Aus Vereinen und Versammlungen [Oktober 1911] 1911-776/1911
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    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Aus der IX. Versammlung polnischer Ärzte und Naturforscher.
    Neurologische Sektion.

    Die Sitzung daselbst stand lebhaft im Zeichen der Psychoanalyse
    I'reud’s. Schon in der Diskussion über das Referat von Jaroszynski:
    „Uber Neurosen“, welcher der Hauptsache nach die Babinski'sche Theorie
    des Pithialismus vertrat, wonach nur diejenigen Symptome als echte Hysterie
    aufzufassen seien, welche auf dem Wege der Suggestion entstehen, vertrat Jekels
    sehr energisch die Neurosenlehre Freud’s und gab dabei der Verwunderung
    Ausdruck, dass man der Suggestion den Wert eines unterscheidenden Momentes
    beimisst, wo doch dieselbe fiir die Nicht-Psychoanalytiker, wie z. B. die Babinski-
    sche Schule, ihrem Wesen nach gänzlich unbekannt ist.

    In seinem Referat „Uber das wesentliche Moment im Ver-
    håltnisse des Patienten zum Arzte“ führt Jekels aus, dass in
    diesem Verhältnisse der als Suggestion bezeichnete psychische Faktor affektiver
    Natur sei und noch práziser: libidinóser Natur.

    Referent rekapituliert hierbei in Kürze die Sexualtheorie Freud's und
    bespricht insbesondere die durch zahlreiche Analysen und direkte Beobachtung
    der Kinder bestätigte Behauptung Freud's, dass das Verhältnis des Kindes
    zu seinen Ellern sexueller Natur sei. Er geht nun über zur Desprechung
    der sogenannten „Übertragung auf den Arzt", wonach der Arzt in den un-
    bewussten Phantasien des Kranken für den seine Schicksale bestimmenden Eltern-
    teil — meistens für den Vater — substituiert wird. Daraus ergebe sich die sexuelle
    Betonung des Verhältnisses des Patienten zum Arzte. —

    Sümtliche Diskussionsredner halten sich nicht genau an das referierte Thema,
    sondern richten allgemeine Angriffe gegen die Freud'schen Lehren überhaupt.
    So Prof Halban, der sowohl die Richtigkeit der Methode als auch der Er-

    1) 1 Heft „Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord*, Wies-
    baden 1910, J. F. Bergmann.

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    gebnisse derselben negiert und die sexuelle Ausforschung als direkt schädlich
    bezeichnet.

    Rydel hegt bei aller Anerkennung der Genialität Freud’s das Bedenken,
    dass der Arzt die aus der analytischen Erforschung des Patienten gezogenen
    Schlüsse zu stark durch seine subjektiven Komplexe färben und sogar beein-
    flussen kann.

    Blassberg frigt, wo die Sicherheitsgrenze für die richtige und objektive
    Deutung des Symbols gegeben sei und der Schutz vor willkürlicher Interpretierung
    desselben seitens des Arztes,

    Jekels beantwortet diese Einwände dahin, dass die Symbole doch von
    den Patienten selbst und nicht von dem Arzte gedeutet werden, so dass dieser
    am Anfang seiner psychoanalytischen Erfahrung oft selber davon überrascht wird,
    ferner dass die Gefahr des Subjektivismus in der Psychoanalyse nicht grösser
    sei als in jeder anderen Wissenschaft, und betont zum Schlusse mit grossem
    Nachdrucke, dass über jeglichen theorelischen Erwägungen die persönliche prak-
    tische Erfahrung stehe. Hinter all diesen intellektuellen Einwänden verbergen sich
    nur Widerstände affektiver Natur, nämlich gegen die in der Psychoanalyse regel-
    g aufgedeckten eigenen Komplexe. Der einzig richtige Weg sei es, dieser
    Widerstände Herr zu werden und mit derselben Methode wie der Analytiker objektiv
    zu forschen; dann werden die heutigen Gegner zu den gleichen Resultaten gelangen,
    nämlich: Die Neurose sei der Ausdruck der gestörten Sexualität.

    Varia.

    Aus den Thesen für die Diskussion über die sexuelle Abstinenzirage
    (auf der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
    Geschlechtskrankheiten am 9. und 10. Juni 1911 in Dresden) von Dr. med. Magnus
    Hirschfeld (Berlin) und Dr. med. Iwan Bloch (Charlottenburg) heben wir
    hier einige hervor:

    1. Die in der sexuellen Abstinenzliteratur oft wiederkehrende, an sich
    begreifliche Behauptung, die Gefahren der Geschlechtskrankheiten seien grösser
    als die der Enthaltung, leidet daran, dass zwei heterogene Dinge miteinander ver-
    glichen werden. Der Arzt darf nicht ein Übel durch ein anderes, sondern muss
    jedes für sich bekämpfen,

    2. Die Abstinenzleiden betreffen hauptsächlich das Nervensystem als eigent-
    liches Organ der Abstinenz. Es handelt sich dabei im wesentlichen. um leichte,
    schwere und schwerste Formen sexueller Neurasthenie und Hysterie. Es ist ein
    Trugschluss, aus der mehr funktionellen Natur dieser Leiden schliessen zu wollen,
    dass es harmlose, leicht zu beseitigende Störungen sind.

    3. Wir verfügen über eine grössere Anzahl von Krankengeschichten normal-
    sexueller Personen. Diese Patiehten litten hauptsächlich an hochgradiger Be-
    einträchtigung ihrer Arbeitsfähigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfdruck,
    Angstzuständen, übergrosser Reizbarkeit usw. Medikamentöse, hydriatische, diäte-
    tische, psychotherapeutische und sonstige Behandlungsmethoden erwiesen sich als
    erfolglos. Hingegen wirkte der sexuelle Verkehr wie ein Spezi-
    fikum.

    4. Nach eindeutigen Beobachtungen bei ethisch hochstehenden Individuen,
    die trotz starker Libidio aus moralischen Prinzipien eine jahrelange sexuelle