Aus Vereinen und Versammlungen [Juni 1912] 1912-770/1912
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    Referate und Kritiken. 537

    Folgen eines Abortus krank gelegen. Diese Angelegenheit sollte aber
    ein Geheimnis bleiben.

    Eine Schizophrenikerin wird von dem Arzte nach dem Titel des
    Buches gefragt, das sie eben liest. Sie antwortet, ohne zu zögern: le
    diable de mari. Das Buch ist von Georges Sand und heisst la mare
    au diable. Die Kranke ist von sexuellen Vorstellungen erfüllt.

    Ein Dementer erzählt von dem Streite zweier Kranker und meint:
    A. hat sich benommen en Bayard und В. en paillard. In seinen Phantasien
    fihlt sich dieser Patient als Bayard, der Ritter ohne Furcht und Tadel,
    in Wirklichkeit haben in seinem Leben sexuelle Vergniigungen eine grosse
    Rolle gespielt.

    Friulein B., eine Paranoika, wird ersucht, das neue Piano der
    Anstalt zu probieren. Sie spielt ihr Lieblingsstück. Sein Titel ist, wie
    Verf. nachträglich feststellt: Erotik. Der Vorstellungsinhalt der Kranken
    ist ein durchaus sexueller. An dieser Stelle macht Weber eine hübsche
    Bemerkung. Er sagt, die ausserordentliche Beliebtheit, deren sich das
    Musikstück „Gebet einer Jungfrau“ durch so lange Zeit bei jungen Mädchen
    erfreut habe (und wohl auch heute noch erfreut) gelte vielleicht mehr
    dem Titel als dem Inhalt.

    General X., ein Paralytiker, der sich seines Zustandes nicht be-
    wusst ist und von syphilidophoben Ideen beherrscht wird (er fiichtet, dass
    seine Kinder Lues akquirieren), wird von Weber nach dem Befinden
    seines jüngsten Sohnes gefragt, ob er denn schon laufe (marche). Er
    antwortet: Oh, er ist ein sehr hübscher Junge. Es wird wohl nötig sein,
    dass ich ihn beschneiden lasse. Offenbar hat der Kranke hier das Wort
    marcher in seiner sexuellen Nebenbedeutung aufgefasst und dieser Vor-
    stellung assoziiert sich, entsprechend seiner Syphilidophobie, der Gedanke,
    dass die Zirkumzision eine Vorbeugungsmåglichkeit biete.

    Aus einer Publikation des Dr. Doyen: ... nous avions à la fin
    de mai 1911: 1393 tuberculeux en traitement. Si j'ajoute 396 nouveaux
    cas, j'obtiens le total de 1789. Ce chiffre marque assurément pour l'ancienne
    médecine Tere de la revolution. Sehr treffend meint Verf.: Eine solche
    Ideenassoziation kann nur im Geiste eines Arztes entstehen, der von seiner
    Methode ganz ausnehmend begeistert ist. Diese wenigen Beispiele mógen
    genügen; wir wollen mit den Worten Weber's schliessen: Trauen wir
    dem Zufall nicht. Am Ende gibt es gar keinen und was wir so nennen
    ist nichts als eine wohlfeile Ausrede. Dr. Karl Weiss, Wien.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    „Die Wurzeln der Phantasie“, Vortrag, gehalten in der Wiener philo-
    sophischen Gesellschaft von Dr. Schrótter (Wien) am 24. Februar 1912.

    Man unterscheidet eine aktive und eine passive psychische Funktionsweise.
    Das aktive Seelenleben zeichnet sich durch zwei polare Eigenschaften aus: Die
    Automatisierung und Erstarrung der Vorstellungen einerseits und die Assimilations-
    fühigkeit der Erinnerungen an neue Wahrnehmungserlebnisse anderseits. Wir erinnern

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    nicht, sondern wir reagieren mit Erinnerungen. Die aktive Funktion ist die Funktion des
    Denkens, der intellektuellen Arbeit, ihre Voraussetzung ist Wachheit und Frische
    des Geistes, — Die Annahme einer bewussten oder unbewussten Zielvorstellung
    wird abgelehnt. Der Wechsel der Vorstellungen innerhalb einer psychischen Reihe
    wird mit Hilfe des Begriffes der ,biopsychischen Reihe“ erklärt. Ebenso wie
    Lebensvorgånge der Pflanze, trotz ihrer Zweckmässigkeit, ohne Ziel- oder Zweck-
    bewusstsein verstanden werden können, so müssen wir auch zur Determinierung
    menschlich-psychischer Prozesse auf die Zuhilfenahme bewusster oder unbewusster
    Inhal te verzichten und die beim Willen subsumierte Zielvorstellung der Psychologen
    durch biologische Determinismen ersetzen.

    Das passive Seelenleben, die Phantasietåtigkeit, verdankt ihr Dasein einem
    „Systemfehler“. Die unbearbeiteten rohen Vorstellungen, die sich untereinander assi-
    milieren, sind das Material der Phantasie; die Erinnerungsbilder zeigen im Gegen-
    satze zu den ,erstarrten Erinnerungsbildern* im Materiale des aktiven Seelenlebens
    grosse Labilitåt, so dass leicht fehlende Glieder durch andere ersetzt werden können,
    Die Wurzel dieser unzulinglichen Arbeitsweise ist die Ermiidung oder Ablenkung.
    Tatkriftige Menschen haben ein Minimum von Phantasietätigkeit und umgekehrt.
    Die Janet'sche Definition der Psychasthenie wird in dem Zusammenhange erwähnt.

    Die passive Arbeitsweise ist ausgezeichnet durch Anschaulichkeit und bild-
    liche Schiirfe, vornehmlich bei gut entwickelten Sinnen. Das Bild tritt an Stelle mo-
    torischer Reaktionen („Übergang auf die Bildebene*). — Eine Anzahl von Phiino-
    menen lassen sich mit dem Begriffe der ,gestauten, biologischen Reihe“ verdeutlichen,
    Die Komplexlehre der Schweizer Schule Freuds erweist sich als unentbehrliches
    Hilfsmittel zum Verstiindnisse psychischer Erscheinungen. Die Komplexe ergeben be-
    deutsame, häufig gestaute, biopsychische Reihen. Die Assoziationsexperimente Jungs
    haben die Wirkung der Ermiidung und Ablenkung nachgewiesen.

    Die zweite Wurzel der Phantasie ist die Tendenz zur anthropomorphen Dar-
    stellung. Auf Grund der Lipps'schen Fassung des Kinfiihlungsbegriffes können gewisse
    Eigentiimlichkeiten der Phantasietätigkeit aus der „Angleichung des Wahrgenommenen
    an die menschliche Natur" erklårt werden. Diese Tendenz der Naturbeseelung,
    der anthropomorphen Apperzeption ist eine atavistische. Beide Wurzeln der Phantasie
    entsprechen somit einer primitiven Arbeitsweise der Psyche. — Das spezielle Problem
    des kiinstlerischen Schaffens und der Begabung ist von der Frage nach den Wurzeln
    der Phantasie zu scheiden und sollte nicht Gegenstand des Vortrages sein.

    Der Vortragende benützt vielfach Gedankengånge Freuds und seiner Schule,
    mit denen er in den meisten Punkten übereinstimmt.

    Seine von Freud abweichende Stellung präzisiert der Vortragende vornehm-
    lich in zwei Punkten: Freuds ,unbewusster Wunsch“ stellt eine Interpretation des
    Unbewussten dar, die nach der Meinung des Vortragenden unzulässig ist, da der Trieb
    etwas wesens-unbewusstes ist, somit durch einen, wenn auch unbewussten,
    psychischen Inhalt niemals interpretiert werden darf. An Stelle dieser Terminologie
    wünscht der Verfasser die genannten Ausdrücke: biopsychische, bzw. gestaute bio-
    logische Reihen.— Weiter polemisiert der Vortragende gegen die Behauptung Freuds,
    der Traum sei eine den Produktionen des Wachlebens gleichwertige intellektuelle
    Leistung. Fiir den Vortragenden gehørt der Traum dem passiven Seelenleben an,
    dem als solchen die Minderwertigkeit der Leistung anhaftet, wihrend die hoch-
    wertige, intellektuelle Leistungsfihigkeit, das Denken, nur den aktiven, psychischen
    Prozessen zukommt. 5

    Im Sommersemester findet ein eigener Diskussionsabend tiber den Vortrag statt.

    Gaston Rosenstein.