Aus Vereinen und Versammlungen [November 1911] 1911-778/1911
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    100 Referate und Kritiken,

    in sehr seltenen Fällen. Die Zwangsneurosen sind am schwersten zu
    behandeln. Eine ganze Reihe von bereits sekundären Symptomen, von
    Abwehrhandlungen nach Freud, ist es, die den Kranken zum Arzt
    führen. Ein ganzes kompliziertes Rituale ist es, welches das Leben
    des Kranken vom Aufwachen bis zum Schlafengehen erfüllen. Auch
    hier gilt das Prinzip: am Anfang war die Psychoanalyse. Die ersten
    Anzeichen der Erkrankung sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
    schon im Alter von 4—6 Jahren zu linden. Häufig ist die Reinlichkeit
    und Dinge, die damit zusammenhängen, Gegenstand der Neurose. Der
    Kern ist gewöhnlich ein Ereignis aus dem Geschlechtsleben, der daraus
    hervorgehende Affekt das Gefühl von moralischer Beschmutzung. Nach
    Freud werden diese Ideen in Ideen von physischer Verunreinigung trans-
    formiert. Dennoch ergeben sehr vernachlässigte Fälle oft keine günstigen
    Resultate. Überhaupt soll nach Wyrubow bei dieser Neurose ausser
    der Psychoanalyse die Du h 0 1 5 - Methode angewendet werden, wobei das
    Überzeugen von der Absurdität der Symptome natürlich wegfällt. Die
    Kranken sind davon ohnehin überzeugt. Das Überführen ins Sanatorium
    ist hier an sich ein wirksamer Faktor. Daher sind Besuche von Ver-
    wandten etc. zu verbieten. Jedenfalls sollte die Heilungsdauer auf viele
    Monate bemessen werden.

    Dass in einem Sanatorium auch alle physikalischen Heilmethoden
    zur Bekämpfung von Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit etc. zur Hand sein
    müssen, verstehe sich von selbst. Dr. Jenny Adler-Herzmarck.

    Kostyleff, Les derniers travaux de Freud et le problem
    de l’hysterie. Archiv de Neurologie. 1911. Heft I u. IL

    Eine eingehende Analyse der letzten Arbeiten Freud's bis zum
    Bruchstück einer Hysterieanalyse. (Dora.) Der Autor hält die Methode
    Freud's fast ausserordentlich „suggestiv”. In gewissen Schlüssen jedoch
    sei er nicht Herr seiner Methode und scheine über die Grenzen seiner
    Wissenschaft gegangen zu sein. Das Fragment der Hysterieanalyse er-
    leuchte ebenso die Wichtigkeit der Psychoanalyse, als es auch die Irr-
    timer verrate, in die man sich verstricken könne. Stekel.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Bericht iiber den III. Psychoanalytisehen Kongress
    in Weimar am 21. und 22. September 1911
    von Otto Rank (Wien).

    I. Professor James J. Putnam (Boston): Uber die Bedeutung der
    Philosophie fiir die weitere Entwicklung der Psychoanalyse,

    Redner hebt als nächste Anfgabe der psychoanalytischen Forschung, die bis
    jetzt vorwiegend therapeutische Ziele verfolgte, die Beschäftigung mit dem normalen
    Seelenleben, das Aufsuchen der Urquellen des Denkens, Fühlens, Handelns im ge-

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    Aus Vereinen und Versammlungen. 101

    sunden Menschen hervor. Zwar wurden bereits die Erfahrungen und Einsichten aus
    der. Kindheit des Einzelnen auf die Kindheit der primitiven Volker übertragen und
    wenn auch den Kinderwünschen zweifellos eine ungeheuere Wirkung zukomme, so
    haben doch die Regungen der erwachsenen Seele gleichfalls ein Anrecht in Betracht
    gezogen zu werden: die ethischen Gefühle, welche sich mächtig in die tiefen Seelen-
    regungen einmengen, und das logische Denken; dabei wird insbesondere auf Hegels
    Logik hingewiesen, deren tiefer Wahrheitsgehalt sich immer wieder aufs Neue er-
    weist. Schliesslich betont Redner, dass er damit das Unbewusste keineswegs ans-
    schliessen möchte, vielmehr meine, man dürfe sich im Handeln auf die uns vertraut
    gewordenen Regungen des Unterbewusstseins verlassen.

    IL Professor Dr. E. Bleuler (Zirich-Burghólzli): Zur Theorie des Au-
    tismus.

    Von Freud's „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Ge-
    schehens* (Jahrbuch 111/1( ausgehend, präzisiert Redner seinen in Bezug auf den psy-
    chologischen Zusammenhang dieser Dinge etwas abweichenden Standpunkt. Dem
    Freud ’schen Begriff des Lustprinzips, der zu enge erscheine, wird das antistische
    Denken gegenübergestellt und als dessen Gegensatz das realistische Denken (Freud's
    Realitätsprinzip) bezeichnet. Insbesondere betont Redner seine abweichende Auf-
    fassung der phylogenetischen Stellung des autistischen Denkens, das nach ihm eine
    spät erworbene Funktion sei, während Freud sie als Rest einer primären Arbeits-
    weise des psychischen Apparats auffasse. Es werden schliesslich die Unterschiede
    zwischen realistischem und autistischem Denken hervorgehoben, sowie auf die Not-
    wendigkeit und Zweckmässigkeit des letzteren im Seelenleben hingewiesen,

    III. Dr. J. Sadger (Wien): Über Masturbation.

    Redner führt die ungeheuere Verbreitung der Masturbation auf drei Haupt-
    gründe zurück: 1. die Allgemeinheit und Intensität der Geschlechtsempfindung über-
    haupt; 2. ihre besondere Eignung als allzeit parates Ausdrucksmittel für jegliche
    Art von Sexualgeniissen und 8. ihre Wirkung als Trost- und Beruhigungsmittel.

    Die wahre Bedeutung erhalte die Masturbation nicht durch das pheriphere
    Tun, sondern durch die begleitenden Gedanken und Vorstellungen (Phantasien). Aus
    der Verzweiflung über die Unrealisierbarkeit dieser (Inzest-)Phantasien erklären sich
    auch die schweren Depressionszustånde, von denen der masturbatorische Akt oft
    gefolgt ist, wie man anderseits der Depression scheinbar durch den peripheren Akt
    entrinnen kann, weil einen die Phantasien aus der unbefriedigenden Gegenwart in
    die lustvollste Kindheitszeit zurückführen. Die letzten Bedingungen der Selbst-
    befriedigung wurzeln in der Siuglingspflege mit ihren notwendigen Reizungen der
    äusseren Genitalien durch die Pflegepersonen. Ob man dem Kind die Masturbation
    abgewöhnen kann, hängt von seiner Konstitution und den Fähigkeiten der Eltern
    ab; das Kind gibt diese Lustquelle nur aus Liebe zu jemand auf. Die Abgewóhnungs-
    mittel, die nur auf das Exekutive gerichtet sind, müssen unwirksam bleiben; nur
    durch Fingehen auf die begleitenden Phantasien ist eine therapeutische Wirkung
    möglich. Jede habituelle Masturbation hat zwangsartigen Charakter, ist die ein-
    fachste Form einer Zwangshandlung.

    IV. Dr. Karl Abraham (Berlin): Die psychosexuelle Grundlage
    der Depressions- und Exaltationszustinde.

    In fünf analysierten Fällen konnte Redner die Ähnlichkeit im Aufbau der
    Depressionszustände und der Zwangsneurose konstatieren. In allen Fällen nahm
    die Depression ihren Ausgang von einer die Liebe paralysierenden Hasseinstellung
    und auch die Unfähigkeit, sich für die hetero- oder homosexuelle Einstellung zu
    entscheiden, fand sich regelmässig. Ferner zeigte sich der Anteil des Projektions-

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    102 Aus Vereinen und Versammlungen.

    mechanismus bei manischen Patienten. Der Gedanke: ich kann die Menschen nicht
    lieben, ich muss sie hassen, wird verdrängt und nach aussen projiziert in der Form:
    die Menschen können mich nicht lieben, sie müssen mich hassen und darum bin ich
    unglücklich. Damit ist die eigentliche Liebesunfihigkeit beseitigt und wird ver-
    mittels einer falschen Verknüpfung auf irgend eine geistige oder körperliche Minder-
    wertigkeit geworfen. Von hier aus ergeben sich Einblicke in die Psychogenese der
    Rachephantasien (Richard III), aus denen die Schuldgefühle des Patienten stammen,
    anderseits ihre wahnhaften Selbstvorwürfe, hinter denen sich der Wunsch verbirgt,
    ein Verbrecher grossen Stils zu sein. Auch auf das masochistische Geniessen des
    Depressionszustandes wird hingewiesen, der so einen versteckten Lustgewinn liefert.

    Manisches und depressives Stadium stehen unter der Herrschaft der gleichen
    Komplexe. Die Manie bricht aus, wenn die Verdrängung nicht mehr Stand hält
    und ihre Lustgefühle stammen aus der frei werdenden Hemmungsersparnis. Die
    Ideenflucht ermöglicht das Hineingelangen in einen anderen Instvollen Vorstel-
    lungskreis.

    V. Dr. S. Ferenczi (Budapest): Einige Gesichtspunkte zur Frage
    der Homosexualität.

    Nachdem der Redner kurz zusammengefasst hat, was die Psychoanalyse bis-
    her über die Genese der Homosexualität ergeben hat, kommt er zu dem Schluss,
    dass weder der Gesichtspunkt der allgemeinen Bisexualitit, noch das frühe hetero-
    sexuelle Stadium später homosexuell Gewordener, noch endlich die narzissistische
    Einstellung darüber Aufschluss gebe, wie ein Individuum dazu komme, manifest
    homosexuell zu bleiben. Man müsse von der echten Inversion, die zweifellos durch
    konstitutionelle Momente bedingt sei, eine Objekthomosexualität unterscheiden. Im
    Gegensatz zum echt Invertierten, der einen umgekehrten Odipuskomplex entwickelt,
    hat der Objekthomosexuelle einen zu starken normalen Odipuskomplex, vor dem er
    flüchtet. Diese Homosexuellen suchen nicht die Liebe des Mannes, sondern flüchten
    vor der Liebe zur Frau; sie sind nicht Invertierte (Pervers2), sondern Zwangsneu-
    rotiker. Die Normalen sind den umgekehrten Weg gegangen; sie haben auf die
    Homosexualität ganz verzichtet und sind zu Zwangsheterosexuellen geworden.

    VI. Dr. H. Körber (Berlin): Uber Sexualablehnung.

    An der Hand eines Falles eines 24jährigen Mädchens, das an Anorexie und
    Dyspepsie litt und seit 2 Jahren verlobt, stets vor der Heirat zurückschreckt, wird
    gezeigt, dass die kulturellen Hemmungen und Erlebnisse durchaus nicht hinreichen,
    um die Ablehnung genetisch zu deuten. Vielmehr ist es die allzustarke Veranke-
    rung im Familienkomplex, welche den später zu bewusster Betätigung drångenden
    Sexualtrieb jedesmal an der Schwelle schon abweist. Dabei kann das Uberwiegen
    eines Partialtriebes oder der Autoerotismus unterstützend hinzutreten. Die Auf-
    hebung der Sexualablehnung auf psychoanalytischem Wege angelt in der Mglich-
    keit, die Pat. aus dem Familienkomplex zu lösen und in diesem Sinne sind die Ver-
    wandtenehen vielleicht als Selbsterlósung von der Sexualablehnung anzusehen. “Die
    Sexualablehnung, die sich psychologisch durch ein Steckenbleiben im Familienkom-
    plex erklärt, schrumpft als Sexualverdrüngung zu einem Teilproblem der Verdrängung
    überhaupt zusammen. Von hier aus erklärt sich auch ihre Weiterwirkung ins Bio-
    logische hinein.

    VII. Dr. Hanns Sachs (Wien): Die Wechselwirkungen zwischen
    Psychoanalyse und den Geisteswissenschaften,

    Die Psychoanalyse tat den ersten Schritt auf dem Gebiete der Geisteswissen-
    schaften, als ibre Technik auf die biographischen Mitteilungen und die Werke be-
    rühmter Dichter angewendet wurde. Eine engere Beziehung entstand, als sich in

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    Sitte und Sprache, Brauch und Religion die Bestätigung der durch die Analyse beim
    "Träumer und Neurotiker gefundenen Resultate nachweisen liess. Durch systematische
    Berücksichtigung des Unbewussten, das bei allen diesen Erscheinungen schöpferisch
    tätig war, und durch die Kenntnis seiner Ausdruckstechnik müssen sich auf zahl-
    reichen Gebieten, wie Etymologie, Religionswissenschaft, Kunst- und Literatur-
    geschichte, Ästhetik, Folklore, Kultur- und Sittengeschichte, Philosophie, wertvolle
    Erkenntnisse zu tage fördern lassen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden
    einige Probleme aufgezählt, deren Behandlung besonders wünschenswert und Erfolg
    versprechend erscheint.

    Zum Schluss ergeht die Mitteilung, dass zur gründlichen und einheitlichen
    Bearbeitung dieser hochwichtigen Wissensgebiete die Gründung einer Zeitschrift ge-
    plant ist, deren ausschliessliche Aufgabe die Pflege der Anwendung der Psycho-
    analyse auf die Geisteswissenschaften sein soll. Als Redakteure sollen Herr Otto
    Rank und der Vortragende fungieren, das Amt des Herausgebers zu übernehmen
    hat sich Herr Professor Freud bereit erklärt. (Autor-Referat.)

    VIIL Prof. Dr. 8. Freud (Wien): Nachtrag zur Analyse Schrebers
    (Jahrbuch 111/1).

    Ein in der Publikation unaufgeklärt gebliebenes Detail der Wahnbildung, das
    Schrebers Verhältnis zur Sonne betrifft, wird auf den Vaterkomplex zurückgeführt
    und als mythologisch bedeutsam erwiesen. Es handelt sich um Schrebers Be-
    hauptung, dass er ungeblendet in die Sonne blicken könne, ein Vorzug, den die
    Alten nur einem einzigen Tiere, dem Adler, einräumten, der seine Jungen auf die
    Weise einer Probe ihrer echten Abstammung von der Sonue unterzogen haben soll,
    dass sie ohne zu blinzeln in die Sonne sehen mussten, Das menschliche Vorbild
    dieses Brauches findet sich bei den Kelten, welche die Echtheit der Abstammung
    vom Khein erprobten, indem sie ihre Kinder dem Fluss überliessen; und afrikanische
    Stämme, welche sich der Abkunft von Schlangen rühmen, setzen ihre Kinder dem
    Biss dieser Tiere aus, um so ihre Echtbürtigkeit zu prüfen. Diese Ordalien ruhen
    auf einem Gedankengang, der dem Totemismus angehört, und den man so aus-
    drücken kann, dass der Totem (der Ahnherr) seinem Abkómmlung nichts tut. Wenn
    also der Adler ein Kind der Sonne ist, so muss sich das darin zeigen, dass die Sonne
    ihm nichts tut. Schreber hat also einfach mit seiner Behauptung, ungeblendet in
    die Sonne blicken zu können, den mythologischen Ausdruck für sein Kinderverhält-
    nis zur Sonne wieder gefunden und beståtigt uns so, dass die Sonne nur ein Sym-
    bol des Vaters ist.

    Es erweist hier Jung's Satz seine volle Berechtigung, dass die mythen-
    bildende Kraft der Menschheit nicht erloschen ist und sich unter den Bedingungen
    der Neurose wieder geltend macht. Aber auch die religionsbildenden Kräfte der
    Menschheit sind nicht erloschen und kommen bei den Neurotikern, insbesondere bei
    den Zwangskranken, immer wieder zum Vorschein (vel. Zwangshandlungen und
    Religionsiibung, Kleine Schriften IL). Hier wäre eine Ankniipfung an das uralte
    System des Totemismus gegeben. Wir finden also in Traum und Neurose nicht
    nur das Kind mit seinen Impulsen weiterlebend, sondern auch — nach dem biogeneti-
    schen Grundgesetz — den wilden und den primitiven Menschen.

    IX. Dozent Dr. C. G. Jung (Zürich): Beiträge zur Symbolik.

    Ausgehend von dem Gegensatz, in welchem die hysterischen Phantasien zu
    denen der Dementia praecox stehen, wird darauf hingewiesen, dass zum Verständnis
    der letzteren historische Parallelen herangezogen werden miissen, da bei der Dementia
    praecox der Kranke an Reminiszenzen der Menschheit leide. Seine Sprache benütze

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    104 Aus Vereinen und Versammlungen,

    im Gegensatz zur Hysterie alte und allgemeingiiltige Bilder, die uns merkwiirdiger-
    weise zunächst doch unverständlich seien.

    An dem Fall einer 34jährigen Neurotica wird nun gezeigt, wie eine rezente
    Phantasie durch historisches Material belegt und verständlich gemacht werden kann.
    Die Phantasie der Pat., die das Aufhängen eines ihr unerreichbaren geliebten Mannes
    an den Geschlechtsteilen zum Inhalt hatte, und die sich auch bei einem 9jährigen
    Knaben als symbolischer Ausdruck seiner unbefriedigten Libido (Hangen und Bangen
    in schwebender Pein) fand, ergibt mit entsprechenden ethnologischen Überlieferungen
    und mytholugischen Parallelen von dem durch Hängen oder Schinden geopferten
    Frühlingsgott zusammengehalten den Sinn einer Opferung der Sexualität, an der
    man hängt, von der man nicht loskommen kann und die in den alten Kulten als
    Phallusopfer der grossen Mutter dargebracht wurde,

    X. Otto Rank (Wien): Über das Motiv der Nacktheit in Dichtung
    und Sage.

    Es werden einige in Dichtung und Sage typisch wiederkehrende Verdrängungs-
    formen des Nacktheitsmotives aufgezeigt, die entsprechend der ihnen zugrunde
    liegenden Perversionsneigung der Exhibition in zwei Gruppen zeifallen. 1. Als Ver-
    drüngungsform der Schaulust erscheint subjektiv das Motiv der Blendung
    (Godiva), objektiv das Motiv der Unsichtbarkeit (Melusine) als Strafe fir den
    Yerponten Anblick der Nacktheit. Auf den Schaulustigen übertragen wird das Motiv
    der Unsichtbarkeit anderseits zur Wunschphantasie, welche wieder der Befriedigung
    der Schaulust dient (Gyges). 2. Als Verdringungsform der eigentlichen Exhibitions-
    neigung, der Zeigelust, erscheint das Motiv der Hemmun g (Nacktheitstråume),
    objektivier& als Fesselung, welche die schamhafte Flucht vereitelt und endlich das
    Motiv der kórperlichen Entstellung, welche den ursprünglich lustvollen Anblick
    des entblóssten Körpers abscheuerregend macht.

    XL Dr. Poul Bjerre (Stockholm): Zur Radikalbehandlung der
    chronischen Paranoia.

    Eine unverheiratete Frau von 53 Jahren suchte mich Mitte Dezember 1909
    wegen einer Struma auf. Es kam an den Tag, dass sie seit zehn Jahren einer
    Verschwörung ausgesetzt war, die von einem Frauenbund in Stockholm geleitet
    wurde, und die über ganz Europa verbreitet war. Dieses unerschütterlich fest orga-
    nisierte Wahnsystem wurde aufgelöst, Eine vollständige Heilung mit Krankheits-
    einsicht trat im Frühjahr 1910 durch die Blosslegung einiger Identifizierungsprozesse
    ein und besteht noch ohne jede Spur von Rückfall. — Die theoretische Diskussion
    setzt die Bedeutung einer Reihe von Mechanismen auseinander, Die Krankheit trat
    durch den Untergang einer 20 jährigen Sublimation ein und der Wahn wurde einige
    Jabre spüter als eine Art Heilungsversuch aufgebaut. (Autoref.)

    XII. Dr. J. Nelken (Zürich): Über Phantasien bei Dementia praecox.

    Redner berichtet über seine Untersuchungen der Phantasien eines Dementia
    praecox-Kranken und hebt als zentrale Phantasie den Inzestgedanken hervor, ob-
    wohl die Geschichte des Pat. die ganze Mythologie enthält. Er kommt zu dem
    Ergebnis, dass die Schizophrenen an Inzestphantasien in wenig verhüllter Form
    leiden und weist darauf hin, wie in diesen Füllen die individuellen Inzestphantasien
    in den Tnzestphantasien der ganzen Menschheit zerfliessen. Pat. projiziert den Kern-
    komplex auf das ganze Universum und gebraucht dazu die uralte symbolische Bilder-
    sprache. Seine Geschichte spiegelt den circulus vitiosus des Libidoproblems wieder.

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    Varia. 105

    Dr. C. G. Jung: Bericht über das Vereinsjahr.

    Geschåftliche Beratungen,

    1. Es wird beschlossen, das bisher jeden zweiten Monat erschienene ,Korre-
    spondenzblatt der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung“ aufgehen zu
    lassen in dem „Zentralblatt für Psychoanalyse“, das nunmehr den Mitgliedern der
    „Internationalen psychoanalytischen Vereinigung“ als offizielles Vereinsorgan zugeht.

    2. Die panamerikanische „General-Association“, deren Mitglieder über ganz
    Amerika verstreut sind und nur einmal jährlich zusammenkommen, wird neben der
    bereits bestehenden Ortsgruppe New-York als selbständige „Ortsgruppe“ der „Inter-
    nationalen Psa. V.“ angegliedert.

    3. Der bisherige Präsident der „Internationalen Psa. V.*, Dr. С. ©. Jung in
    Zürich und der Zentralsekretär Dr. Franz Riklin (Zürich) werden per Akklamation
    wieder gewählt.

    Varia.

    Die Bedeutung der Vokalfolge. Es ist sicherlich oft beanstandet worden,
    dass, wie Stekel behauptet, in Träumen und Einlillen Namen, die sich
    verberger, durch andere ersetzt werden sollen, welche nur die Vokalfolge
    mit ihnen gemein haben. Doch liefert die Religionsgeschichte dazu eine frappante
    Analogie. Bei den alten Ilebräern war der Name Gottes „tabu“; er sollle weder
    ausgesprochen, noch niedergeschrieben werden; ein keineswegs vereinzelles Beispiel
    von der besonderen Bedeutung der Namen in archaischen Kulturen. Dies Verbot
    wurde so gul eingehalten, dass die Vokalisation der vier Buchstaben des Gottes-
    namens 1177 auch heute unbekannt ist. Der Name wird Jehova h ausgesprochen,
    indem man ihm die Vokalzeichen des nicht verbotenen Wortes Adonai (Herr)
    verleiht. (S. Reinach, Cultes, Mythes et Religions. T. I, p. 1, 1908.)

    Freud.

    Goethe über einen Fall von Konversion. „Und leider, versetzie der Arzt,
    der in Wilhelms Ausrufung nur eine menschenfreundliche Teilnahme zu hören
    glaubte, ist diese Dame mit einem noch tieferen Kummer behaftet, der ihr eine
    Entfernung von der Welt nicht widerlich macht. Eben dieser junge Mensch nimmt
    Abschied von ihr; sie ist nicht vorsichtig genug, eine aufkeimende Neigung zu
    verbergen; er wird kühn, schliesst sie in seine Arme und drückt ihr das grosse mit
    Brillanten besetzte Porträt ihres Gemahls gewaltsam wider die Brust. Sie empfindet
    einen heftigen Schmerz, der nach und nach vergehl, erst eine kleine Rite und
    dann keine Spur zurücklässt. Ich bin als Mensch überzeugt, dass sie sich nichts
    weiter vorzuwerfen hat; ich bin als Arzt gewiss, dass dieser Druck keine üblen
    Folgen haben werde, aber sie lässt sich nicht ausreden; es sei eine Verhårtung
    da, und wenn man ihr durch das Gefühl den Wahn benehmen will, so behauptet
    sie, nur in diesem Augenblick sei nichts zu fühlen; sie hat sich fest eingebildet,
    es werde dieses Übel mit einem Krebsschaden sich endigen, und so ist ihre Jugend,
    ihre Liebenswürdigkeit für sie und andere völlig verloren."

    (Aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre) Stekel.

    Ein anderes treffendes Wort Goethes. „Es ist eine schauderhafte Emp-
    findung, wenn ein edler Mensch mit Bewusstsein auf dem Punkte steht, wo er über