 一 hob er hervor, dass die Напр
    pfeller der Freud'schen Lehre: 1. Einfluss affektbetonter Vorstellungen für die
    Entstehung und das Schwinden der Symptome; 2. die Bedeutung des Abreagierens.
    der Träume und Tagphantasien, sowie des Unterbewussten und der Sexualität, —
    in der Medizin schon seit jeher bekannt waren. Neu sei in den Behauptungen
    Freud's bloss: 1. dic Uberschåtzung der Sexualtraumen (sic!) der frühen
    Kindheit; 2. der Mechanismus der Verdrängung; 3. die Erklärung vieler Assoziationen
    als symbolische. Und da meint nun Redner ad 1, die infantile Sexualität sei eine
    unbewiesene Phantasie; ad 2 der Verdrüngungsmechanismus im allgemeinen sehr
    hypothetisch und gar die Konversion ganz unglaubhaft; was aber Punkt 3, —

    die symbolische Ausdrucksweise des Unbewussten, — anlangt, so wurde dieselbe
    nie bewiesen und werde auch nie bewiesen werden können. Es sei dies eine
    Mystik, die Karikatur einer wissenschaftlichen Beweisfiihrung, 一 welche sich

    zum Erraten aus den Träumen versteigt.

    Die sehr witzige und an Einfüllen reiche, viele Zeichen der Genialität ver
    ratende psychoanalytische Methode Freud's sei nichts weniger als eine wissen-
    schaftliche empirische Psychologie, vielmehr ein mythologisches Surrogat der
    geistigen Erscheinungen, eine Art der Metapsychologie, die uns rückversetzt in die
    Zeit der pseudowissenschaftlichen Beweisführung. Die aufgeworfene Frage, woher
    es denn komme, dass es eine spezielle, der sexuellen Psychoanalyse gewidmete
    Zeitschrift (offenbar das Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen), ebenso wie
    zahlreiche psychoanalytische Anstalten, Hunderte von Anhängern sowie Tausende
    von Geheillen gebe, — t sich nach Higier zureichend dahin beantworten,
    dass Freud nicht vermittels seiner Methode, sondern trotz derselben Heil
    erfolge erziele.

    ° Die Hauptrolle spiele hierbei: 1. die Reklame, welche sich die Methode in:
    folge ihrer Originalität verschafft habe; 2. die Zeit, die man dem Kranken dabei
    widme: 3. dass das intellektuelle Interesse des Kranken dabei engagiert wird.

    Bornstein kehrt sich gegen die Ausführungen von Higier, indem er
    vorbringt, die Theorie von Freud dürfe nicht durch cine so oberflichliche Kritik
    erledigt werden. Wiewohl Redner kein unbedingter Anhänger der F re u d'schen
    Lehren, namentlich aber der letzten Arbeiten der Freud'schen Schüler sei, so
    sei er doch der Ansicht, dass uns Freud viel Neues und Wertvolles gegeben
    habe. Vor allem dadurch, dass er den Affekten die richtigste Stelle unter den
    verursachenden Momenten eingeräumt hat, weiters aber durch die hochbedeutsame
    Tatsache der Entdeckung der bis dahin übersehenen oder negierten kindlichen
    Sexualität. Unter Beziehung auf Freud's: „Meine Ansichten über die Rolle der
    Sexualität in der Ätiologie der Neurosen“, betont Redner gegenüber Sterling
    (und Higierl), dass Freud nicht mehr in den sexuellen Kindheitserlebnissen
    die Ursache der Erkrankung, sondern bloss das für das spütere Sexualleben
    des Individuums richtunggebende Moment, — zugleich aber die Grundlage der
    späteren Pubertütsphantasien, 一 erblickt.

    Eine weitere bedeutende Tat Freud's sei ferner die psychoanalytische
    Methode, die günzlich neu und originell sei und von der man nicht, wie Higier
    es tat, sagen dürfe: „Das sei alles schon dagewesen". Diese Methode habe

  • S.

    430 Varia.

    zweifellos ihre Mängel, wie sie von Aschaffenburg und Isserlin beleuchtet
    wurden, und vielleicht sei dies eben der grösste Fehler der Freu d`schen Be-
    hauptungen, dass sie sich eben auf die psychoanalytische Methode stiitzen, —
    mit ihr stehen und fallen.

    Die Theorie Freud's hat nach der Ansicht Bornstein's viel Neues
    und Befruchtendes gezcitigt und für seine jahrzehntelange miihevolle und auf
    schlussreiche Arbeit habe sich Freud zumindest das Anrecht auf ernste und
    gewissenhafte Kritik erworben. Und so müsse Redner den Anhängern Freud's
    vollkommen beipflichten, wenn sie nur denjenigen das Recht der Kritik einräumen,
    die diese Methode selbst angewendet und geprüft haben. —

    Der Gefertigte möchte diese von persönlichem Anstand und wissenschaft-
    lichem Ernst getragenen Schlussbemerkungen Bornstein's speziell dem Kollegen
    Higier, — dessen Kritik eine gånzlich fehlende praktische Erfahrung und krasse
    theoretische Unkenntnis der Psychoanalyse verrät —, zur eingehendsten Beriick-
    sichtigung empfehlen. —

    Berichtet nach der „Neurologia polska", Heft III (November—Dezember).

    Dr. Jekels.
    Varia.
    Einige Stellen aus F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. (Aus Abschnitt 269.)
    „Je mehr ein Psycholog — ein geborener, ein unvermeidlicher Psycholog

    und Seelen-Errater — sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um
    so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: er hat mehr Härte und
    Heiterkeit nötig, mehr als ein anderer Mensch. — — —

    Die Furcht vor seinem Gedächtnis ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urteil
    anderer nicht zum Verstummen: er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie
    dort bewundert, verehrt, geliebt, verklårt wird, wo er gesehen hat, — oder er ver-
    bricht noch sein Verstummen, indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdriick-
    lich zustimmt. Vielleicht geht die Paradoxie seiner Lage soweit ins Schauerliche,
    dass die Menge, die Gebildeten, die Schwårmer gerade dort, wo er das grosse Mit-
    leiden neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse Verehrung
    lernen, — die Verehrung für „grosse Münner" und Wundertiere, um derentwillen
    man das Vaterland, die Erde, die Würde der Menschheit, sich selber segnet und
    in Ehren hält, auf welche man die Jugend hinweist, hinerzieht. . . Und wer weiss
    ob sich nicht bisher in allen Füllen eben das Gleiche begab: dass die Menge einen
    Gott anbetete, — und dass der „Gott“ nur ein armes Opfertier war.

    Der Erfolg war immer der grósste Lügner — "und das Werk selbst ist ein
    Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Erfolge
    verkleidet bis ins Unerkennbare; das , Werk", das des Künstlers, des Philosophen,
    erfindet erst den, der es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die „grossen
    Månner", wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinlerdrein ;
    in der Welt der geschichtlichen Werte herrscht die Falschmünzerei.

    Diese grossen Dichter z. B., diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist,
    Gogol (ich wage es nicht, gróssere Namen zu nennen, aber ich meine sie), — so
    wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen: Menschen des Augenblicks, be-
    geistert, sinnlich, kindskópfisch im Misstrauen und Vertrauen leichtsinnig und
    plótzlich mit Seelen, an denen gewóhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll;
    oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren