Hysterie 1888-027/1888
  • S.

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    Hysterie, die [ύστέρα, Gebärmutter]; (frz. hysté-
    rie
    f; engl. hysterics; it. isteria f, isterismo m). I. Ge-
    schichte:
    Der Name H. stammt aus den ältesten Zeiten
    der Medizin und ist ein Niederschlag des erst in unserer
    Zeit überwundenen Vorurteils, welches die Neu-
    rose mit Erkrankungen des weiblichen Geschlechts-
    apparates verknüpft. Im Mittelalter hat die Neu-
    rose eine bedeutsame kulturhistorische Rolle gespielt,
    ist infolge psychischer Contagion epidemisch auf-
    getreten, und liegt dem Thatsächlichen aus der Ge-
    schichte der Besessenheit und des Hexenwesens zu
    Grunde. Dokumente aus jener Zeit bezeugen, dass
    ihre Symptomatologie bis auf den heutigen Tag
    keine Veränderung erfahren hat. Eine Würdigung
    und ein besseres Verständnis der Krankheit beginnt
    erst mit den Arbeiten Charcot's und der von ihm

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    inspirierten Schule der Salpětrière. Bis dahin
    war die H. die běte noire der Medizin; die armen
    Hysterischen, die in früheren Jahrhunderten als
    Besessene verbrannt oder exorziert worden waren,
    verfielen im letzten, aufgeklärten Zeitalter bloss dem
    Fluche der Lächerlichkeit; ihre Zustände wurden als
    Simulation und Übertreibungen einer klinischen Be-
    obachtung unwert erachtet.

    Die H. ist eine Neurose im strengsten Sinne des
    Wortes, d. h. es sind nicht nur keine wahrnehm-
    baren Veränderungen des Nervensystems bei dieser
    Krankheit gefunden worden, sondern es steht auch
    nicht zu erwarten, daß irgendeine Verfeinerung
    der anatomischen Techniken eine solche nachweisen
    würde. Die H. beruht ganz und gar auf physio-
    logischen Modifikationen des Nervensystems, und ihr
    Wesen wäre durch eine Formel auszudrücken, welche
    den Erregbarkeitsverhältnissen der verschiedenen
    Teile des Nervensystems Rechnung trägt. Eine solche
    physio-pathologische Formel ist aber noch nicht auf-
    gefunden worden; man muß sich einstweilen damit
    bescheiden, die Neurose rein nosographisch durch
    das Ensemble der in ihr vorkommenden Symptome
    zu definieren, etwa wie die Basedow'sche Krankheit
    durch die Symptomgruppe: Exophthalmus, Struma,
    Tremor, Acceleration des Pulses und psychische Ver-
    änderung charakterisiert ist, ohne Rücksicht auf den
    näheren Zusammenhang dieser Phänomene.

    II. Definition: Deutsche wie englische Autoren
    pflegen noch heute die Bezeichnungen „Hysterie
    und „hysterisch“ willkürlich zu vergeben und
    „Hysterie“ mit allgemeiner Nervosität, Neurasthenie,
    vielen psychotischen Zuständen und vielen aus dem
    Chaos der Nervenerkrankungen noch nicht hervor-
    gehobenen Neurosen zusammenzuwerfen. Dagegen
    hält Charcot daran fest, daß „Hysterie“ ein
    scharf umgrenztes und gut gesondertes Krankheits-
    bild ist, welches sich am klarsten in den extremen
    Fällen der sogenannten „grande hystérie“ (oder Hystero-
    Epilepsie) erkennen lässt. H. ist ferner, was sich
    von leichteren und rudimentären Formen an den
    Typus der grande hystérie, in allmählicher Ab-
    schattung bis zum Normalen anreiht; von Neur-
    asthenie ist H. grundsätzlich verschieden, ja streng ge-
    nommen ihr entgegengesetzt.

    III. Symptomatologie: Die äußerst reiche, aber
    darum keineswegs gesetzlose Symptomatologie der
    großen Hysterie“ setzt sich aus einer Reihe
    von Symptomen zusammen, zu denen gehören:

    1. Krampfanfälle. Denselben geht eine eigen-
    thümliche Aura voraus: Druck im Epigastrium, Zu-
    sammenschnüren im Halse, Pochen in den Schläfen,
    Sausen in den Ohren, oder Teile dieses Empfindungs-
    komplexes. Diese sogen. Auraempfindungen treten
    bei Hysterischen auch selbständig auf oder stellen
    für sich allein einen Anfall vor. Bekannt ist ins-
    besondere der Globus hystericus, das auf Schlund-
    krämpfe zu beziehende Gefühl, als ob eine Kugel
    vom Epigastrium her gegen den Hals aufstiege. Der
    eigentliche Anfall zeigt, wenn vollständig, drei Pha-
    sen. Die erste, „epileptoide“ Phase gleicht einem ge-
    meinen epileptischen Anfall, gelegentlich einem An-
    fall einseitiger Epilepsie; die zweite Phase, der
    grands mouvements“, zeigt Bewegungen von
    großem Umfang wie die sogen. Grussbewegungen,
    die Bogenstellungen (arc de cercle), Kontorsionen
    u. dergl. Die dabei entwickelte Kraft ist oft ganz
    ungeheuer; zur Unterscheidung dieser Bewegungen
    von einem epileptischen Anfall dient die Bemerkung,
    dass die hysterischen Bewegungen stets mit einer
    Eleganz und Koordination ausgeführt werden, welche
    im grellen Gegensatz zur plumpen Brutalität epilep-
    tischer Zuckungen steht. Auch werden bei den
    heftigsten hysterischen Krämpfen schwerere Ver-

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    letzungen meist vermieden. Die dritte, halluzina-
    torische Phase des hysterischen Anfalls, die „atti-
    tudes passionelles“ zeichnet sich durch Stellungen
    und Gebärden aus, welche leidenschaftliche Bewegungen
    Szenen angehören, die der Kranke halluziniert und
    häufig mit den entsprechenden Worten begleitet.
    Während des ganzen Anfalls kann das Bewusstsein
    erhalten oder verloren sein, letzteres ist häufiger.
    Anfälle der beschriebenen Art setzen sich oft zu
    Reihen zusammen, so dass die ganze Attacke meh-
    rere Stunden bis Tage anhalten kann. Die Tem-
    peraturerhöhung ist dabei im Gegensatz zu dem
    Verhalten bei Epilepsie eine unbeträchtliche. Jede
    Phase des Anfalls oder jedes einzelne Stück einer
    Phase kann sich isolieren und für sich in rudimen-
    tären Fällen den Anfall vertreten. Solche abge-
    kürzte Anfälle werden natürlich ungemein häufiger
    als die vollständigen angetroffen. Besonders interes-
    sant sind die hysterischen Anfälle, welche anstatt
    der drei Phasen ein apoplektikom mißdeutendes Coma
    zeigen, die sogen. „attaques-de-sommeil“.
    Dieses
    Coma kann dem natürlichen Schlafe gleichen, oder
    aber an Anomalien der Herztätigkeit, der Respiration und
    Zirkulation einhergehen, dass es für Tod gehalten
    wird. Vorübergehenszeiten können sich Zustände dieser
    Art durch Wochen und Monate verlängern, an die-
    sem fortgesetzten Schlaf nimmt die Körperernährung
    hingegen ab, eine Lebensgefahr ist nicht damit ver-
    bunden. Das so charakteristische Symptom der An-
    fälle fehlt bei etwa einem Drittel der Hysterischen.

    2. Hystero
    gene Zonen. In inniger Beziehung
    zu den Anfällen stehen die sogen. hysterogenen Zonen,
    überempfindliche Stellen des Körpers, deren leichte
    Reizung einen Anfall auslöst, dessen Aussetzen
    mit einer Empfindung von dieser Stelle aus einsetzt.
    Diese Stellen können in der Haut, in den tiefen
    Teilen, Knochen, den Schleimhäuten, selbst an Nerven-
    stämmen ihren Sitz haben, sie finden sich häufiger
    am Rumpf als an den Extremitäten und zeigen ge-
    wisse Prädilektionsorte, z. B. eine den Ovarien ent-
    sprechende Stelle der Bauchwand bei Frauen (und
    selbst bei Männern), dem Scheitel, die Region unter
    der Brust, bei Männern Hoden und Samenstrang.
    Häufig löst **Druck** auf diese Stellen nicht nur Krampf,
    sondern die Anfallsfortsetzungen aus. Von vielen
    dieser hysterogenen Zonen lässt sich auch ein hem-
    mender Einfluss auf den Krampfanfall ausüben, ein
    starker Druck auf die Stelle der Ovarien erweckt
    z. B. viele Kranke mitten aus dem hysterischen An-
    fall oder aus dem hysterischen Schlaf. Bei solchen
    Kranken kann man einen drohenden Anfall verhüten,
    wenn man einen bauchbandähnlichen Gürtel tragen
    lässt, dessen Pelotte die Stelle der Ovarien eindrückt.
    Die hysterogenen Zonen sind bald zahlreich, bald
    spärlich, ein- oder doppelseitig.

    3. Störungen der Sensibilität.
    Diese sind
    die häufigsten und für die Diagnose wichtigsten An-
    zeichen der Neurose, welche auch in Intervall-
    zeiten bestehen bleiben und um so mehr Beachtung
    haben, als in der Symptomatologie der organischen
    Gehirnkrankheiten Sensibilitätsstörungen eine ver-
    hältnismässig geringe Rolle spielen. Sie bestehen
    in Anästhesie oder Hypaästhesie, zeigen die
    grösste Feinheit der Ausbreitung und Intensitätsgrade,
    welche bei keiner anderen Krankheit erreicht wer-
    den. Die Anästhesie können betroffen werden: Haut,
    Schleimhäute, Knochen, Muskeln und Nerven, Sinn-
    organe und Eingeweide, doch ist die Anästhesie der
    Haut die häufigste. Bei der hysterischen An-
    ästhesie der Haut können sich alle verschiedenen
    Arten der Hautempfindung dissoziieren und ganz
    unabhängig voneinander gebärden. Die Anästhesie
    kann total sein oder nur das Schmerzgefühl be-
    treffen (Analgesie, am häufigsten), oder nur die
     

    Temperatur-, Druck- oder elektrische Empfindung
    oder das Muskelgefühl. Nur eine Möglichkeit findet
    sich bei der H. nicht vor: die isolierte Beteiligung
    des Tastgefühls bei Erhaltung der übrigen
    Qualitäten. Dagegen kommt es vor, dass blosse Tast-
    empfindungen schmerzlosem Eindruck machen (Al-
    phalgesie). Die hysterische Anästhesie ist häufig so
    hochgradig, dass die stärkste Reizung von Nerven-
    stämmen keine sensible Reaktion erzeugt. Der Aus-
    breitung nach kann die Anästhesie eine totale sein,
    in selteneren Fällen die ganze Körperoberfläche und die
    Mehrzahl der Sinnesorgane befallen, häufiger ist sie
    aber eine Hemianästhesie, ähnlich der durch Ver-
    letzung der inneren Kapsel erzeugten, sie unterscheidet
    sich aber von der Hemianästhesie durch organische
    Erkrankung dadurch, dass sie gewöhnlich irgendwo
    die Mittellinie überschreitet, z. B. Zunge, Kehlkopf,
    das Genitale als Ganzes einbezieht und dass die
    Augen nicht in der Form der Hemianopsie, sondern
    als Amblyopie oder als Amaurose eines Auges er-
    griffen werden. Auch hat die hysterische Hemi-
    anästhesie eine grössere Freiheit der Ausbreitung,
    gegen sie kommt vor, dass ein Stumpfzonen oder an
    Organ der anästhetischen Seite sich der Anästhesie
    völlig entzieht und es kann jede sensible Stelle im
    Bilde der Hemianästhesie durch die symmetrische
    Stelle der anderen Seite vertreten werden (spontaner
    Transfer, siehe unten). Endlich kann die hysteri-
    sche Anästhesie in zerstreuten Herden auftreten,
    ein- oder doppelseitig, oder blos partienweise, mono-
    plegisch an Extremitäten oder flächenweise, über er-
    krankten inneren Organen (Kehlkopf, Magen etc.).
    In allen diesen Beziehungen kann sie durch Hy-
    perästhesie vertreten sein. Bei der hysterischen
    Anästhesie sind die sensiblen Reflexe in der Regel
    herabgesetzt, so der Conjunctival-, Nies-, Schlund-
    reflex. Die Lebenswichtigkeit: Corneal- und Glottisreflexe
    bleiben aber erhalten. Die vasomotorischen Reflexe und
    die Pupillardilatation durch Reizung der Haut sind
    auch bei höchstgradiger Anästhesie derselben nicht
    gestört. Die hysterische Anästhesie ist überhaupt
    ein Symptom, das vom Arzt gesucht werden muss,
    da es selbst bei grosser Ausbreitung und Intensität
    der Wahrnehmung des Kranken meist völlig entgeht.
    Zum Unterschied von organischen Anästhesien ist
    hervorzuheben, dass die hysterische Sensibilitäts-
    störung in der Regel in keiner mo-
    torischen Tätigkeit behindert. Die hysterisch-anästhe-
    tischen Hautstellen pflegen häufig ischämisch zu
    sein, auf Stiche nicht zu bluten, doch ist dies nur
    eine Komplikation und nicht eine notwendige Be-
    dingung der Anästhesie. Man kann künstlich die
    beiden Phänomene voneinander trennen. Zwischen
    Anästhesie und hysterogenen Zonen besteht oft die
    Beziehung der Gleichseitigkeit, als ob die ganze
    Sensibilität einer grösseren Hälfte des Körpers in
    die eine Zone zusammen
    gedrängt wäre.
    Die
    Störungen der Sensibilität sind jene Symptome, auf
    welche man die Diagnose H. auch in den rudimen-
    tärsten Formen begründen kann. Im Mittelalter
    galt die Auffindung anästhetischer und nicht blu-
    tender Stellen (Stigmata Diaboli) als Überführung
    der Hexerei.

    4. Störungen der Sinnestätigkeit.
    Die-
    selben können alle Sinnnesorgane betreffen, gleich-
    zeitig mit oder unabhängig von Sensibilitätsverände-
    rungen der Haut vorkommen. Die hysterische Stö-
    rung besteht in einseitiger Amaurose oder Ambly-
    opie, oder doppelseitiger Amblyopie, niemals in
    Hemianopsie. Die Symptome derselben sind: nor-
    maler Spiegelbefund, Aufhebung des Conjunctival-
    reflexes (Abschwächung des Cornealreflexes), kon-
    zentrische Einengung des Gesichtsfeldes, Abnahme
    des Lichtsinns und Achromatopsie. Bei letzterer
     

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    geht die Violettempfindung zuerst verloren, die
    Rot- oder Blauempfindung bleibt am längsten be-
    stehen. Die Erscheinungen für sich als keine Neurose
    der Farbenblindheit, die einzelnen Farbenempfin-
    dungen benehmen sich unabhängig voneinander.
    Häufig sind Störungen der Akkommodationsfähig-
    keit und falsche Schlüsse aus derselben. Gegen-
    stände werden beim Nähern und Entfernen vom
    Auge in verschiedener Grösse und doppelt oder
    mehrfach gesehen (monokuläre Diplopie mit Ma-
    kropsie und Mikropsie). Die hysterische Taubheit
    ist selten doppelseitig, meist mehr oder minder
    vollständig mit Anästhesie der Ohrmuschel, des
    äusseren Gehörganges und selbst des Trommelfelles
    verbunden. Auch bei der hysterischen Geschmacks-
    und Geruchsstörung ist in der Regel eine Anästhesie
    des zum Sinnnesorgan gehörigen Haut- und Schleim-
    hautpartieen aufzufinden. Bei hysterischen Läh-
    mungen sind die niederen Sinnnesorgane und bei
    hysterischen Fiebern mitunter findet sich ein ausser-
    ordentlicher Verfeinerung der Sinnestätigkeit, vor-
    wiegend des Geruchs und Gehörs.

    5. Lähmungen. Hysterische Lähmungen sind
    seltener als Anästhesieen, und fast immer von
    Anästhesie des gelähmten Körperteiles begleitet,
    während bei organischen Erkrankungen die Motorik
    tätstörungen überwiegen und von Anästhesie un-
    abhängig auftreten. Die hysterischen Lähmungen
    entstammen keinerlei Rücksicht auf den anatomischen
    Aufbau des Nervensystems, welcher sich bekanntlich
    auf das unveränderte in der Ausbreitung orga-
    nischer Lähmungen ausprägt. Es gibt vor allem
    keine hysterischen Lähmungen, welche den per-
    ipherischen **Partialis-, Radialis-, Serratus**lähmungen
    gleichzustellen wären, d. h. Muskelgruppen oder
    Muskeln und Haut in der Weise sich beteiligen,
    wie sie durch gemeinsame anatomische
    Innervation hergestellt wird. Die hysterischen Läh-
    mungen sind mit den kortikalen vergleichbar, unter-
    scheiden sich aber durch eine Reihe von Merkmalen
    von diesen. Es gibt nämlich eine hysterische Hemi-
    plegie, bei welcher alle, blos Arm und Bein der-
    selben Seite beteiligt sind; eine hysterische Gesichts-
    lähmung gibt es nicht; höchstens findet sich neben
    der Lähmung der Extremität ein Krampf in
    der Gesichtsmuskeln und der Zunge, welcher bald auf
    der Seite der Lähmung, bald auf der entgegen-
    gesetzten sitzt und sich unter anderem durch ein
    exzessive Zungenabweichung äussert. Ein anderer
    unterscheidender Charakter der hysterischen Halb-
    seitenlähmung liegt darin, dass das gelähmte Bein
    nicht mit einer Kreisschwenkung in der Hüfte be-
    wegt, sondern wie ein totes Anhängsel nachgeschleift
    wird. Die hysterische Hemiplegie ist allemal mit
    einer meist stärker ausgebildeten Hemianästhesie
    verbunden. Es werden ferner in der Hysterie ge-
    häuft gefunden: ein Arm oder ein Bein für sich,
    oder beide Beine (Paraplegie). Im letzteren Falle
    kann neben der Anästhesie der Beine Darm- und
    Blasenlähmung vorhanden sein, und dadurch das
    Krankheitsbild einer spinalen Paraplegie sehr ähn-
    lich werden. Diese Lähmung kann sich auch noch
    auf eine ganze Extremität auf Abschnitte desselben
    erstrecken: Hand, Schulter, Ellbogen u. s. w. Hier-
    bei findet keine Bewegung des Endgliedes statt,
    während es ein Charakter der organischen Lähmung
    ist, dass sich siech jedesmal am Endglied der Extre-
    mität deutlicher ausprägt als an der Rumpfgliedern.
    Bei partieller Lähmung einer Extremität pflegt die
    Anästhesie ähnlicher Grenzen weichen, wie man An-
    halten und sich mit Kreisschnitten der Geruch auf
    der Längsachse des Gliedes ziehen, zu begrenzen. Bei
    hysterischer Beinlähmung bleibt zu dem Sensum ent-
    sprechende Dreieck der Haut zwischen den Gluteal-
     

    Muskeln von Anästhesie verschont. Bei all diesen
    Lähmungen bleiben die Erscheinungen der absteigen-
    den Degeneration trotz noch so langer Dauer aus,
    die Muskelleerhaftigkeit erreicht häufig einen hohen
    Grad, das Verhalten der Reflexe ist inkonstant, da-
    gegen können die gelähmten Extremitäten atro-
    phieren, und zwar unterliegen sie einer Atrophie,
    welche sich sehr rasch entwickelt, bald zum Still-
    stand kommt und von keiner Veränderung der
    elektrischen Erregbarkeit begleitet ist. Den Extre-
    mitätenlähmungen angeschlossen ist die hysterische
    Aph
    asie, richtiger Stummheit, welche in der Un-
    fähigkeit besteht irgend einen artikulierten Laut
    von sich zu geben oder Sprechbewegungen mit
    tonlosen Stimme zu machen. Sie ist indessen von
    Aph
    onie begleitet, die auch für sich vorkommt,
    die Schreibfähigkeit ist bei ihr erhalten und voll-
    ständiger. Den übrigen motorischen Lähmungen
    der Hysterie lassen sich nicht mehr auf Körper-
    abschnitte, sondern nur auf Funktionen beziehen,
    z. B. die Astasie und Abasie (Unfähigkeit zu gehen
    und zu stehen); letztere findet sich bei erhaltenem
    Fussgefühl der Beine, bei erhaltener grober Kraft
    derselben und bei Fortdauer der Möglichkeit alle
    Bewegungen in horizontaler Lage auszuführen, eine
    Trennung der Funktionen derselben Muskeln, welche
    bei organischen Läsionen nicht beobachtet wird.
    Alle hysterischen Lähmungen zeichnen sich dadurch
    aus, dass sie höchstgradig und dabei scharf auf
    einen bestimmten Körperteil beschränkt sein können,
    während organische Lähmungen sich in der Regel
    bei steigender Intensität auch über ein grösseres
    Gebiet ausdehnen.

    6. Kontrakturen.
    Bei schwereren Formen
    von H. besteht eine allgemeine Neigung der Musku-
    latur auf leichte Reize hin in Kontraktur zu ge-
    raten (Di
    athese de contracture). Selten die Anlegung
    einer Esmarch
    schen Binde kann hierzu genügen.
    Solche Kontrakturen treten auch bei minder schweren
    Fällen häufig und an den verschiedenartigsten Stellen
    auf. An den Extremitäten zeichnen sie sich durch
    ihre exzessive Höhe aus und können in allen Stel-
    lungen erfolgen, welche nicht durch Reizung ein-
    zelner Nervenstämme zu erklären sind. Sie sind
    **unangenehm**, lassen nicht wie
    organischen
    Kontrakturen im Schlafe nach und sind auch ihrer
    Intensität nach nicht durch Erregung, Temperatur
    u. s. w. veränderlich. Sie weichen nur in tiefer
    Narkose, um sich nach dem Erwachen zur vollen
    Höhe wiederherzustellen. An den übrigen Organen,
    Sinnesorganen und Eingeweiden sind Muskelkontrak-
    turen sehr häufig und bilden in einer Reihe von
    Fällen auch den Mechanismus von Funktionsein-
    bussung bei Lähmungen. Auch die Neigung zu
    klonischen Krämpfen ist bei H. sehr geneigt.

    7. Allgemeine Charakteristik.
    Die hysterische Sym-
    ptomatologie hat eine Reihe von allgemeinen Charak-
    teren, deren Kenntnis sowohl für die Diagnose als für
    die Auffassung der Neurose bedeutungsvoll ist. Die
    hysterischen Erscheinungen haben vorzugsweise den
    Charakter des Exzessiven: ein hysterischer Schmerz
    wird von den Kranken auf in höchstem Grade
    schmerzhaft geschildert, eine Anästhesie und eine
    Lähmung kann leicht absolut werden, eine hyste-
    rische Kontraktur leistet die Äusserste an Verkür-
    zung, dessen ein Muskel fähig ist. Dabei kann jedes
    einzelne Symptom sozusagen isoliert auftreten.
    Anästhesieen und Lähmungen sind nicht von den All-
    gemeinerscheinungen begleitet, welche bei organi-
    schen Läsionen die Reizungskrankheiten erzeugen und
    durch ihre Bedeutung in der Regel die Hord
    symp
    to
    me
    in den Schatten stellen. Selten der absolut
    unempfindlichen Hautstelle findet sich eine absolut
    normaler Empfindlichkeit, bei total gelähmtem Arm
     

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    ein durchaus intaktes Bein derselben Körperseite.
    Das Zusammentreffen von höchster Ent-
    wickelung beischärfster Begrenzung der Stö-
    rung ist insbesondere für hysterische Charak-
    teristik, ferner sind die hysterischen Symptome
    in einer Weise beweglich, welche jede Vermutung
    einer materiellen Läsion von vornherein abweist.
    Diese Beweglichkeit der Symptome erfolgt entweder
    spontan, etwa nach Krampfanfällen, welche häufig
    die Verteilung von Lähmungen und Anästhesien
    ändern oder diese aufheben, oder auf künstliche
    Beinflussung durch sogenannte ätiologische Mittel
    wie Elektrizität, Niesung von Metallen, Anwendun
    von Hautreizen, Magneten u. s. w. Letztere Beein-
    flussung erscheint um so bemerkenswerter, als ein
    hysterisches Nervensystem in der Regel grosser Re-
    sistenz gegen chemische Beeinflussung durch innere
    Medikation anbietet und gegen Narcotica, wie Mor-
    phin und Chloralhydrat in geradezu perverser Weise
    reagiert. Unter den Mitteln, welche imstande sind
    hysterische Symptome wegzuschaffen, sind besonders
    hervorzuheben der Einfluss der Erregung und die
    hypnotische Suggestion, letztere darum, weil sie
    direkt auf den Mechanismus einer hysterischen
    Störung hinweist und nicht im Verdachte stehen
    kann, andere als psychische Wirkungen auszuüben.
    Bei der Verschiebung hysterischer Symptome treten
    einige auffällige Verhältnisse hervor. Durch Anästhe-
    sieen
    können bewirkt werden: eine Anästhe-
    sie, Lähmung, Kontraktur, einen Tremor u. dgl. auf
    die symmetrische Stelle des anderen Körperhälften
    übertragen (Transfer), wobei die ursprünglich er-
    krankte Stelle normal wird. Es erweist sich so in der
    Hysterie die symmetrische Beziehung, welche übrigens
    auch im physiologischen Zustande anordnungsweise
    eine Rolle spielt, wie denn überhaupt die Neurose
    richtig diesen Inhalt, sondern nur physiologische
    Reaktionen entwickelt und übertreibt. Ein fernerer,
    höchst wichtiger Charakter hysterischer Affektionen
    ist, dass dieselben in keiner Weise ein Abbild der
    anatomischen Verhältnisse des Nervensystems bieten.
    Man kann sagen, die Hysterie ist ebenso unwissend
    in der Lehre von Bau des Nervensystems wie
    wir
    selbst, ehe wir's gelernt haben. Symptome orga-
    nischer Affektionen spiegeln bekannlich die Ana-
    tomie der Centralorgane wieder und sind die ver-
    lässlichste Quelle für neue Kenntnis des letzteren.
    Man muss daher den Gedanken abweisen, dass der
    H. eine mögliche organische Störung zu Grunde
    liegt, und darf auch nicht an vasomotorische
    Einflüsse (Gefässkrampf) als Ursache hysterischer
    Störungen berufen. Ein Gefässkrampf ist eine seinem
    Wesen nach organische Veränderung, dessen Wirkung
    durch anatomische Verhältnisse bestimmt wird, und
    unterscheidet sich von einer Embolie z. B. nur dadurch,
    dass er keine permanente Veränderung setzt.

    Neben den physischen Symptomen der H. sind
    eine Reihe von psychischen Störungen zu beachten,
    in denen man gewisse Vereinst für die H. charakte-
    ristischen Veränderungen finden wird, deren Analyse
    aber bis jetzt kaum in Angriff genommen wurde. Es
    sind dies Veränderungen im **Allgemeinzustand** in der Asso-
    ziation von Vorstellungen, Hemmungen der Willens-
    tätigkeit, **Hypnosen** und Unterdrückung von Ge-
    fühlen etc., im allgemeinen zusammenfassen als
    Abänderungen der **normalen Ausstellung**
    der subtilen Erregungsgrössen über das
    Nervensystem. Eine Psychose im Sinne der
    Psychiater gehört nicht zur H., sie kann sie aber
    auf Grund der hysterischen Diathese entwickeln und
    ist dann als Komplikation aufzufassen. Was man
    populär als hysterisches Temperament zu bezeichnen
    pflegt, die Unstätigkeit der Gefühle, der Wechsel
    der Stimmung, die Steigerung der Erregbarkeit bei
     

    Nachlass aller altruistischen Empfindungen – kann
    bei H. vorkommen, ist aber nicht unbedingt zur
    Diagnose derselben erforderlich. Es gibt schwere
    Formen, denen eine derartige psychische Grundlage
    gänzlich abgeht; viele der hierher gehörigen Kranken
    zählen zu den liebenswürdigsten, willensstärksten
    und klarsten Personen, welche die Äusserungen
    der Krankheit deutlich als etwas ihrem Wesen
    fremdes empfinden. Die psychischen Symptome
    haben ihre Bedeutung für das Gesamtbild der H.,
    sind aber nicht konstanter, als jede einzelne der
    physischen Komplexe, der Stigmate. Die psychischen
    Veränderungen dagegen, welche man als Grundlage
    des hysterischen Status postulieren muss, spielen
    ganz im Gebiete der Unbewussten, automatischen
    Gehirnthätigkeit. Es lässt sich vielleicht noch her-
    vorheben, dass bei der H. der Einfluss psychischer
    Vorgänge auf die physischen Vorgänge im Organis-
    mus (wie bei allen Neurosen) gesteigert ist, und
    dass die hysterische Kranke mit einer Ueberschuss
    von Erregung im Nervensystem arbeitet, der bald
    hemmend, bald reizend sich äussert und sich mit
    grosser Freiheit im Nervensystem verschiebt.

    Die H. ist zu betrachten als ein Status, eine
    nervöse Diathese, welche zeitweise Ausbrüche produ-
    ziert. Die Ätiologie des Status h
    ysteri
    scher
    durchaus in der Heredität zu suchen: die Hyste-
    rischen sind immer Erblich, Störungen der Nerven-
    thätigkeit vererbt u. s. w. In ihrer Verwandtschaft
    hysterische Kranke, Träumer u. s. w. an ihrer Verwandtschaft
    auch direkte hereditäre Uebertragung der H. wird
    beobachtet und liegt z. B. dem Auftreten der H.
    bei Knaben (von der Mutter her) zu Grunde. Gegen
    die Moment der Heredität treten alle anderen zu-
    rück und spielen die Rolle von Gelegenheitsursachen,
    deren Bedeutung in der Praxis in der Regel über-
    schätzt wird. Die anziehendsten Ursachen der H.
    sind aber insofern wichtig, als sie das Auftreten
    hysterischer Ausbrüche akuter H. zu entblössen.
    Als
    solche sind geeignet, eine die Entwickelung einer
    hysterischen Disposition zu befördern, sind zu nennen:
    verweichlichende Erziehung (bei einzigen Kindern
    frühzeitiges Erwecken der geistigen Thätigkeit bei
    Kindern, häufige und heftige Erregungen). Alle
    diese Einflüsse sind ebenso geeignete Neurosen an-
    derer Art, z. B. Neurasthenie zu zeitigen, so dass
    der entscheidende Einfluss der hereditären Dispo-
    sition neben anfällig wird. Als Momente, welche
    Ausbrüche akuter hysterischer Erkrankung erzeugen,
    sind anzuführen: **Traumen**, **Intoxikationen** (Blei,
    Alkohol, Kummer), Gemütsbewegungen, erschöpfende
    Krankheiten und in Kürze alles, was eine kräftige
    Wirkung im schwächeren Sinne auszuüben vermag.
    Andere Male entwickeln sich hysterische Zustände
    oft auf geringfügiger oder dunkler Anlässe hin. Was
    den vielfach diskutierten, verriegelnden Einfluss von
    Abnormitäten der Geschlechtssphäre auf die Ent-
    stehung der H. betrifft, so muss gesagt werden,
    dass dessen Bedeutung in der Regel überschätzt
    wird. Zunächst findet man H. bei Geschlechtsreifen
    Mädchen und Knaben, wie denn überhaupt die Neu-
    rosen oft all ihren Kennzeichen auch dem seltenen
    Geschlecht zukommt, nur ungleich seltener
    (1:20). Ferner ist H. auch bei Frauen seit stillender
    Mangel der Genitalien beobachtet worden, und jeder
    Arzt wird eine Reihe von Fällen hysterischer Er-
    krankung bei Frauen gesehen haben, deren Genitale
    keinerlei anatomische Veränderung bot, sowie um-
    gekehrt die grösste Anzahl von **Genitalkranken**
    Frauen nicht an H. leiden. Zuzugeben ist aber, dass
    funktionelle auf das Geschlechtsleben bezügliche
    Verhältnisse in der Ätiologie der H. (wie all
    anderen Neurosen) eine grosse Rolle spielen und
    dies wegen der hohen psychischen Bedeutung dieser
     

  • S.

    890

    [Spatium 1]

    Funktion, insbesondere beim weiblichen Geschlecht. –
    Das Trauma ist eine häufige Gelegenheitsursache
    hysterischer Erkrankungen in doppelter Richtung;
    erstens indem durch ein starkes körperliches Trauma,
    das mit Schreck und momentaner Bewusstseinsläh-
    mung einhergeht, eine bisher unbemerkte hyste-
    rische Disposition geweckt wird; zweitens indem
    der vom Trauma betroffene Körperteil Sitz einer
    lokalen H. wird. So entwickelt sich z. B. bei Hy-
    sterischen, nach einem Falle mit leichter Quetschung
    einer Hand, eine Kontraktur dieser Hand oder, unter
    analogen Bedingungen, eine schmerzhafte Koxal-
    gie u. s. w. Die Kenntnis dieser hartnäckigen Affek-
    tionen hat die größte Bedeutung für den Chirurgen,
    dessen Eingriff unter solchen Verhältnissen nur
    schaden kann. Die Differentialdiagnose dieser Zu-
    stände, insbesondere der Gelenkleiden, ist nicht
    immer leicht. Die Zustände, die durch schwere all-
    gemeine Traumen (Eisenbahnunfälle u. dergl.) ge-
    weckt werden (als Railway-spine und Railway-
    brain
    bekannt), werden von Charcot als H. auf-
    gefasst, wozu amerikanische Autoren, deren Auto-
    rität in dieser Frage nicht zu bestreiten ist, zu-
    stimmen. Dieselben haben oft den düstersten und
    schwersten Anschein, sind mit Depressionen und melan-
    cholischer Verstimmung verbunden und zeigen in
    einer Reihe von Fällen wenigstens Kombination
    von hysterischen mit neurasthenischen und organi-
    schen Symptomen. Charcot hat auch nachgewiesen,
    dass die saturnine Enzephalopathie der H. angehört,
    sowie dass die bei Alkoholikern häufigen Anästhe-
    sien keine besondere Erkrankung, sondern Symptome
    von H.sind. Er sträubt sich aber dagegen, ebenso-
    viele Unterarten von H. aufzustellen (traumatische,
    alkoholische, saturnine etc.); die H. sei stets die
    nämliche, nur durch verschiedene Gelegenheitsur-
    sachen geweckt. Auch bei rezenter Syphilis ist Aus-
    bruch hysterischer Symptome beobachtet worden.

    IV. Verlauf der Hysterie: Die H. stellt mehr
    eine Konstitutionsanomalie als eine begrenzte Er-
    krankung dar. Ihre ersten Anzeichen zeigen sich
    wahrscheinlich zumeist in früher Jugend. In der
    Tat sind selbst störende hysterische Erkrankungen
    bei Kindern von 6-10 Jahren keine Seltenheit.
    Die Periode vor und nach der Pubertät bei Knaben
    und Mädchen bringt bei intensiv hysterisch Veran-
    lagten gewöhnlich einen ersten Ausbruch der Neu-
    rose. In der kindlichen H. sind dieselben Symptome
    nachzuweisen wie in der Neurose Erwachsener. Nur
    sind die Stigmata in der Regel spärlicher, die psy-
    chische Veränderung, Krämpfe, Anfälle, Kontrakturen
    im Vordergrunde. Hysterische Kinder sind in der
    Regel häufig frühreif und hoch beanlagt; in einer
    Reihe von Fällen ist die Hysterie freilich bloss ein Symptom
    einer tiefgehenden Degeneration des Nervensystems,
    die sich in bleibender moralischer Perversion äussert.
    Wie bekannt, ist das jugendliche Alter von 15 Jahren
    an die Periode, in welcher sich bei Frauen die
    hysterische Neurose vorzugsweise lebhaft äußert.
    Dies kann geschehen, indem leichtere Störungen sich
    ohne Aufhören aneinanderreihen (chronische H.),
    oder indem ein oder mehrere schwere Ausbrüche
    erfolgen (akute H.), die durch jahrelange freie
    Zeiten getrennt werden. Die ersten Jahre einer
    glücklichen Ehe pflegen in der Regel die Krankheit
    zu unterbrechen; mit dem Erkalten der ehelichen
    Beziehungen und der Erschöpfung durch wieder-
    holte Geburten tritt die Neurose wieder hervor.
    Nach 40 Jahren pflegt dieselbe bei Frauen keine
    neuen Erscheinungen mehr zu produzieren; alte
    Symptome können aber fortbestehen, und kräftige
    Anlässe selbst im hohen Alter den Krankheitszu-
    stand verstärken. Männer scheinen im unreifen Alter
    der Hysterie durch Trauma und Intoxikation besonders

    –––
    [Spatium 2]

    zugänglich zu sein. Die Hysterie der Männer
    hat den Anschein einer schweren Erkrankung; die
    Symptome, die sie macht, sind in der Regel hart-
    näckig; die Krankheit hat, wegen der grösseren Be-
    deutung einer Berufsstörung beim Manne, eine
    größere praktische Wichtigkeit. – Der Ablauf ein-
    zelner hysterischer Symptome (wie Kontrakturen und
    Lähmungen etc.) hat etwas sehr Charakteristisches.
    Es gibt Fälle, in denen die einzelnen Symptome
    sehr rasch spontan verschwinden und anderen ebenso
    flüchtigen Platz machen, in anderen Fällen herrscht
    eine grosse Starrheit aller Erscheinungen vor. Kon-
    trakturen und Lähmungen bestehen oft jahrelang,
    um dann unvermutet plötzlich zu weichen; es gibt
    im allgemeinen für die Heilbarkeit hysterischer
    Störungen keine Grenze, und es ist charakteristisch,
    dass nach jahrelanger Unterbrechung die gestörte
    Funktion alsbald in vollem Umfange restituiert ist.
    Die Entwickelung hysterischer Störungen bedarf
    indes häufig einer Art von Inkubations- oder besser
    Latenzzeit, während welcher der Anlaß im Un-
    bewussten fortwirkt. So entsteht eine hysterische
    Lähmung fast niemals unmittelbar nach einem
    Trauma; die vom Eisenbahnunfall Betroffenen sind
    z. B. alle imstande, sich nach dem Trauma zu regen,
    begeben sich anscheinend unversehrt nach Hause
    und entwickeln erst nach Tagen und Wochen die
    Erscheinungen, die zur Annahme einer „Rücken-
    markserschütterung" geführt haben. Auch die plötz-
    lich einsetzende Heilung erfordert zu ihrer Ausbildung
    gewöhnlich eine Zeit von mehreren Tagen. Für alle
    Fälle ist festzuhalten, daß die H. niemals, selbst in
    ihren bedrohlichsten Erscheinungen,eine ernste Lebens-
    gefahr bedingt. Auch die volle Klarheit des Geistes
    und die Befähigung selbst zu außergewöhnlichen
    Leistungen bleibt bei der langwierigsten H. erhalten.

    Die H. kann sich mit vielen anderen neurotischen
    und organischen Nervenkrankheiten kombinieren,
    welche Fälle dann der Analyse grosse Schwierig-
    keiten bereiten. Am häufigsten ist die Kombination
    der H. mit Neurasthenie entweder derart, dass
    Personen, deren hysterische Disposition nahezu er-
    schöpft ist, neurasthenisch werden oder dass infolge
    aufreibender Einwirkungen beide Neurosen gleich-
    zeitig geweckt werden. Leider hat die Mehrzahl
    der Aerzte noch nicht gelernt, die beiden Neu-
    rosen voneinander zu scheiden. Die erwähnte Kom-
    bination findet sich am häufigsten bei hysterischen
    Männern. Das männliche Nerven-system hat eine e
    benso überwiegende Disposition zur Neurasthenie,
    wie das weibliche zur H.. Übrigens wird auch die
    Häufigkeit der weiblichen H. überschätzt, die Mehr-
    zahl der von den Aerzten als hysterisch gefürchteten
    Frauen ist strenggenommen bloß neurasthenisch.
    Ferner kann sich „lokale Hysterie" zu Lokal-
    erkrankungen einzelner Organe gesellen; ein wirk-
    lich fungöses Gelenk kann Sitz einer hysterischen
    Arthralgie werden, ein katarrhalisch affizierter Magen
    kann Anlaß zu hysterischem Erbrechen, Globus
    hystericus und Anästhesie oder Hyperästhesie der
    Haut des Epigastrium geben. In diesen Fällen wird
    die organische Erkrankung zur Gelegenheitsursache
    der Neurose. Fieberhafte Erkrankungen pflegen die
    Ausbildung der hysterischen Neurose zu stören, eine
    hysterische Hemianästhesie geht im Fieber zurück.

    V. Die Therapie der Neurose ist kaum in kurzem
    abzuhandeln. Bei keiner anderen Krankheit kann
    der Arzt so wunderthätig eingreifen oder so ohn-
    mächtig dastehen. Man muß für den Standpunkt
    der Therapie drei Aufgaben voneinander sondern:
    die Behandlung der hysterischen Disposition, hyste-
    rischer Ausbrüche (akuter Hysterie) und einzel-
    ner hysterischer Symptome (lokaler Hysterie).
    In der Behandlung der hysterischen Disposition

  • S.

    bleibt dem Arzt ein gewisser Spielraum; die Dispo-
    sition ist nicht aufzuheben, aber man kann prophy-
    laktisch dafür sorgen, daß körperliche UEbungen
    und Gesundheitspflege nicht neben der geistigen
    Ausbildung in den Hintergrund treten, von Über-
    leistungen des Nerven-systems abraten, die Anämie
    oder Chlorose behandeln, welche die Neigung zu
    Neurosen ganz besonders zu unterstützen scheint;
    endlich die Bedeutung leichter hysterischer Symptome
    herabdrücken. Man muß sich als Arzt davor hüten,
    durch zu deutliche Kundgebung seines Interesses
    für leichte hysterische Symptome dieselben gross-
    zuziehen. Ernste, wenn auch anstrengende geistige
    Arbeit macht selten hysterisch, dagegen muss man
    der Erziehung in den besseren Ständen der Gesell-
    schaft, welche auf Verfeinerung der Empfindung
    und der Empfindlichkeit hinarbeitet, aller-dings diesen
    Vorwurf machen. Insofern war die Methode älterer
    ärztlicher Generationen, hysterische Aeußerungen
    bei jugendlichen Personen als Unart und Willens-
    schwäche zu behandeln und mit Drohungen zu
    strafen, keine schlechte, wenn sie auch kaum richtigen
    Anschauungen entsprang. Bei Kindern läßt sich
    in der Behandlung von Neurosen mehr durch auto-
    ritative Abweisung leisten als durch irgend eine
    andere Methode. Man wird freilich keine Erfolge
    haben, wenn man diese Behandlung auf die H. Er-
    wachsener und auf schwere Fälle überträgt. In der
    Behandlung akuter Hysterien, bei denen die Neurose
    fortwährend neue Erscheinungen pro-duziert, ist die
    Aufgabe des Arztes eine schwierige; es ist leicht
    möglich, Fehler zu begehen, und Erfolge sind selten.
    Erste Bedingung eines erfolg-reichen Eingreifens ist
    in der Regel die Entfernung aus den gewohnten
    Verhältnissen und die Isolierung aus dem Kreise,
    in dem der Ausbruch entstanden ist. Diese Mass-
    regeln sind nicht nur an und für sich heilsam, son-
    dern ermöglichen auch eine genaue ärztliche Ueber-
    wachung und jene intensive Beschäftigung des
    Arztes mit dem Kranken, ohne welche er niemals
    einen Erfolg in der Behandlung Hysterischer auf-
    weisen wird. In der Regel ist der oder die Hyste-
    rische nicht der einzig nervöse Kranke im Familien-
    kreise; das Erschrecken und die zärtliche Teilnahme
    der Eltern oder Verwandten steigert nur die Er-
    regung oder bei psychischer Verwandlung des
    Kranken dessen Neigung, intensivere Symptome zu
    produzieren. Ein Anfall z. B., der mehrmals hinter-
    einander zu einer bestimmten Stunde gekommen
    ist, wird von der Mutter regelmäßig zur selben Zeit
    erwartet, sie fragt das Kind besorgt, ob es sich
    schon unwohl fühle, und sichert so das Zustande-
    kommen der gefürchteten Erscheinung. Nur in den
    seltensten Fällen gelingt es, die Angehörigen zu be-
    wegen, daß sie den hysterischen Anfällen des Kindes
    mit voller Ruhe und scheinbarer Gleichgültigkeit
    entgegensehen; meist muß die Familie gegen den
    Aufenthalt in einer ärztlichen Anstalt vertauscht
    werden, wobei die Angehörigen größeren Wider-
    stand zu leisten pflegen als die Kranken selbst.
    Unter dem Eindruck der veränderten Wahrnehmungen
    in der Heilanstalt, der liebevollen und heiteren
    Sicherheit des Arztes, dessen Überzeugung von der
    Gefahrlosigkeit und raschen Heilbarkeit der Neurose
    sich bald auf den Kranken überträgt, bei der Fern-
    haltung aller Erregungen des Gemüts, welche zum
    Ausbruche der Hysterie beitragen, und bei der Anwendung
    aller kräftigenden Heilmittel (Massage, allgemeine
    Elektrisation, Hydrotherapie) sieht man die
    schwersten akuten Hysterien, die eine völlige physische
    und moralische Zerrüttung der Kranken herbei-
    geführt haben, in wenigen Monaten der Gesundheit
    Platz machen. Als Behandlungsmethode der H. in Anstalten
    hat sich in den letzten Jahren die sogenannte

    Mastkur nach Weir-Mitchell (auch Playfair-
    sche
    Kur genannt) einen hohen Ruf erworben und
    zwar verdienterweise; sie beruht auf der Vereinigung
    der Isolierung in absoluter Ruhe mit einer syste-
    matischen Anwendung von Massage und allgemeiner
    Faradisation; eine geschulte Wärterin ist hierbei so
    wenig zu entbehren wie die ständige Beeinflussung
    von seiten des Arztes. Als glückliche Vereinigung
    des traitement moral mit einer Aufbesserung des
    ganzen Ernährungszustandes, hat diese Kur für die H.
    einen ungemeinen Wert; sie ist aber nicht als etwas
    systematisch in sich Abgeschlossenes zu betrachten;
    vielmehr bleibt die Isolierung und Beeinflussung durch
    den Arzt die Hauptwirkung, und unter den Hilfs-
    wirkungen sind neben Massage und Elektrizität auch
    die anderen therapeutischen Methoden nicht zu ver-
    nachlässigen. Man thut am besten, nach einer
    4-8 wochenlangen Bettruhe, Hydrotherapie und
    Gymnastik anzuwenden und zu ausgiebiger Be-
    wegung anzuleiten. Bei anderen Neurosen, z. B.
    Neurasthenie, ist der Erfolg der Kur ein weit un-
    sichererer, er beruht bloss auf dem Wert der Ueber-
    ernährung, soweit diese bei einem neurasthenischen
    Verdauungstrakt gelingt, und der Ruhe; bei H. ist
    der Erfolg häufig ein zauberhafter und bleibender.

    Die Behandlung einzelner hysterischer Symptome
    bietet keine Aussicht auf Erfolg, solange eine akute
    H. besteht; die weggeschafften Symptome rezidivieren
    oder werden durch neue ersetzt; Arzt und Kranke
    ermüden endlich. Dagegen liegt es anders, wenn
    die hysterischen Symptome Reste einer abgelaufenen
    akuten H. darstellen oder in einer chronischen H.
    auf besondere Veranlassung hin als Lokalisationen der
    Neurose auftreten. Zunächst ist hier von interner Me-
    dikation abzuraten und vor narkotischen Mitteln zu
    warnen. Die Darreichung narkotischer Mittel in
    einer akuten Hysterie ist weiter nichts als ein schwerer
    Kunstfehler. Bei lokaler und restierender H. wird
    man interne Medikamente nicht immer umgehen
    können; deren Wirkung ist aber unverläßlich, er-
    folgt das eine Mal mit zauberhafter Promptheit,
    das andere Mal überhaupt nicht und scheint nur
    von der Autosuggestion des Kranken, oder von
    seinem Glauben an die Wirkung abzuhängen. Man
    hat sonst die Wahl, ob man eine direkte oder in-
    direkte Behandlung des hysterischen Leidens ein-
    schlagen will. Letztere besteht darin, das lokale
    Leiden zu vernachlässigen und eine heilsame All-
    gemeinbeeinflussung des Nervensystems anzustreben,
    wobei man sich des Aufenthaltes in freier Luft, der
    Hydrotherapie, der Elektrizität (am besten der Fran-
    klinisation), der Verbesserung des Blutes durch Arsen-
    und Eisenmedikation bedient. Bei der indirekten
    Behandlung hat man noch die Beseitigung der Reiz-
    quelle zu berücksichtigen, falls eine solche phy-
    sischer Natur existiert. So z. B. können hysterische
    Magenkrämpfe einen leichten Magenkatarrh zur
    Grundlage haben, eine gerötete Stelle im Kehlkopf,
    eine Schwellung der Nasenmuscheln kann eine un-
    aufhörliche Tussis hysterica erzeugen. Ob Ver-
    änderungen an den Genitalien wirklich so häufig
    die Reizquelle für hysterische Symptome abgeben,
    ist wirklich zweifelhaft. Die betreffenden Fälle
    müßten mit größerer Kritik geprüft werden. Die
    direkte Behandlung besteht in der Wegschaffung
    der psychischen Reizquelle für die hysterischen Sym-
    ptome und ist verständlich, wenn man die Ursachen
    der Hysterie im unbewußten Vorstellungsleben sucht. Sie
    besteht darin, dem Kranken in der Hypnose eine
    Suggestion einzugeben, in welcher die Behebung
    des betreffenden Leidens enthalten ist. So heilt
    man z. B. eine Tussis nervosa hysterica, wenn man
    dem hypnotisierten Kranken auf den Kehlkopf drückt
    und ihm versichert, daß nun der Hustenreiz be-

  • S.

    hoben ist; eine hysterische Lähmung des Armes,
    indem man ihn in der Hypnose zwingt, Stück für Stück
    des gelähmten Gliedes zu bewegen. Noch wirksamer
    ist es, wenn man nach einer Methode, welche Josef
    Breuer
    in Wien zuerst geübt hat, den Kranken in
    der Hypnose auf die psychische Vorgeschichte des
    Leidens zurückführt, ihn zum Bekennen nötigt, bei
    welchem psychischen Anlaß die entsprechende Stö-
    rung entstanden ist. Diese Methode der Behand-
    lung ist jung, liefert aber Heilerfolge, die sonst nicht
    zu erreichen sind. Sie ist die der H. adäquateste,
    weil sie genau den Mechanismus des Entstehens und
    Vergehens solcher hysterischer Störungen nachahmt.
    Viele hysterische Symptome, die jeder Behandlung
    widerstanden haben, schwinden nämlich spontan
    unter dem Einfluss eines genügenden psychischen
    Motivs, z. B. eine Lähmung der rechten Hand, wenn
    der Kranke in einem Streit den Impuls fühlt, seinem
    Gegner eine Ohrfeige zu geben, oder einer mora-
    lischen Erregung, eines Schrecks, einer Erwartung
    z. B. in einem Wallfahrtsort, oder endlich bei einer
    Umwälzung der Erregungen im Nervensystem nach
    einem krampfhaften Anfall. Die direkte psychis-
    che Behandlung hysterischer Symptome wird der-
    einst die bestgeachtete sein, wenn das Verständnis
    der Suggestion in ärztlichen Kreisen tiefer einge-
    drungen ist (Bernheim – Nancy). – Es läßt sich
    derzeit nicht mit Bestimmtheit entscheiden, inwieweit
    der psychische Einfluss bei gewissen anderen schein-
    bar physischen Einwirkungen ins Spiel kommt. So
    lassen sich z. B. Kontrakturen heilen, wenn es ge-
    lingt, dieselben durch einen Magneten zum Trans-
    fert zu bringen. Bei wiederholtem Transfert schwächt
    sich die Kontraktur ab und schwindet endlich.

    VI. Resümé: Zusammenfassend kann man sagen,
    die H. ist eine Anomalie des Nervensystems, welche
    auf einer andersartigen Austeilung der Erregungen,
    wahrscheinlich mit Bildung eines Reizüberschusses
    im Seelenorgan beruht. Ihre Symptomatologie zeigt,
    dass dieser Reizüberschuß durch bewusste und un-
    bewusste Vorstellungen verteilt wird. Alles was die
    Verteilung der Erregungen im Nervensystem ändert,
    kann hysterische Störungen heilen; solche Einwir-
    kungen sind teils physischer, teils direkt psychi-
    scher Natur.