Das Inzest-Drama und seine Komplikationen (Manuskript). Vortragender Otto Rank 1906-502/1906
  • S.

    1

    Das Inzest‑Drama 
    und seine Komplikationen (Manuskript).

    Vortragender: Otto Rank

    Die Wiedergabe des Vortrags ist mit dem Hinweis auf sein 
    baldiges Erscheinen als Buch unterlassen.

    Diskussion.

    Frey rügt das Fragmentarische, Abgerissene des Vortrags; Rank 
    habe keinen Vortrag, sondern ein Excerpt seines Manuskriptes 
    gegeben; Frey vermißt die strenge Durchführung des Haupt-
    themas; Rank habe lauter Einzelheiten gegeben.

    Es herrsche in der Arbeit das Bestreben vor, alles nach der 
    Methode Freuds zu deuten und in diesem Bestreben sei 
    zu viel in das Material hineingetragen und dementsprechend 
    auch zu viel herausgedeutet worden. Manche Vorgänge, die 
    Rank symbolisch deute, wären rein sinnlich aufzufassen. 
    So sehe er nicht ein, warum in Hartmanns Gedicht die Fessel 
    des Gregorius, die ihn am Weglaufen hindere, als psychische 
    Projektion des exhibitionistischen Gehemmtseins (Freud) ge-
    deutet werde; oder warum die Abnahme von Laios Gürtel und 
    Schwert durch Oedipus als Symbolik der Entmannung und 
    Besitzergreifung von der Mutter gedeutet werde; überdies 
    wisse ja Oedipus nicht, dass der Mann, dem er das Schwert 
    abnähme (den er also entmannt) sein Vater sei. Rank 
    möge sich damit begnügen, das Wahrscheinliche plausibel 
    zu machen.

    Schließlich rügt er noch die mißbräuchliche Verwendung 
    des Begriffs der Verdrängung; vieles, was Rank Verdrängung 

  • S.

    2

    nenne, sei nur eine Verfeinerung; nicht jede Verfeinerung 
    aber sei eine Verdrängung.

    Reitler bemerkt, der Vortrag sei zuwenig ausführlich 
    gewesen, um sich ein Bild von der Arbeit machen zu 
    können. Interessant wäre ein näheres Eingehen auf 
    die Busse in den Heiligengeschichten gewesen, da ja die 
    Busse mit der Hysterie nahe verwandt sei. Er möchte 
    die Aufstellung Ranks, wonach im Traum die Verdrängung 
    am geringsten, im Mythos schon stärker und im Drama 
    (in der Kunst) am stärksten sei, umkehren. Als Bei-
    spiel des Vaterhasses führt er an, dass Gott Vater – wohl in-
    direkt – seinen Sohn Jesus töte, der ja zugleich mit Gott‑
    Vater in der Dreieinigkeit enthalten sei. Schließlich ver-
    weist er auf inzestuöse Anspielungen in Studentenliedern.

    Deutsch lehnt mit dem Hinweis der Vorwegnahme seiner Be-
    merkungen durch Reitler jede Äusserung ab.

    Häutler rügt auch den Vortrag, bei dem das Wesentliche zu wenig
    betont sei; er vermisse auch die Komposition im Ganzen. 
    Die Arbeit solle ja nicht eine Zusammenstellung aller in 
    der Litteratur vorkommenden Inzest‑Fälle sein; diesen 
    Eindruck aber habe er gehabt. Er meint, von einer Ver-
    drängung könne man nur bei einzelnen Personen 
    sprechen, nicht aber bei der uns ziemlich unbekannten 
    Volksseele. Er könne auch nicht immer ein persön-
    liches Verhältnis des Mitteilenden (Dichters etc) zu dem 
    Stoffe zugeben; die Inzest‑Stoffe seien wirkungsvoll, 
    und der Inzest könne nach und nach ein bloss 
    äusserliches Requisit geworden sein. Schließlich bemerkt 

  • S.

    3

    er noch, daß zu viel „gedeutet“ sei.

    Hitschmann findet, die Arbeit biete nur eine – ziemlich über-
    flüssige – quantitative Ausbreitung der von Freud aufgedeckten 
    Tatsache (Oedipus). Liebe zwischen Verwandten habe nicht immer 
    inzestuöse Wurzeln, sondern sei einfach Liebe zu den Ver-
    wandten, z. B. Elternliebe. Der Inzest sei etwas Pathologisches, 
    deswegen habe er auch die Dichter so angezogen. Hitschmann 
    gibt aber doch eine Anziehung des Unbewussten bei der 
    Auswahl des Stoffes und beim Interesse des Hörers zu. Schliess-
    lich warnt er davor, so weit ausgreifende Themata aus 
    einem so abseits stehenden Gesichtswinkel zu betrachten 
    und prophezeit dem Vortragenden – bei weiterer Aus-
    schliessung anderer Gesichtspunkte – ein düsteres Ende. 

    Federn sagt, er müsse sich zunächst gegen Hitschmanns 
    Ausführungen wenden. Er halte die ¿¿¿ Arbeit für 
    wichtig, er habe über die Ubiquität der Inzest‑Regungen 
    gestaunt. Er vermisst die historische (phylogenetische) 
    Entwicklung des Inzestes; in der Urfamilie u. in der Einzel-
    familie. Die Schaffung der Einzelfamilie müsse das Ver-
    bot des Inzestes zur Folge gehabt haben. Der Inzest zwischen 
    Vater und Tochter sei nicht so verpänt gewesen wie der 
    zwischen Mutter und Sohn: deswegen komme er auch in 
    der Literatur seltener vor. Den Ausdruck, daß die Eu-
    meniden „paranoische“ Projektionen unbewusster Regungen 
    gewesen seien, möchte er – vom medizinischen Stand-
    punkte – dahin modifizieren, dass sie vielmehr 
    Hallucinationen gewesen seien. Er rügt die Deutung von 
    schwarz und weiß als Unbewusstes und Bewusstsein. 

  • S.

    4

    Die Entmannungsgelüste dürfe man nicht bloss als auf den 
    Vater gerichtet bezeichnen; sie hätten sich in der Urzeit 
    auf jeden gehassten Menschen gerichtet. Bei der Ent-
    mannung des Kronos durch Zeus habe es sich vor allem 
    um den Besitz der Herrschaft gehandelt. Die Auffassung 
    der „Nasen“‑Szene in Auerbachs Keller (Faust) als Verdrängung 
    einer früheren, roheren Scene will er nicht gelten lassen.

    Freud rügt zunächst die Fehler des Vortragenden: zunächst 
    verstehe er es nicht, sich einzuschränken und das Thema 
    scharf zu begrenzen: so könnte z. B. die Zurück-
    führung einiger Stellen in Hartmanns Werken auf ex-
    hibitionistische Regungen ganz gut wegbleiben, da das mit 
    dem Thema in keinem Zusammenhang stehe; ebenso könne 
    der Mythos von Orest und Klytämnestra wegbleiben, ob-
    wohl die Übergänge dazu ganz geschickt hergestellt wären. 
    Der zweite Fehler des Vortragenden bestünde darin, dass er 
    seine Erkenntnisse und Resultate nicht zu demon-
    strieren verstehe; es genügt ihm, wenn er selbst die 
    Sache begriffe. Der Vortragende möge ganz kurz die wichtigsten 
    Resultate seiner Untersuchungen geben und sie an einigen 
    Beispielen demonstrieren. Das Schema der Arbeit denkt sich 
    Freud so: als Kern und Vorbild sei der Oedipus hingestellt; 
    die Methode des Vortragenden, einesteils um diesen Kern herum 
    alles zu gruppieren, andernteils durch Reihenbildung 
    das Thema von diesem Kern aus bis in die letzten Ausläufer 
    zu verfolgen, wäre die einzig richtige und erprobte. 
    Je weiter man sich vom Kern entferne, desto unsicherer 
    wäre allerdings die Deutung, und es wire Sache des persönlichen 

  • S.

    5

    Geschmacks sowie des Geschicks, an der richtigen 
    Stelle halt zu machen. Auch sei nicht alles von einem 
    Punkt aus zu betrachten; die Stoffe unterlägen auch der 
    Einwirkung anderer Themata, die man berücksichtigen müsse.

    Auch Freud nimmt den Begriff der Verdrängung gegen eine 
    mißbräuchliche Verwendung in Schutz; manches, was Rank 
    als Verdrängung bezeichnet habe, sei eine Verschiebung oder 
    Milderung. Freud hebt die Häufigkeit des Inzestes bei den 
    „Göttern“ hervor und knüpft daran die Bemerkung, dass 
    alles, was später verboten und schließlich heilig gesprochen 
    wurde, etwas ist, worauf ursprünglich alle verzichtet
    haben: es stecke darin die doppelte Bedeutung des Wortes 
    sacer. Die Heilung des Orestes einer psychischen Kur gleich-
    zusetzen, findet Freud zu liebenswürdig; es hätten da sicher 
    andere Momente, wie die Einführung des Apollo‑Kultus u. a., 
    eingewirkt.

    Adler möchte zunächst den Titel geändert wissen; es solle 
    im Titel angedeutet werden, daß es sich in der Arbeit um 
    die Aufdeckung eines Kernes handelt; Rank möge sich 
    aber auch in der Arbeit mit der Aufdeckung dieses Kernes 
    begnügen und sich nicht auf detaillierte Deutungen 
    einlassen. Er hält die Arbeit als Bestätigung mancher 
    Erfahrungen aus den Psycho‑Neurosen für wichtig; 
    insbesondere Anfänger könnten daraus lernen. Er 
    gibt aus seiner psycho‑therapeutischen Praxis einige
    Beispiele, die Ranks Resultate bestätigen: Zur Deutung 
    des Gürtellösens als sexuelles Symbol führt er den hysterischen 
    Anfall einer Patientin an, wobei sie sich den Gürtel öffnet; 

  • S.

    6

    Die Deutung ergab dann die sexuelle Auffassung dieser 
    Handlung. Zum Anfall Orests, worin er sich einen 
    Finger abbeisst, und zur sexuellen Deutung dieses Symptoms, 
    gibt Adler ein Analogon aus den Hysterien. Eine Patientin 
    sei bei nacht aus einem Traum aufgekommen und habe 
    bemerkt, daß sie sich den Finger blutig gebissen habe. 
    Die Deutung ergibt einen Penis für den Finger (wie bei 
    Orest), und die Symptomhandlung lässt auf eine 
    Abwehr der Mundperversion schliessen. Auch zur 
    sexuellen Symbolik der Schlange bringt Adler eine Be-
    stätigung aus der Neurosen‑Psychologie bei. Eine seiner 
    Patientinnen sagte, zwischen ihr und ihrem Vater be-
    stehe eine Verbindung von der Gestalt einer Schlange 
    und zum Teil eines Vogels. Auf Adlers Wunsch habe sie 
    diese Vorstellung dann zeichnerisch dargestellt, wobei sich 
    diese Verbindung unverkennbar als ein Penis entpuppt 
    habe. Er erwähnt auch, daß bei Kindern das Glied Schlange“ 
    heisse; es sei das ein sehr gebräuchlicher Ausdruck. 
    (Dazu bemerkt Freud, daß die Teufel auf den mittelalterlichen 
    Bildern ihr Glied schlangenförmig gestaltet haben). 
    Auch zu Ranks Deutung der Hautkrankheiten (Aussatz) 
    als Abwehr exhibitionistischer Regungen (Hartmann v. 
    der Aue: Armer Heinrich) bemerkt Adler, dass Exantheme
    im Traum und in der Hysterie häufig vorkämen. Er 
    erzählt von einem Traum einer Exhibitionistin (Hysterika), 
    worin sie ihre Freundin (oder Cousine) sich entblössen 
    lässt; diese Freundin hat ein Geschwür an der Brust. 
    Schließlich erwähnt Adler noch die symbolische Bedeutung 

  • S.

    7

    der Nase als Geschlechtsorgan in Traum und 
    Neurose. Er sei sich aber über diese Symbolik noch nicht 
    ganz klar. (Zu der Mitteilung Adlers über die Ausschläge“ 
    bemerkt Freud, dass Ausschläge in der Kindheit dem Kinde 
    eben die beste Gelegenheit zur Selbstentblössung gäben). 
    Adler rügt dann den oberflächlichen Versuch der Erklärung 
    des Verbrechens: mit dem Hinweis darauf, dass jedes Verbrechen 
    sexuelle Wurzeln habe, sei noch nichts erklärt. Den Zug in 
    den Mythen und Legenden, dass die Eltern um die verbrecherischen 
    Neigungen des Kindes wissen, erklärt Adler so, daß der Dichter 
    mit seinen Instinkten dahinterstecke; er trägt diesen 
    Zug hinein. Schließlich betont Adler noch, daß sich an 
    der häufigen Bearbeitung inzestuöser Stoffe das 
    besondere Interesse der Dichter und des Volkes zeige.

    Kahane erwähnt als Inzest‑Fall ¿¿¿ in Perikles v. Tyrus. In der 
    Deutung scheint ihm der Vortragende manchmal zu weit 
    zu gehen; es mute ihn das wie eine „Überspannung“ eines 
    Gummibandes an. Er betont besonders die Neigung der 
    Eltern zu den Kindern und weist auf den Sexualneid der 
    Eltern hin: auf die Feindschaft der Eltern gegen die Sexualität 
    der Kinder. Das Verbot der Masturbation oder auch des 
    normalen Geschlechtsverkehrs der Söhne oder Töchter durch 
    die Eltern entspringe gewiss nicht moralischen Motiven, 
    sondern wurzele im Sexualneid. Kahane bemerkt, dass 
    ihm das Verhältnis von Mutter und Sohn allein als wichtig er-
    scheine. Schliesslich knüpft er an eine Bemerkung Federns 
    an, wonach in südlichen Ländern die Mütter rasch altern und 
    dann für den Sohn nicht begehrenswert erscheinen; daraus 

  • S.

    8

    ergäbe sich bei Dichtern die Notwendigkeit den Sohn älter und
    die Mutter jünger zu machen.

    Anschließend an die Diskussion erzählt Freud einen Fall als Beispiel 
    für die Einwirkung des sexuellen Traumas: er habe seit ungefåhr 
    1½ Wochen eine Hysterika in Behandlung; gleich in der ersten 
    Sitzung teilt sie eine Exhibitionsszene aus ihrem vierten 
    Jahr mit; sie hat sich damals vor ihrem Bruder ausgezogen, der 
    darüber entrüstet war. Später hatte sie mit dem Bruder ein fast 
    inzestuöses Verhältnis. Vom elften Jahr an zeigten sie ihre Körper 
    einander und verfolgten so ihre Entwicklung. Zwischen dem 11. 
    und 14. Jahr kam es zwischen ihnen zu intimen körperlichen Be-
    rührungen mit Ausschluss der Hände; sie lagen auf-
    einander und machten Koitusversuche. Das alles sind bei der 
    Patientin bewusste Erinnerungen. In einer Sitzung, wo es 
    mit der Kur nicht recht vorwärts ging, kam das Gespräch auf 
    Alltägliches; sie erzählt, sie sei eine berühmte „Fleckputzerin“ 
    betreibe leidenschaftlich gerne Obstzucht, insbesondere von 
    Äpfeln. Sie erzählt auch ein Erlebnis mit ihrem Vater, der 
    die Brüste einer deutschen Dame „fromm“ genannt habe und sich
    darüber aufgehalten habe, daß das Kleid der Dame diese Brüste sehen lasse. 
    Sie bemerkte dem Vater gegenüber, er hätte die Brüste ganz gerne
    gesehen, wenn sie weniger fromm gewesen wären (fromme 
    Brüste = birnförmige Brüste: pomme au poire); wozu Kahane 
    bemerkt: fromm weil sie abends auf die Kniee sinken.