Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit 1916-004/1916
  • S.

    IMAGO

    ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PS CHO=
    ANALVSE AUF DIE GEISTESWISSENSCI—i WIEN

    HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR‚ SIGM. FREUD

    SCHRJFTLEITU'NG:
    IV. 6. DR. OTTO RANK/DR. HANNS SACHS 1916

    Einige Charaktertypen aus der psychoanalytisohen
    Arbeit.
    Von SIGM‚ FREUD‚

    enn der Arzt die psychoanalytische Behandlung eines Nervösen
    durchführt, so ist sein Interesse dabei keineswegs in erster

    Linie auf dessen Charakter gerithtet. Er möchte viel eher
    wissen, was seine Symptome bedeuten, weld1e Triebregungen sich
    hinter ihnen verbergen und durch sie befriedigen, und über welche
    Stationen der geheimnisvolle We von jenen Triebwünschen zu diesen
    Symptomen eführt hat. Aber ic Technik, der er folgen muß, nötigt
    den Arzt baäl, seine Wißbegierde vorerst auf andere Objekte zu
    rirhten, Er bemerkt, daß seine Forsdmng durch Widerstände bedroht
    wird, die ihm der Kranke entgegensetzt, und darf diese Widerstände
    dem Charakter des Kranken zured'men, Nun hat dieser Charakter
    den ersten Anspruch an sein Interesse.

    Was Sidi der Bemühung des Arztes widersetzt, sind nicht immer
    die Charakterzüge‚ zu denen sid) der Kranke bekennt, und die ihm
    von seiner Umgebung zugesprochen werden. Oft zeigen sich Eigen:
    sd1aften desKranken bis zu un eahntenlntensitäten gesteigert‚von denen
    er nur ein bescheidenes Mai zu besitzen sdiien, oder es kommen
    Einstellungen bei ihm zum Vorschein, die sich in anderen Beziehungen
    des Lebens nicht verraten hatten. Mit der Beschreibung und Zurück:
    führung einiger von diesen überraschenden Charakterzügen werden
    sich die nachstehenden Zeilen beschäftigen.

    I.
    Die Ausnahmen.

    Die psyd'manalytisd'te Arbeit sieht sich immer wieder vor die
    Aufgabe gestellt, den Kranken zum Verzicht auf einen naheliegenrlen
    und unmittelbaren Lustgewinn zu bewegen. Er soll nicht auf Lust

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    318 Sign. Freud

    überhaupt verziditen, das kann man vielleicht keinem Menschen zu-
    muten, und selbst die Religion muß ihre Forderung, irdisrhe Lust
    fahren zu lassen, mit dem Versprechen begründen, dafür ein ungleich
    höheres Maß von wertvollerer Lust in einem ]enseits zu gewähren.
    Nein, der Kranke soll bloß auf solche Befriedigungen verzichten, denen
    eine Schädigung unfehlbar nachfolgt, er soll bloß zeitweilig entbeln-en,
    nur den unmittelbaren Lustgewinn egen einen besser gesidwrren,
    wenn auch aufgesdiobenen, eintaus en lernen. Oder mit anderen
    Worten, er soll unter der ärztlidien Leitung jenen Fortschritt vom
    Lustprinzip zum Realitätsprinzip machen, durch welchen sich
    der reife Mensch vom Kinde scheidet. Bei diesem Erziehungswerk
    spielt die bessere Einsidit des Arztes kaum eine entstheidende Rolle,
    er weiß ja in der Regel dem Kranken nichts anderes zu sagen, als
    was diesem sein eigener Verstand sagen kann. Aber es ist nidit
    dasselbe, etwas bei Sidi zu wissen und dasselbe von anderer Seite
    zu hören; (ler Arzt übernimmt die Rolle dieses wirksamen Anderen,
    er bedient Sidi des Einflusses, den ein Mensch auf den anderen aus-
    übt. Oder; erinnern wir uns daran, daß es in der Psydioanalyse
    üblich ist, das Ursprünglidie und Wurzelhafte an Stelle des Ab-
    geleiteten und Gemilderten einzusetzen, und sagen wir, der Arzt
    bedient sich bei seinem Erziehungswerk irgend einer Komponente der
    Liebe. Er wiederholt bei solcher Naäerziehung wahrscheinlich nur
    den Vorgang, der überhaupt die erste Erziehung ermöglidtt hat.
    Neben der Lebensn0t ist die Liebe die große Erzieherin, und der
    unfertige Mensdi wird durch die Liebe der ihm Nächsten dazu be-
    wegen, auf die Gebote der Not zu achten und Sidi die Strafen für
    deren [Ibertretung zu ersparen.

    Fordert man so von den Kranken einen vorläufi en Verzicht
    auf irgend eine Lustbefriedigung, ein Opfer, die Bereitwi ligkelt, zeit-
    weilig für ein besseres Ende Leiden auf sich zu nehmen, oder audi
    nur den Entsdfluß, sidi einer für alle eltenden Notwendigkeit zu
    unterweifen, so stößt man auf einzelne ersonen, die sich mit einer
    besonderen Motivierung gegen solche Zumutun sträuben. Sie sagen,
    sie haben genug elitten und entbehrt, sie ha en Anspruch darauf,
    von weiteren An orderungen versdiont zu werden, sie unterwerfen
    Sidi keiner unliebsamen Notwendi keit mehr, denn sie seien Aus-
    nahmen und gedenken es audi zu leihen. Bei einem Kranken solcher
    Art war dieser Ansptudi zu der Überzeugung gesteigert, daß eine
    besondere Vorsebung über ihn wache, die ihn vor derartigen 5dimerz-
    lichen Opfern bewahren werde. Gegen innere Sidi2rlieiten, die sich
    mit solcher Stärke äußern, riditen die Argumente des Arztes nidits
    aus, aber auch sein Einfluß versagt zunächst, und er wird darauf
    hingewiesen den Quellen nadizuspüren, aus welchen das schädliche
    Vorurteil gespeist wird.

    Nun ist es wohl unzveifelhafi, daß ein jeder Sidi für eine »Aus-
    nahme« ausgeben und Vorredite vor den anderen beansprudien
    mödite. Aber gerade darum bedarf es einer besonderen und nicht

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    Einige Charaktertypen aus der psyd‘manalytischen Arbeit 319

    überall vorfindlidien Begründung, wenn er sich wirklid1 als Ausnahme
    verkündet und benimmt. Es mag mehr als nur eine solche Begründung
    geben,- in den von mir untersuchten Fällen gelang es, eine gemein-
    same Eigentümlichkeit der Kranken in deren frühen Lebensschick-
    salen nachzuweisen: Ihre Neurose knüpfte an ein Erlebnis oder an
    ein Leiden an, das sie in den ersten Kinderzeiten betroffen hatte, an
    dem sie Sidi unsdurldig wußten, und das sie als eine ungerechtz Benach-
    teiligung ihrer Person bewerten konnten. DieVorreditc, die sie aus
    diesem Unrecht ableiteten, und dieUnbotmäßigkeit, die sid] daraus ergab,
    hatten nicht wenig dazu beigetragen, um die Konflikte, die später zum
    Ausbruch der Neurose führten, zu versduärfen, Bei einer dieser Patien-
    tinnen wurde die bes rod1ene Einstellung zum Leben vollzogen, als
    sie erfuhr, daß ein schmerzhaftes or anisches Leiden, welches sie an
    der Erreidiung ihrer Lebensziele ge indert hatte, kongenitalen Ur.
    s rungs war. Solange sie dieses Leiden für eine zufälli e spätere

    rwerbrmg hielt, ertrug sie es geduldi , von ihrer Äufk ärung an,
    es sei ein Stück mitgebrarhter Erbsd1aä, wurde sie rebellisch. Der
    junge Mann, der Sidi von einer besonderen Vorschung bewadit
    glaubte, war als Säugling das Opfer einer zufälligen Infektion durch
    seine Amine geworden und hatte sein ganzes späteres Leben über
    von seinen Enisdiädigungsansprüdlßn wie von einer Unfallsrente
    gezehrt, ohne zu ahnen, worauf er seine Ans rüche gründete, In
    seinem Falle wurde die Analyse, welche dieses rgebnis aus dunkeln
    Erinnerungsresten und Symptomdeutungen konstruierte, durch Mit-
    teilungen der Familie objektiv bestätigt.

    Aus leidn verständlichen Gründen kann ich von diesen und
    anderen Krankengeschidnen ein mehreres ni<ht mitteilen [di will auch
    auf die nahelie ende Analogie mit der Charakterverbildung nach langer
    Kränklid1keit er Kinderjaln'e und im Benehmen ganzer Völker mit
    Ieidensd1werer Vergangenheit nicht eingehen. Dag)egen werde ich es
    mit nicht versagen, auf jene von dem größten ichter gesd‘iaifene
    Gestalt hinzuweisen, in deren Charakter der Ausnahmsanspruth mit
    dem Moment der kongenitalen Benachteiligung so innig verknüpfi und
    durd'i dieses motiviert ist.

    Im einleitenden Monolog zu Shakespeares Richard III. sagt
    Glaster, der spätere König:

    ‚Doch ich, zu Possenspielen nicht gemad\t‚

    Noch um zu buhlcn mit verliehen Spiegeln,

    Ich, roh geprägt, entblößt Von Liebes-Maiestät
    Vor leicht Sidi dreh'nden Nymphen sich zu brüsten,
    Ich, um die: schöne Ebenmaß verkürzt,

    Von der Natur um Bildung falsd\ betrogen,
    Entstcllt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt

    In diese Welt des Ätmens, halb kaum fertig
    Gemarht, und zwar so lahm und un ezianend,
    Daß Hunde hellen, hink' id! wo vor i;

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    320 Sigm. Freud

    Und darum, weil id1 nicht als ein Verliebter
    Kann kürzen diese fein beredten Tage,

    Bin ich gewillt ein Bösewidut zu werden
    Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage.«

    Unser erster Eindrudt von dieser Programmrede wird vielleicht
    die Beziehung zu unserem Thema vermissen. Richard sdteint nichts
    anderes zu sagen als: Ich langweile mich in dieser müßiäf“ Zeit und
    ich will mich amüsieren. Weil id] aber wegen meiner M' gestalt mith
    nicht als Liebender unterhalten kann, werde ich den Bösewicht spielen,
    intrigieren, mcrden, und was mir sonst gefällt, Eine so frivole Moti:
    vierung müßte jede Spur von Anteilnahme beim Zuschauer erstidien,
    wenn sich nid1ts Ernsteres hinter ihr verbärge. Dann wäre aber auch
    das Stück psychologisch unmöglich, denn der Dichter muß bei uns
    einen geheimen Hintergrund von Sympathie für seinen Helden zu
    schalfen verstehen, wenn wir die Bewunderung für seine Kühnheit
    und Geschidtlichkeit ohne inneren Einsprudt verspüren sollen, und
    solche Sympathie kann nur im Verständnis, im Gefühl einer möglichen
    inneren Gemeinsd‘rafi mit ihm, begründet sein.

    dl meine darum, der Monolcg Richards sagt nicht alles, er
    deutet bloß an und unterläßt es uns, das Angedeutete auszuführen‚
    enn wir aber diese Vervollständigung vornehmen, dann sd1windet
    der Anschein von Frivolität, dann kommt die Bitterkeit und Aus=
    führlirhkeit, mit der Richard seine Mißgestalt geschildert hat, zu ihrem
    Recht, und uns wird die Gemeinsamkeit klar ernadrt, die unsere
    Sympathie audi für den Bösewidtt erzwingt. 5 heißt dann: Die
    Natur hat ein sdrweres Unrecht an mit begangen, indem sie mir
    die Wohlgestalt versagt hat, welche die Liebe der Mensdien gewinnt.
    Das Leben ist mir eine Entschädi ng dafür schuldig, die ich mir
    holen werde. Ich habe den Anspruäi‘darauf, eine Ausnahme zu sein,
    mich über die Bedenken hinwegzusetzen, dureh die sid] andere hindem
    lassen, Id] darfselbst Unred‘tt tun, denn an mir istUnredlt geschehen,—
    und nun fühlen wir, daß wir selbst so werden könnten wie Richard,
    ja daß wir es im kleinen Maßstabe bereits sind. Richard ist eine igan:
    tisd1e Vergrößerun dieser einen Seite, die wir audi in uns finden.
    Wir glauben alle grund zu haben, daß wir mit Natur und Sdridt:
    sal wegen kongenitaler und infantiler Benachteiligung großen,- wir
    fordern alle Entschädigung für frühzeitige Kränkungen unseres Nat:
    zißmus, unserer Eigenliebe. Warum hat uns die Natur nicht die
    goldenen Lodren Balders geschenkt oder die Stärke Siegfrieds oder
    die hohe Stirne des Genies, den edlen Gesidltssdmitt des Aristokraten?
    Warum sind wir in der Bürgerstube geboren anstatt im Königssduloß?
    Wir würden es ebenso gut trelfen, Sd'tön und vornehm zu sein, wie
    alle, die wir jetzt darum beneiden müssen.
    ist aber eine feine ökonomische Kunst des Didaters, daß er
    seinen Helden nicht alle Geheimnisse seiner Motivierung laut und rest:
    los aussprechen läßt, Dadurch nötigt er uns, sie zu er änzen, be:
    s:häftigt unsere gei ige Tätigkeit, lenkt sie vom kritisd€en Denken

  • S.

    Einige Charaktertypen aus der psyd'loanalyt chen A; 321

    /

    al), und hält uns in der identilizierung mit dem Helden fest, Ein
    Stümper an seiner Stelle würde alles, was er uns mitteilen will, in
    bewußten Ausdrutk fassen untl fände sich dann unserer kühlen, frei
    beweglichen Intelligenz gegenüber, die eine Vertiefung der Illusion
    unmöglich macht.

    Wir wollen aber die »Ausnahmen« nicht verlassen, ohne zu
    bedenken, daß (ler Anspruch der Frauen auf Vorrethte und Befreiung
    von soviel Nötigungen des Lebens auf demselben Grunde ruht. Wie
    wir aus der psydnoanalytisrhen Arbeit erfahren, betrachten sich die
    Frauen alle als infantil geschädigt, ohne ihre S<huld um ein Stüdt
    verkürzt und zurütkgesetzt, und die Erbitterung so mand12rTodtter
    gegen ihre Mutter hat zur letzten Wurzel den orwutf, daß sie
    sie als Weib anstatt als Mann zur Welt gebrarht hat.

    il,
    Die am Erfolge scheitern,

    Die psyehoanalytisthe Arbeit hat uns den Satz gesd1enkt: Die
    Menschen erkranken neurotisdt infolge der Versagung Die Ver:
    sagung der Befriedigung für ihre libidinösen Wünsche ist gemeint,
    und ein längerer Umweg ist nötig, um den Satz zu verstehen. enn
    zur Entstehun der Neurose bedarf es eines Konflikts zwischen den
    libidinösen ünsdien eines Menschen un jenem Anteil seines
    Wesens, den wir sein ldt heißen, der Ausdrudt seiner Selbst-
    erhaltun striebe ist und seine ideale von seinem eigenen Wesen ein:
    sdiliۧtfiEin sol<her pathogevnet Konflikt kommt nur dann zustande,
    wenn sieh die Libido auf ege und Ziele werfen will, die von; Ich
    län st überwunden und geächtet sind, die es also aurh für alle
    Zu unit verboten hat, und das tut die Libido erst dann, wenn ihr
    die Möglidtkeit einer idigerechten idealen Befriedigung benommen ist.
    Somit wird die Entbehrung, die Versagung einer realen Befriedi:
    gung die erste Bedingung für die Entstehung der Neurose, wenn
    audrlange nicht die einzige.

    Um so mehr muß es überraschend, ja verwirrend wirken, wenn
    man als Arzt die Erfahrung macht, daß Menschen gelegentlich gerade
    dann erkranken, wenn ihnen ein tief begründeter und lange gehegter
    Wunsrh in Erfüllung gegangen ist. Es sieht dann so aus, as 0
    sie ihr Glück nicht vertragen würden, denn an dem nrsächlid‘ten
    Zusammenhang zwisdxen dem Erfolg und der Erkrankung kann
    man nicht zweifeln, So hatte ich Gelegenheit, in das Schicksal einer
    Frau Einsidxt zu nehmen, das ich als vorbildlich für solche tragische
    Wendungen beschreiben will.

    Von guter Herkunft und wohlerzogen, konnte sie als ganz
    junges Mäd<hen ihre Lebenslust nitht zügeln, riß sich vom Eltern-
    haus los und trieb Sidi abenteuernd in der Welt herum, bis sie die
    Bekanntsdtait eines Künstlers machte, der ihren weiblichen Reiz zu

    image [WB 21

  • S.

    322 Sigm. Freud

    sdiätzen wußte, aber auch die feinere Anlage an der Herab=
    gewürdigten zu ahnen verstand. Er nahm sie in sein Haus untl
    gewann an ihr eine treue Lebensgefährtin, der zum vollen Glück
    nur die bürgerliche Rehabilitierung zu fehlen sdiien. Nadi jahre=
    langem Zusammenleben setzte er es durd1, daß seine Familie sich
    mit ihr befreundete, und war nun bereit, sie zu seiner Frau vor
    dem Gesetz zu machen. In diesem Moment begann sie zu Versagen,
    Sie vernachlässigte das Haus, dessen rednmäßige Herrin sie nun
    werden sollte, hielt sich für verfolgt von den Verwandten, die sie
    in die Familie aufnehmen wollten, sperrte dem Manne durch sinn:
    lose Eifersud1t jeden Verkehr, hinderte ihn an seiner künstlerisdlen
    Arbeit und verfiel bald in unheilbare seelische Erkrankung.

    Eine andere Beobachtung zeigte mir einen höchst respektablen
    Mann, der, selbst akademischer Lehrer, durdl Viele Jahre den be:
    greiflidren Wunsch genährt hatte, der Nachfol er im Lehramt seines
    Meisters zu werden, der ihn selbst in die \%issensthaft eingeführt
    hatte. Als nad1 dem Rücktritt ienes Alten die Kollegen ihm mit:
    teilten, daß kein anderer als er zu dessen Nachfol er ausersehen sei,
    begann er zaghalt zu werden, verkleinerte seine erdienste, erklärte
    sich für unwürdig, die ihm zugedachte Stellung auszufüllen, und ver:
    fiel in eine Melancholie, die ihn für die nächsten Jahre von jeder
    Tätigkeit aussdsaltete.

    So versdiieden diese beiden Fälle sonst sind, so treffen sie
    doch in dem einen zusammen, daß die Erkrankung auf die Wunsdin
    erfüllung hin auftritt und den Genuß derselben zunichte macht.

    Der Widerspruch zwischen soldren Erfahrungen und dem Satze,
    der Mensch erkranke an Versagung, ist nicht unlösbar. Die Unter:
    scheidung einer äußerlichen von einer innerenVersagung hebt ihn
    auf. Wenn in der Realität das Objekt weggefallen ist, an dem die
    Libido ihre Befriedigung finden kann, so ist dies eine äußerliche
    Versagung, Sie ist an sich wirkungslos, noch nicht pathogen, so
    lange sich nid" eine innere Versagun zu ihr gesellt. Diese muß
    vom Ich ausgehen und der Libido anfere Objekte streitig mad1en,
    deren sie sich nun bemäd1tigen will. Erst dann entsteht ein Konflikt
    und die Möglichkeit einer neurotisdxen Erkrankun , d. h. einer Ersatz:
    befriedigung auf dem Umwege über das ver rängte Unhewußte.
    Die innere Versagung kommt also in allen Fällen in Betracht, nur
    tritt sie nicht eher in Wirkung, als bis die äußerlirhe reale Ver:
    sagung die Situation für sie vorbereitet hat, In den Ausnahmsfällen,
    wenn die Mensdien am Erfolg erkranken, hat die innere Versagung
    für sich allein gewirkt, ja sie ist erst hervorgetreren, nachdem die
    äußerliche Versagung der Wunsd1erfüllung Platz gemacht hat. Daran
    bleibt etwas für den ersten Anschein Auffälliges, aber bei näherer
    Erwägung besinnen wir uns dodl, es sei gar nicht ungewöhnlich,
    daß das Im einen Wunsdr als harmlos toleriert, solange er ein
    Dasein als Phantasie führt und ferne von der Erfüllung scheint,
    während es sid] scharf gegen ihn zur Wehre setzt, sobald er sich

  • S.

    Einige Charakter-typen aus der psydnoanalyllsthen Arbeit im

    der Erfüllung nähert und Realität zu werden droht. Der Unter:
    schied gegen Wohlbekannte Situationen der Neurosenbildung liegt
    nur darin, daß sonst innerliche Steigerungen der Libidobesetzung die
    bisher geringgeschätzte und geduldete Phantasie zum gefürditeten
    Gegner maduen, während in unseren Fällen das Signal zum Aus=
    brud1 des Konflikts durch eine reale äußere Wandlung gegeben wird.

    Die analytische Arbeit zeigt uns leicht, daß es Gewissens:
    mächte sind, welche der Person verbieten, aus der glüdalin‘ren realen
    Veränderung den lange erhofften Gewinn zu ziehen. Eine sd'ivlierige
    Auf abe aber ist es, Wesen und Herkunft dieser richtenden und
    stra enden Tendenzen zu erkunden, die uns durch ihre Existenz oft
    dort überraschen, wo wir sie zu finden ni<ht erwarteten. Was wir
    darüber wissen oder vermuten, will ich aus den bekannten Gründen
    nirht an Fällen der ärztlid'ien Beohaditung, sondern an Gestalten
    erörtem, die große Dichter aus der Fülle ihrer Seelenkenntnis er-
    schaffen haben.

    Eine Person, die nach erreiditem Erfolg zusammenbridtt, nach:
    dem sle mit unheirrter Energie um ihn gerungen hat, ist Shakespeares
    Lady Macbeth. Es ist vorher kein Schwanken und kein Anzeichen
    eines inneren Kampfes in ihr, kein anderes Streben, als die Bedenken
    ihres ehrgeizigen und doch mildfühlenden Mannes zu besiegen. Dem
    Mordvorsatz will sie selbst ihre Weiblidikeit opfern, ohne zu erwägen,
    weld1 entscheidende Rolle dieser Weiblichkeit zufallen muß, wenn es
    dann gelten soll, das durch Verbredxen erreichte Ziel ihres Ehr-
    geizes zu behaupten,

    (Akt I, Szene 5>:

    )Kcmmt, ihr Geister,
    Die ihr auf Mordgedanken lausdit, entweibt midt.u
    _________ An meine Brüste,

    Ihr Mordeslielferl Saugt mir Milch zu Galle!(

    (Akt 1, Szene 7):
    >Id1 gab die Brust und weiß,
    Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt.
    Und dodu, dieweil es mit ins Anllitz lächelt,
    Wollt’ reißen id'l von meinem Mutterlmsm
    Sein zahnlos Mündlein, und sein Hirn aussd'imetterm
    Hätt' id1's gesthworen, wie du jenes sdiwurstl‘

    Eine einzige leise Regung des Widerstrebens ergreifi sie vor

    der Tat:
    (Akt ll, Szene 2):

    ’l‘lätt' er gegliduen meinem Vater nid“
    Als er so srhlief‚ ich hätt’s getan.«
    Nun, da sie Königin geworden durd] den Mord an Duncan,
    meldet sich flüchtig etwas wie eine Enttäusd1ung, wie ein Überdruß.

    Wir wissen nidit, woher.
    “'

  • S.

    ées Sigm. Freud

    (Akt III, Szene 2):
    ’Nidns hat man, alles Lüge.
    Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge,
    ’s ist sidtrer das zu sein, was wir zerstören,
    Als durch Zerstörung ew'ger Angst zu sdtwöten.‘

    Doch hält sie aus. In der nach diesen Worten folgenden Szene
    des Banketts bewahrt sie allein die Besinnung, deckt die Verwirrung
    ihres Mannes, findet einen Vorwand, um die Gäste zu entlassen.
    Und dann entsehwindet sie uns. Wir sehen sie (in der ersten Szene
    des fünften Aktes) als SomnambuIe wieder, an die Eindrücke jener
    Mordnatht fixiert. Sie spricht ihrem Marine wieder Mut zu wie damals:

    »PFui, mein Gemahl, pfui ein Soldat und furchtsam? ‚« Was
    haben wir zu fiirdtten, wa es welß? Niemand zieht unsere Mafia
    zur Redtensthali.e — — 4

    Sie hört das Klo fen ans Tor, das ihren Mann nach der Tat
    ersthreekte. Daneben all;er bemüht sie sich die Tat ungesd'iehen zu
    machen, die nicht mehr ungesthehen werdenar kann. Sie wäscht ihre
    Hände, die mit Blut befledtt sind und nad1 Blut riedten, und wird
    der Vergeblidukeit dieser Bemühung bewußt. Die Reue scheint
    sie niedergeworfen zu haben, die so reuelos schien. Als sie stirbt,
    findet Macbeth, der unterdes so unerhittlieh eworden ist, wie sie
    sich anfänglich zeigte, nur die eine kurze Na rede für sie:

    (Akt V, Szene 5);

    »Sie konnte später sterben.
    Es war nodl Zelt genug für soldt ein Wort.r

    Und nun fragt man sid1, was hat diesen Charakter zerhrodlen,
    der aus dem härtesten Metall geschmiedet schien? Ist's nur die Ent-
    täuschung, das andere Gesidrt, das die vollzogene Tat zeigt, sollen
    wir füd(sd\Iießen, daß auch in der Lady Macbeth ein ursprünglich
    weiches und Weiblid1 mildes Seelenleben sid] zu einer Konzentration
    und Hothspannung emporgearbeitet hatte, der keine Andauer he:
    schieden sein konnte, oder dürfen wir nach Anzeichen forschen, die
    uns diesen Zusammenbruch durch eine tiefere Motivierung mensdniidt
    näher bringen?

    Ich halte es für unmöglich, hier eine Entsd1eidung zu (reifen.
    Shakespeares Macbeth ist ein Gele enheitsstiick, zur Thron-
    besteigun des bisherigen Sehottenkönigs fames gedichtet. Der Slot?
    war gefie en und gleichzeitig von anderen Autoren behandelt worden,
    deren rbeit Shakespeare wahrsdteinlith in gewohnter Weise ge;
    nützt hat. Er hat merkwürdige} Anspielungen an die gegenwärtige
    Situation. Die )iungfräülidtu lisabeth, von der ein Gerede Wissen
    w_ollte, daß sie nie imstande gewesen wäre, ein Kind zu gebären,
    the sich einst bei der Nadtrid'tt von ]ames' Geburt im sd1merzlithen

  • S.

    Einige Charakterry'pen aus der psydroanalytisrhen Arbeit 325

    Aufschrei als reinen dürren Stamm; bezeid'met hatte ‘, war eben
    durch ihre Kinderlosigkeit genötigt werden, den Sd10tteiikönig zu
    ihrem Nadufolger werden zu lassen. Der war aber der Sohn jener
    Maria, deren Hinridutung sie, wenn audi widerwillig, angeordnet
    hatte, und die trotz aller Trübung der Beziehungen dureh politisdie
    £üdtsichten doch ihre Blutsverwandte und ihr Gast genannt werden
    onlit€.

    Die Thronhestei ung ]akobs I. war wie eine Demonstration des
    Flu<hes der Unfrudrt arkeit und der Segnungen der fortlaufenden
    Generation Und auf diesen nämlidicn Ge ensatz ist die Entwicklung
    in Shakespeares Macbeth eingestellt, Die chidtsalssdiwe5tern haben
    ihm verheißcn, daß er selbst König werden, dem Banque aber, daß
    seine Kinder die Krone überkommcn sollen. Macbeth empört Sidi
    gegen diesen Sthidrsalssprudi, er begnü t sich nid1t mit der Befrie-
    digung des eigenen Ehrgeizes, er will ründer einer Dynastie sein
    und nicht zum Vorteile Fremder gcmordet haben Man übersieht
    diesen Punkt, wenn man in Shakespeares Stück nur die Tragödie
    des Ehrgeizes erhlidten will. Es ist klar, da Macbeth selbst nid"
    ewig leben kann, so gibt es für ihn nur einen Weg, den Teil der
    Prophezeiung, der ihm widerstrebt, zu entkräften, wenn er nämlidi
    selbst Kinder hat, die ihm nad1fclgen können. Er scheint sie audi
    von seinem starken Weib zu erwarten:

    (Akt 1, Szene 7):
    ‚Du, gebier nur Söhne,
    Nur Männer sollte dein unschredrbar Mark
    Zusammensetzen,‘ ———————

    Und ebenso klar ist, wenn er in dieser Erwartung getäuscht
    wird, dann muß er sich dem Schitksal unterwerfen, oder sein Handeln
    verliert Ziel und Zwedt und verwandelt sich in das blinde Wüten
    eines zum Untergang Verurteilten, der vorher noch, was ihm erreicht:
    hat ist, vernidrten will, Wir sehen, daß Macbeth diese Entwicklung
    durdimarht, und auf der Höhe der Tragödie finden wir jenen er-
    sdrijtternden, so 05 schon als vieldeutig erkannten Ausruf, der den
    Schlüssel für seine Wandlung enthalten könnte, den AusrufMacduffs:

    (Akt IV, Szene 3):
    »Er hat keine Kinder.!

    Das heißt gewiß: Nur Weil er selbst kinderlos ist, konnte er
    meine Kinder morden, aber es kann auch mehr in sich fassen und
    ‘ Vgl, Macheth (Akt “|, Szene 1):

    ‚Auf mein Haupt setzten sie unleudubar Geld,
    Ein dürres Zepter reid'iten sic (ler Faust,

    Daß es „„im dann in fremde Hand,

    Da nidn mein Sohn mit naduiolgi, — — -

  • S.

    32G Sigm. Freud

    vor allem könnte es das tiefste Motiv bloßlegen, welches sowohl
    Macbeth weit über seine Natur hinausdrängt, als auch den Charakter
    der harten Frau an seiner einzi sehwethen Stelle trilft. Hält man
    aber Umschau von dem Gipfefpunlit, den diese Worte Macduifs
    bezeidmen, so sieht man das ganze Stüd( von Beziehungen auf das
    Vater=Kinderverhältnis durchsetzt. Der Mord des gütigen Duncan
    ist/wenig anderes als ein Vatermord,- im Falle Banquos hat Macbeth
    den Vater etötet, während ihm der Sohn entgeht, bei Macdulf
    tötet er die inder, Weil ihm der Vater entflohen ist. Ein blutiges
    und ein gekröntes‘Kind lassen ihm die Sthidtsalssdiwestern in der
    Beschwörun szene erscheinen,- das bewaffnete Haupt vorher ist wohl
    Macbeth se hst, Im Hintergründe aber erhebt sich die düstere Gestalt
    des Rädters Macduif, der selbst eine Ausnahme von den Gesetzen
    der Generation ist, da er nicht von seiner Mutter geboten, sondern
    aus ihrem Leib geschnitten wurde.

    Es wäre nun durchaus im Sinne der auf Talion aufgebauten
    poetischen Gerechtigkeit, wenn die Kinderlosigkeit Macbeths und die
    Unfruthtbarkeit seiner Lady die Strafe wären für ihre Verbred'ten
    gegen die Heiligkeit der Generation, wenn Macbeth nicht Vater
    werden könnte, weil er den Kindern den Vater und dem Vater die
    Kinder geraubt, und wenn Sidi so an der Lady Macbeth die Entweibung
    vollzogen hätte, zu der sie die Geister des Mordes aufgerufen hat.
    Id1 glaube, man Verstünde ohneweiters die Erkrankung der Lady,
    die Verwandlung ihres Frevelmutes in Reue, als Reaktion auf ihre
    Kinderlosigkeit, durch die sie von ihrer Ohnmacht gegen die Satz:
    ungen der Natur überzeugt und gleirhzeitig daran gemahnt wird,
    daß ihr Verbred1en durch ihr eigenes Verszhulden um den besseren
    Teil seines Ertrags gebracht werden ist.

    In derChronik vonHolinshed(l577), aus welcher Shakespeare
    den Stoif des Macbeth sdtöpfte‚ findet die Lady nur eine einzi e
    Erwähnun als Ehrgeizige, die ihren Mann zum Morde aufstad1el,
    um selbst önigin zu werden. Von ihren Weiteren Schicksalen und
    von einer Entwicklung ihres Charakters ist nitht die Rede. Dagegen
    scheint es, als ob dort die Wandlung im Charakter Macbeths zum
    blutigen Wüterich ähnlich motiviert werden sollte, wie wir es eben
    versucht haben. Denn bei Holinshed liegen zwisrhen dem Mord an
    Duncan, durch den Macbeth König wird, und seinen weiteren Misse=
    taten zehn ]ahte, in denen er sich als strenger, aber gerethter
    I:lerrsdier erweist. Erst nach diesem Zeitraum tritt bei ihm die
    Anderung ein, unter dem Einfluß der quälenden Beiürdttung, daß
    die Banque erteilte Prophezeiung sich ebenso erfüllen könne, wie die
    seines ei enen Schicksals Nun erst läßt er Banque töten und wird
    wie bei hakespeare von einem Verbrechen zum anderen fortgerissen,
    Es wird auch bei Holinshed nicht ausdrücklich gesagt, daß es seine
    Kinderlosiglteit ist, Weldie ihn auf diesen Weg treibt, aber es bleibt
    Zeit und Raum für diese naheliegende Motivierung. Anders bei
    Shakespeare. In atemraubender Hast jagen in der Tragödie die Er-

  • S.

    ' Einige Charaktertypen aus der psyrhoanalytisthen Arbeit 52?

    eignisse an uns vorüber, so daß sich aus den Angaben der Personen
    im Stürke etwa eine Woche als die Zeitdauer ihres Ablaufes be:
    redmen läßt‘. Durdt diese Beschleunigung wird all unseren Ken:
    struktionen über die Motivietung des Umsdtwungs im Charakter
    Macbeths und seiner Lady der Boden entzogen. Es fehlt die Zeit,
    innerhalb welcher die fortgesetzte Enttäuschung der Kinderhoffnung
    das Weib zermürben und den Mann in trotzige Raserei treiben könnte,
    und es bleibt der Widers rudt bestehen, daß soviel feine Zusammen-
    hänge innerhalb des Stückes und zwisdten ihm und seinem Anlaß
    ein Zusammentreffen im Motiv derKinzlerlosigkeit anstreben, während
    die zeitliche Ökonomie der Tragödie eine Charakterentwickluug aus
    anderen als den innerlichsten Motiven ausdrüdtlldt ablelmt,

    Welches aber diese Motive sein können, die in so kurzer Zeit
    aus dem za haften Ehrgeizigen einen hemmungslosen Wüterich und
    aus (ler sta lharten Anstifterin eine von Reue zerknirschte Kranke
    machen, das läßt Sid] meines Erachtens nicht erraten. Ich meine, wir
    müßten darauf verzidtten, das dreifach geschichtete Dunkel zu durch.
    dringen, zu dem sich die sthledite Erhaltung des Textes, (lie un-
    bekannte Intention des Dithters und der geheime Sinn der Sage bier
    verdithtet haben, ld1 mödtte es aueh nicht elten lassen, daß jemand
    einwende, solthe Untersuehungen seien mü i angesichts der groß-
    artigen Wirkung, die die Tragödie auf den Zusdtauer ausübt, Der
    Dithter kann uns zwar durch seine Kunst während der Darstellung
    überwältigen und unser Denken dabei lähmen, aber er kann uns nicht
    daran hindern, daß wir uns narhträglidi bemühen, diese Wirkung
    aus ihrem psydmlogisdten Mechanismus zu begreifen Audi die Be-
    merkung, es stehe dem Did1ter frei, die natürliche Zeitfolge der von
    ihm vorgeführten Begebenheiten in beliebiger Weise zu verkürzen,
    wenn er durch das Opfer der gemeinen Wahrscheinlirhkei! eine Stei=
    gerung des dramatisdten Effekts erzielen kann, scheint mir hier nid\t
    an ihrem Platze. Denn ein solches Opfer ist doch nur zu rechtfertigen,
    wo es bloß die Wahrscheinlichkeit stört“, aber nidit,»wo es die kaur
    sale Verknüpfung aufhebt, und der dramatisdien Wirkung wäre
    kaum Abbruch geschehen, wenn der Zeitablauf unbestimmt elassen
    wäre, anstatt durch ausdrückliche Äußerungen auf wenige age ein:
    geengt zu werden.

    Es fällt so schwer, ein Problem wie das des Macbeth als
    unlösbar zu verlassen, daß ich noth den Versuch wage, eine Be-
    merkung anzufügen, die nach einem neuen Ausweg weist. Ludwig
    ]ekels hat kürzlich in einer Shakespeare:5tudie ein Stüdt der Tedinik
    des Didtters zu erraten geglaubt, welches audi für Macberh in Be:
    tradrt kommen könnte. Er meint, daß Shakespeare häufig einen
    Charakter in zwei Personen zerlegt, von denen dann jede unvoll=

    ‘ ]‚ Darmsterter, Macbcth, Edition classique, p. LXXV, Paris 1887.
    ' Wie in der Werbung Ridtards 111. um Anna, an der Bahr: des von ihm

    ermordeten Königs,

  • S.

    828 Sign:. Freud

    ständig begreiflid'i erscheint, solange man sie nidit mit der anderen
    wiederum zur Einheit zusammensetzt. So könnte es aurh mit Macbeth
    und der Lady sein, und dann würde es natürlich zu nirhts führen,
    wollte man sie als selbständige Person fassen und nach der Mafia
    vierung ihrer Umwandlung forschen, ohne auf den sie ergänzenden
    Macbeth Rücksicht zu nehmen. Ich folge dieser S ur nid1t weiter,
    aber ich will doch a.nführen‚ was in so auffälliger eise diese Auf:
    fassung stützt, daß die Angstkeime, die in der Mordnadrt bei Mac=
    beth hervorbreduen, nicht bei ihm, sondern bei der Lady zur Ent=
    wicklung gelangen ‘. Er ist es, der vor der Tat die Halluzination
    des Doldtes gehabt hat, aber sie, die später der geistigen Erkrankung
    verfällt, er hat nach dem Morde im Hause sdireieu gehört: Srhlafi
    nicht mehr, Macbeth mordet den Schlaf und also soll Macbeth nicht
    mehr schlafen, aber wir vernehmen nichts davon, daß König Macbeth
    nicht mehr schläft, während wir sehen, daß die Königin aus ihrem
    Schlaufe aufsteht und naditwandelnd ihre Schuld verrät,- er stand hilf-
    los da mit blutigen Händen und klagte, daß all des Mcergotts Flut
    nicht reinwasche seine Hand ,- sie tröstete damals: Ein wenig Wasser
    spült uns ab die Tat, aber dann ist sie es, die eine Viertelstunde
    lang ihre Hände wäsd1t und die Belleckung des Blutes nidit besei=
    tigen kann. »Älle Wohlgerüdae Arabiens machen nicht süßdui'tend
    diese kleine Hand‚« <Akt V, Szene 1.) So erfüllt sich an ihr, was
    er in seiner Gewissensangst gefürchtet, sie wird die Reue nach der
    Tat, er wird der Trotz, sie ersdaöpfen miteinander die Möglirhkeiten
    der Reaktion auf das Verbredien, wie zwei uneini e Anteile einer
    einzigen ps diischen Individualität und vielleid-t Na bilder eines ein:
    zigen Vor ilds.

    Haben wir an der Gestalt der Lady Macbeth die Frage nicht
    beantworten können, warum sie nach dem Erfolge als Kranke zu:
    sammenbrirht, so winkt uns vielleicht eine bessere Aussidit bei der
    Schöpfung eines anderen großen Dramatikers, der die Aufgabe der
    ps d1ologisd1en Rechenst‘hafi mit unnadi$iditig€r Strenge zu ver:
    fo gen liebt.

    Rebekka Gamvik, die Tochter einer Hebamme, ist von ihrem
    Adoptivvater Doktor West zur Freidenkerin und Verächterin jener
    Fesseln erzogen werden, weld1e eine auf religiösem Glauben ge rün-
    dere Sittlid'ikeit den Lebenswünsd'ren anlegen möchte. Nadi dem gI'ode
    des Doktors verschafft sie siih Aufnahme in Rosmersholm, dem
    Stammsitz eines alten Geschlechts, dessen Mitglieder das Lachen
    nicht kennen und die. Freude einer starren Pfliduerfüllung geopfert
    haben. Auf Rosmersholm hausen der Pastor Iohannes Rosmer und
    seine kränklidie, kinderlose Gattin Beate. »Von wildem, unbezwin =
    lit‘hem Gelüstr nad] der Liebe des adeligen Mannes ergrilfen, beschlie (
    Rebekka, die Frau, die ihr im Wege steht, wegzuräumen, und bedient
    such dabei ihres )mutigen, freigeborenen«, durch keine Rüdisiditen

    ‘Vgl. Darmstzttzr L cr

  • S.

    Einige Chnmktertypen aus der psyrhonnalytisdten Arbeit am

    gehemmten Willens. Sie spielt ihr ein ärztlidtes Bud; in die Hand,
    in dem die Kinderzeugung als der Zwetk der Ehe hingest€llt wird,
    so daß die Arme an der Berechtigung ihrer Ehe irre wird, sie läßt
    sie erraten, daß Rosmer, dessen Lektüre und Gedankengänge sie
    teilt, im Begriffe ist, sich vom alten Glauben loszumathen und die
    Partei der Aufklärung zu nehmen, und nadidem sie so das Ver;
    trauen der Frau in die sittliche Verläßlkhkeit ihres Mannes erschüttert
    hat, ibt sie ihr endlich zu verstehen, daß sie selbst, Rebekka, bald
    das aus verlassen wird, um die Folgen eines unerlaubten Verkehrs
    mit Rosmer zu verheimlidmn. Der verbrecherische Plan gelingt. Die
    arme Frau, die für srhwermütig und unzurechnungsfähig egolten
    hat, stürzt sid] vom Miihlensteg herab ins Wasser, im Ge ühl des
    eigenen Unwerts und um dem Glücke des geliebten Mannes nicht
    im Wege zu sein.

    Seit Jahr und Tag leben nun Rebekka und Rosmer allein auf
    Rosmersholm in einem Verhältnis, welches er für eine rein geistige
    und ideelle Freundschaft halten will. Als aber von außen her die
    ersten Sduatten der Nachrede auf dieses Verhältnis fallen, und gleich:
    zeitig quälende Zweifel in Rosmer rege gemacht werden, aus welchen
    Motiven seine Frau in den Tod gegangen ist, bittet er Rebekka seine
    zweite Frau zu werden, um der traurigen Vergangenheit eine neue
    lebendige Wirklichkeit entgegenstellen zu können. (Akt Il.) Sie jubelt
    bei diesem Antrage einen Augenblick lang auf, aber sdmn im nächsten
    erklärt sie, es sei unmöglich, und wenn er weiter in sie drin e, werde
    sie »den Weg eben, den Beate gegangen ists. Verständnis es nimmt
    Rosmer diese bweisung entgegen, noch unverständlicher ist sie aber
    für uns, die wir mehr von Rebekl<as un und Absichten wissen.
    Wir dürfen bloß nid1t daran zweifeln, daß ihr Nein ernst gemeint ist.

    Wie konnte es kommen, daß die Abcnteurerin mit dem mutigen,
    freigeborenen Willen, die sich ohne jede Rücksicht den Weg zur
    Verwirklichung ihrer Wünsche gebahnt, nun nidtt zugreifen will, da
    ihr angeboten wird, die Frucht des Erfolges zu pilü<ken? Sie gibt
    uns selbst die Aufklärung im vierten Akt: »Das ist dod1 eben das
    Furd1tbare, jetzt, da alles Glüdc der Welt mir mit vollen Händen
    geboten wird, —— ietzt bin ich eine solche geworden, daß meine
    eigene Vergangenheit mir den Weg zum Gliidt versperrt.« Sle ist
    also eine andere geworden unterdes, ihr Gewissen ist erwacht, sie
    hat ein Schuldbewußtsein bekommen, welches ihr den Genuß versagt.

    Und wodurch wurde ihr Gewissen geweckt? Hören wir sie
    selbst und überle en wir dann, ob wir ihr voll Glauben schenken
    dürfen: »Es ist die Lebensanschauung des Hauses Rosmer — oder
    wenigstens deine Lebensanschauung, — die meinen Willen angestedtt
    hat , . . Und ihn krank gemadtt hat, lim geknedutet hat mit Ge:
    setzen, die früher fiir midi nicht gegolten haben. Das Zusammen:
    leben mit dir, .. du, das hat meinen Sinn geadelt.cr

    Dieser Einfluß, ist hinzuzunehmen, hat sid) erst geltend ge:
    mad1t, als sie mit Rosmer allein zusammenleben durfte, »— in

  • S.

    350 Sigm. Freud

    Stille, — in Einsamkeit, — als du mir deine Gedanken alle ohne
    Vorbehalt gabst, —- eine ieglidie Stimmung, so weidi und so fein
    wie du sie fühltzst, * da trat die große Umwandlung eine

    Kurz vorher hatte sie die andere Seite dieser Wandlung be:
    klagt: )Weil Rosmersholm mir die Krafl genommen hat, hier ist
    mein mutiger Wille gelähmt werden. Und verschanclelt! Für midi
    ist die Zeit vorbei, da ich alles und jedes wagen durfte. Ich habe
    die Energie zum Handeln verloren, Rosmer.vr

    Diese Erklärung gibt Rebekka, nadidem sie Sidi durch ein
    freiwilliges Geständnis vor Rosmer und dem Rektor Kroll, dem
    Bruder der von ihr beseitigten Frau, als Verbrecherin bloßgestellt
    hat. Ibsen hat durch kleine Züge von meisterhafter Feinheit fest:
    gelegt, daß diese Rebekka nicht lügt, aber auch nie ganz auf:
    richtig ist. Wie sie trotz aller Freiheit von Vorurteilen ihr Alter
    um ein Iahr herabgesetzt hat, so ist audi ihr Geständnis vor den
    beiden Männern unvollständig und wird durd'i das Drängen Krolls
    in einigen wesentlichen Punkten ergänzt. Auch uns bleibt die Frei-
    heit anzunehmen, daß die Aufklärung ihres Verzid'its das eine nur
    preisgibt, um ein anderes zu versdiweigen.

    Gewiß, wir haben keinen Grund, ihrer Aussage zu mißtrauen,
    daß die Luft auf Rosmersholm, ihr Umgang mit dem edlen Rosmer,
    veredelnd und — lähmend auf sie gewirkt hat. Sie sagt damit,
    was sie weiß und empfunden hat. Aber es braurhte nidit alles zu
    sein, was in ihr vorgegangen ist,- audi ist es nicht notwendig. daß
    sie si(h über alles Rechenschafi geben konnte. Der Einfluß Rosmers
    konnte auch nur ein Dedtmantel sein, hinter dem sich eine andere
    Wirkung verbirgt, und nach dieser anderen Richtung weist ein
    bemerkenswerter Zug.

    Noch nach ihrem Geständnis, in der letzten Unterredung, die.
    das Stück beendet, bittet sie Rosmer nochmals, seine Frau zu
    werden. Er verzeiht ihr, was sie aus Liebe zu ihm verbrodien hat.
    Und nun antwortet sie nicht, was sie sollte, daß keine Verzeihung
    ihr das Sdiuldgefühl nehmen könnte, das sie durth den türkischen
    Betrug an der armen Beate erworben, sondern sie belastet sich
    mit einem anderen Vorwurf, der uns bei der Freidenkerin fremd:
    artig berühren muß, keinesfalls die Stelle verdient, an die er von
    Rebekka esetzt wird: )Adi, mein Freund, * komm nie Wieder
    darauf! s ist ein Ding der Unmöglichkeit —! Denn du mußt
    wissen, Rosmer, ich habe eine Vergangenheitm Sie will natürlich
    andeuten, daß sie sexuelle Beziehungen zu einem anderen Marine
    gehabt hat, und wir wollen uns merken, daß ihr diese Beziehungen
    zu einer Zeit, da sie frei und niemandem verantwortlich war, ein
    stärkeres Hindernis der Vereinigung mit Rosmer dünken als ihr
    wirklich verbrecherisches Benehmen ge en seine Frau.

    Rosmer lehnt es ab, von dieser ergangenheit zu hören. Wir
    können sie erraten, obwohl alles, was dahin Weist, im Stücke sozu=
    sagen unterirdisch bleibt und aus Andeutungen erschlossen werden

  • S.

    Einige Charakterrypen aus der psychnanalytisdlen Arbeit 31

    muß. Aus Andeutungen ireilid‘n, die mit soldter Kunst eingefügt
    sind, daß ein Mißverständnis derselben unmöglid'r wird,

    Zwischen Rebekkas erster Ablehnung und ihrem Geständnis
    geht etwas vor, was von entsdteidender Bedeutung für ihr weiteres
    Sdiitksai ist. Der Rektor Kroll besudtt sie, um sie durdi die Mit=
    teilung zu demütigen, er wisse, daß sie ein illegitimes Kind sei, die
    Toditer eben ienes Doktors West, der sie nadi dem Tode ihrer
    Mutter adaptiert hat. Der Haß hat seinen Spürsinn gesdiärii, aber
    er meint nicht, ihr damit etwas Neues zu sagen. »In der Tat, ich
    meinte, Sie wüßten ganz genau Besdteid. Es wäre doch sonst recht
    merkwürdig gewesen, daß Sie sich von Doktor West adoptieren
    ließen _! »Und da nimmt er Sie zu sich — gleidr nad! dem Tode
    Ihrer Mutter. Er behandelt Sie hart. Und dodr bleiben Sie bei ihm.
    Sie wissen, daß er Ihnen nid1t einen Pfennig hinterlassen wird. Sie
    haben ja audi nur eine Kiste Büdier bekommen, Und dodx halten
    Sie bei ihm aus. Ertragen seine Launen. Pflegen ihn bis zum letzten
    Augenblidtx — )Was Sie für ihn getan haben, das leite ich aus
    dem natürlidten Instinkt der Tod1ter her. Ihr ganzes übriges Auf:
    treten halte ich für ein natürlidtes Ergebnis Ihrer Herkunft.<

    Aber Kroll war im Irrtum, Rebekka hatte niditS davon ge.-
    wußt, daß sie die Tochter des Doktors West sein sollte. Als Kroll
    mit dunklen Anspielungen auf ihre Vergangenheit be nn, mußte
    sie annehmen, er meine etwas anderes. Nachdem sie egrifl'en hat,
    worauf er sich bezieht, kann sie nodr eine Weile ihre Fassung be-
    wahren, denn sie darf lauben, daß ihr Feind seiner Beredmung
    jenes Alter zugrunde ge egt hat, das sie ihm bei einem früheren
    Besud1 fälsdilith angegeben. Aber nadidem Kroll diese Einwendung
    siegreidi zurüdtgewiesen: >Mag sein. Aber die Rechnung mag dennoch
    richtig sein, denn ein ]ahr, eine er angestellt wurde, ist West dort
    oben vorübergehend zu Besuch gewesen(, nad) dieser neuen Mit-
    teilung verliert sie jeden Halt »Das ist nidrt wahr; — Sie geht
    umlier und rin t die Hände: »Es ist unmöglich. Sie wollen mir das
    bloß einreden. as kann ja nun und nimmermehr wahr sein. Kann
    nid\t wahr sein! Nun und nimmermehr —!« Ihre Ergrilfenbeit ist so
    arg, daß Kroll sie nidit auf seine Mitteilung zurückzuführen vermag.

    Kroll: )Aber, meine Liebe, — warum um Gottes willen,
    werden Sie denn so heftig? Sie machen mir geradezu Angst? Was

    soll id1 glauben und denken —!r
    Rebekka: rNidits, Sie sollen weder etwas glauben nodu etwas

    denken}
    Kroll: )Dann müßten Sie mir aber wirklidi erklären, warum

    Sie sid) diese Sache —- diese Möglidikeir so zu Herzen nehmen.‘
    Rebekka (laßt sich wieder): ‚Das ist doth sehr einfach, Herr
    Rektor. Ich habe doch keine Lust, für ein unehelid'ies Kind zu
    gelten.s
    Das Rätsel im Benehmen Rebekkas läßt nur eine Lösung zu.
    Die Mitteilung, daß Doktor West ihr Vater sein kann, ist der

  • S.

    332 Sigm. Freud

    schwerste Schlag, der sie betreffen konnte, denn sie war nidtt nur
    die Adoptivtodtter, sondern auch die Geliebte dieses Mannes. Als
    Kroll seine Reden begann, meinte sie, er wolle auf diese Be:
    ziehungen anspielen, die sie wahrscheinlich unter Berufung auf ihre
    Freiheit einbekannt hätte. Aber das lag dem Rektor ferne,— er
    wußte nichts von dem Liebesverhältnis mit Doktor West, wie sie
    nichts von dessen Vatersdtafi, Nichts anderes als dieses Liebes:
    Verhältnis kann sie im Sinne haben, wenn sie bei der letzten
    Weigerung gegen Rosmer vorschützt, sie habe eine Vergangenheit,
    die sie unwürdig mache, seine Frau zu werden. Wahrscheinlich
    hätte sie Rosmer, wenn er gewollt hätte, auch nur die eine Hälfte
    ihres Geheimnisses mitgeteilt und den schwereren Anteil desselben
    verschwiegen.

    Aber nun verstehen wir freilid'l, daß diese Vergangenheit ihr
    als das schwerere Hindernis der Eheschließung erscheint, als das
    schwerere — Verbrechen.

    Nachdem sie erfahren hat, daß sie die Geliebte ihres eigenen
    Vaters ewesen ist, unterwirfi sie Sidi ihrem jetzt übermächtig hervor:
    brechen en Sdtuldgefühl. Sie legt vor Rosmer und Kroll das Ge:
    ständnis ab, durch das sie sich zur Mörderin stern elt, verzichtet
    endgültig auf das Glück, zu dem sie sich durch erbredten den
    Weg gebahnt hatte, und rüstet zur Abreise. Aber das eigentliche
    Motiv ihres Sdtuldbewußtseins, weld‘nes sie am Erfolg scheitern läßt,
    bleibt geheim. Wir haben esehen, es ist nodt etwas ganz anderes
    als die Atmosphäre von läosmersholm und der sittigende Einfluß
    Rosmers.

    Wer uns soweit gefolgt ist, wird jetzt nicht versäumen, einen
    Einwand vorzubtingen, der dann mandten Zweifel rechtfertigen
    kann. Die erste Abweisung Rosmers durch Rebekka erfolgt ja vor
    dem zweiten Besuch Krolls, also vor seiner Aufdeckung ihrer un:
    ehelichen Geburt, und zu einer Zeit, da sie um ihren Inzest noch
    nid'its weiß, —— wenn wir den Dichter richtig verstanden haben.
    Doch ist diese Abweisung energisch und ernst gemeint. Das Schuld:
    bewußtsein, das sie auf den Gewinn aus ihren Taten verziditen
    heißt, ist also schon vor ihrer Kenntnis um ihr Kapitalverbrechen
    wirksam, und wenn wir soviel zugeben, dann ist der Inzest als
    Quelle des Sd1uldbewußtseins vielleicht überhaupt zu streichen.

    Wir haben bisher Rebekka West behandelt, als wäre sie eine
    lebende Person und nicht eine Sd\Ö fung der von dem kritischesten
    Verstand geleiteten Phantasie des Sidtters Ibsen. Wir dürfen ver:
    suchen, bei der Erledigung dieses Einwands denselben Standpunkt
    festzuhalten. Der Einwand ist gut, ein Stück Gewissen war auch
    vor der Kenntnis des Inzests bei Rebekka erwacht. Es steht nichts
    im Wege, für diese Wandlung den Einfluß verantwortlich zu
    machen, den Rebekka selbst anerkennt und ankla t. Aber damit
    kommen wir von der Anerkennung des zweiten otivs nicht frei.
    Das Benehmen Rebekkas bei der Mitteilung des Rektors, ihre un=

  • S.

    Einige Charaktertypen aus der psydmanalytisd)en Arbeit 333

    mittelbar darauffolgende Reaktion durch das Geständnis lassen
    keinen Zweifel daran, daß erst jetzt das stärkere und das ent:
    sdreidende Motiv des Verzichts in Wirkung tritt. Es liegt eben ein
    Fall von mehrfacher Motivierung vor, bei dem hinter dem aber;
    fläddidwren_Motiv ein tieferes zum Vorschein kommt. Gebote der
    oetisd1en Ökonomie hießen den Fall so gestalten, denn dies tiefere

    oliv sollte nid1t laut erörtert werden, es mußte gededit bleiben,
    der bequemen Wahrnehmung des Zuhörers im Theater oder Lesers
    entzogen, sonst hätten sich bei diesem schwere Widerstände erhoben,
    auf die peinlidisten Gefühle begründet, welche die Wirkung des
    Sdtauspiels in Frage stellen könnten.

    Mit Redit dürfen wir aber verlangen, daß das vorgesdtobene
    Motiv nicht ohne inneren Zusammenhang mit dem von ihm ge-
    deckten sei, sondern sidt als eine Milderung und Ableitung aus
    dem letzteren erweise. Und wenn wir dem Dichter zunauen dürfen,
    daß seine bewußte poetische Kombination folgeriditig aus unhe:
    wußten Voraussetzungen hervor e augen ist, so können wir audi
    den Versuch madien zu zeigen, dag er diese Forderung erfüllt hat,
    Rebekkas Sdiuldbewußtsein entspringt aus der Quelle des Inzest:
    vorwurfs, noch ehe der Rektor ihr diesen mit analytischer Sdiärfe
    zum Bewußtsein gebradtt hat, Wenn wir ausführend und ergänzend
    ihre vom Diditer angedeutete Vergangenheit rekonstruieren, so
    werden wir sagen, sie kann nicht ohne Ahnung der intimen Be-
    ziehun en zwisd1en ihrer Mutter und dem Doktor West gewesen
    sein. 5 muß ihr einen großen Eindrudr gemacht haben, als sie die
    Nachfolgerin der Mutter bei diesem Manne wurde, und sie stand
    unter der Herrsdtafi‘ des Ödipuskomplexßs, audi wenn sie nid“
    wußte, daß diese allgemeine Phantasie in ihrem Falle zur Wirklidi=
    keit geworden war. Als sie nach Rosmersholm kam, trieb sie die
    innere Gewalt ienes ersten Erlebnisses dazu an, durch tatkräftiges
    Handeln dieselbe Situation herbeizuführen, die sich das erste Mal
    ohne ihr Dazutun verwirklicht hatte, die Frau und Mutter zu
    beseitigen, um beim Manne und Vater ihre Stelle einzunehmen.
    Sie schildert mit überzeugender Eindringlirhkeit, wie sie gegen
    ihren Willen genötigt wurde, Schritt um Sd'irltt zur Beseitigung
    Beatens zu tun,

    »Abar glaubt Ihr denn, ich ging und handelte mit kühler
    überlegungl Damals war ich doch nicht was id) heute hin, wo id;
    vor Eudi stehe und erzähle. Und dann gibt es dodi audi, sollte ich
    meinen, zwei Arten Willen in einem Menschen, ld\ wollte Beate
    weg haben! Auf irgend eine An. Aber id) glaubte and] man, es
    würde iemals dahin kommen. Bei iedem Schritt, den es mich reizte,
    vorwärts zu Wagen, war es mir, als schrie etwas in mir: Nun nicht
    weiter! Keinen Sdh'ift mehr! — Und doch konnte idi es nicht lassen.
    Ich mußte nod1 ein winziges Spürdien weiter, Und noch ein einziges
    Spürrhen. Und dann noch eins — und immer noch eins -. Und so
    ist es gesrhehen. — Auf diese Weise geht so etwas vor sich.r

  • S.

    334 Sigm. Freud

    Das ist nicht Beschönigung, sondern wahrhafte Redlznschafi.
    Alles, was auf Rosmersholm mit ihr vor ing, die Verliebtheit in
    Rosmer und die Feindseligkeit gegen seine rau, war bereits Erfolg
    des Ödipuslromplexes, erzwungene Nad1bilclung ihres Verhältnisses
    zu ihrer Mutter und zu Doktor West.

    Und darum ist das Srhuldgefühl, das sie zuerst die Werbung
    Rasmus abweisen läßt, im Grunde nicht verschieden von jenem
    größeren, das sie nach der Mitteilunä Krolls zum Geständnis
    zwingt. Wie sie aber unter dem Ein uß des Doktors West zur
    Freidenkerin und Verächterin der religiösen Moral geworden war,
    so wandelte sie Sid} durch die neue Liebe zu Rosmer zum Gewissens.-
    und Adelsmensdren. Soviel verstand sie selbst von ihren inneren
    Vorgängen, und darum durfte sie mit Recht den Einfluß Rosmers
    als das ihr zugänglich gewordene Motiv ihrer Änderung bezeichnen.

    Der psythoanalytisch arbeitende Arzt weiß, wie häufig oder
    wie regelmäßig das Mäddmn, welches als Dienerin, Gesellschaften'n,
    Erzieherin in ein Haus eintritt, dort bewußt oder unbewußt am
    Tagtraum spinnt, dessen Inhalt dem Ödipuskomplex entnommen ist,
    daß die Frau des Hauses irgendwie weglallen und der Herr an
    deren Stelle sie zur Frau nehmen wird. »Rcsmersholme ist das
    höchste Kunstwerk der Gattung, welche diese alltägliche Phantasie
    der Mädchen behandelt. Es wird eine tragische Dichtung durch den
    Zusatz, daß dem Tagtraum der Heldin die ganz entsprechende
    Wirklid'rkeit in ihrer Vorgesdlid'nte vorausgegangen ist‘.

    Nad:l langem Aufenthalte bei der Didtlung kehren wir nun
    zur ärztlid1en Erfahrung zurück. Aber nur, um mit wenigen Worten
    die volle Übereinstimmung beider Festzustellen. Die psyt‘hoanalytisdre
    Arbeit lehrt, daß die Gewissenskräfte, welche am Erfolg erkranken
    lassen anstatt wie sonst an der Versagung, in intimer Weise mit
    dem Ödipuskomplex Zusammenhängen, mit dem Verhältnis zu
    Vater und Mutter, wie vielleicht unser S&huldbewußtsein überhaupt.

    Ill.
    Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein.

    In den Mitteilungen über ihre ]ugend, besonders über die
    Jahre der Vorpubertät, haben mir oft später sehr anständige Per:
    sonen von unerlaubten Handlungen beridttet, die sie sich damals
    hatten zuschulden kommen lassen, von Diebstählen, Betrügereien
    und selbst Brandstiftungen. Ich pflegte über diese Angaben mit der
    Auskunft hinwegzugehen, daß die Schwäche der moralischen Hetn=
    mungen in dieser Lebenszeit bekannt sei, und versudtle nicht, sie in

    ' l)er Nachweis des lnzcstthemas in >Rnsmersholm( ist bereits mit dene
    selben Mitteln wie hier, in dem überaus reichhaltigen Werke von O. Rank, Das
    Inzest-Motiv in Dichtung und Sage, 1912, erbracht werden,

  • S.

    éinige Charaktertypen aus der psychoanaly‘tisdten Arbeit 335

    einen bedeutsameren Zusammenhang einzureihen. Aber endlich
    wurde ich durch grelle und günsti ere Fälle, bei denen solche Ver:
    gehen begangen wurden, währen die Kranken sich in meiner Be:
    handlung he anden, und wo es sid) um Personen jenseits jener
    jungen Jahre handelte, zum ründlidieren Studium Soldier Vorfälle
    aufgefordert. Die analytische rbeit brachte dann das überraschende
    Ergebnis, daß soldie Taten vor allem darum vollzogen wurden,
    Weil sie verboten und Weil mit ihrer Ausführung eine seelische Er:
    leiditerung für den Täter verbunden war. Er litt an einem drückenden
    Sd‘nuldbewußtsein unbekannter Herkunfl, und nad1dem er ein Ver:
    gehen begangen hatte, war der Drudr gemildert. Das Säuldbewußt=
    sein war wenigstens irgendwie untergebracht.

    So paradox es klingen mag, id] muß behaupten, daß das
    Sd'iuldbewußtseln früher da war als das Vergehen, daß es nicht aus
    diesem hervorging, sondern umgekehrt, das Vergehen aus dem
    Sdiuldbewußßein. Diese Personen durfte man mit gutem Recht als
    Verbrecher aus Sd1uldbewußtsein bezeichnen. Die Präexistenz des
    Säuldgefühls hatte sid1 natürlidt durch eine ganze Reihe von
    anderen Äußerungen und W/irkungen naduweisen lassen.

    Die Feststellung eines Kuriosums setzt der wissensdtaltlidlen
    Arbeit aber kein Ziel. Es sind zwei weitere Fragen zu beantworten,
    woher das dunkle Säuldgefühl vor der Tat stammt, und ob es
    wahrsd\einlich ist, daß eine sold1e Art der Verursadxung an den
    Verbrechen der Mensrhen einen größeren Anteil hat.

    Die Verfolgung der ersten Fra e Versprarh eine Auskunft
    über die %elle des menschlirhen S uld efühls überhaupt. Das
    regelmäßige Ergebnis der analytisdten Ar eit lautete, daß dieses
    dunkle Sd1uldgefühl aus dem Ödipuskomplex stamme, eine Reaktion
    sei auf die beiden großen verbrechetisehen Absichten, den Vater zu
    töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren. Im Vergleich mit
    diesen beiden waren allerdings die zur Fixierung des Sdiuldgefühls
    begangenen Verbredxen Erleichterungen für den Gequälten, Man
    muß sich hier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die
    beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, dle in
    primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabseheut werden.
    Audi daran, wie nahe wir durd1 andere Untersudiungen der An:
    nahme gekommen sind, daß die Menschheit ihr Gewissen, das nun als
    vererbte Seelenmadlt auftritt, am Ödi uskomplex erworben hat.

    Die Beantwortung der zweiten ragt geht über die psycho=
    analytische Arbeit hinaus. Bei Kindern kann man ohnewelters be:
    obachten, daß sie :schlimm« werden, um Strafe zu rovozieren,
    und nach der Bestrafung beruhigt und zufrieden sind. ine spätere
    analytisdte Untersuchung führt off auf die S ur des Schuldgefühls,
    weld1es sie die Strafe suchen hieß. Von en erwad'iSenen Ver.
    bred1ern muß man Wohl alle die abziehen, die ohne Sd’iuldgefühl
    Verbrechen begehen, die entweder keine moralischen Hemmungen
    entwidielt haben oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu ihrem

  • S.

    336 Sigm. Freud

    Tun berechtigt glauben, Aber bei der Mehrzahl der anderen Ver:
    brechen bei denen, für die die Strafsatzungen eigentlich gemacht
    sind, könnte eine solche Motivierung des Verbrechens sehr wohl in
    Betracht kommen, manche dunkle Punkte in der Psychologie des
    Verbrechers erhellen, und der Strafe eine neue psydmlogischz
    Fundierun geben.

    Ein reund hat midi dann darauf aufmerksam emacht, daß
    der »Verbredxer aus Schuldgefühk auch Nietzsche ekannt war.
    Die Präexistenz des Schuld efühls und die Verwendung der Tat
    zur Rationalisierung desseläen sduirnmern uns aus den dunklen
    Reden Zarathustras ‚Über den bleichen Verbrechen entgegen,
    Überlassen wir es zukünfiiger Forsd1ung zu entsäleiden, Wieviele
    von den Verbreduern zu diesen »bleidxen< zu redmen sind.

Freud, Sigmund (1916-004): Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. Imago 4, 1916, 6:317-336.