Rezension von: Neutra, Wilhelm ›Briefe an nervöse Frauen‹ 1910-201/1910
  • S.

    49

    [Referate, Kritiken und Grenzgebiete.]

    Dr. Wilh. Neutra, Briefe an nervöse Frauen. Zweites Tausend. Verlag
    von Heinrich Minden, Dresden und Leipzig, 1909.

    Es sollte als ein erfreuliches Zeichen für das erwachende Interesse
    der Leser für die Psychotherapie gelten dürfen, dass von diesem Buche
    in so kurzer Zeit eine zweite Auflage notwendig geworden ist. Leider
    können wir das Buch selbst nicht als eine erfreuliche Erscheinung
    begrüssen. Der Verfasser, Assistenzarzt der Wassetheilanstalt Gain-
    farn bei Wien, hat die Form von Oppenheims „Psychotherapeutischen
    Briefen“ aufgenommen und diese Form mit psychoanalytischem Inhalt
    erfüllt. Dies ist im gewissen Sinne ein Missgriff, denn die Psycho-
    analyse lässt sich mit der Oppenheimschen oder, wenn man will,
    Dubois’schen Überredungskunst nicht gut vereinigen; sie sucht ihre
    therapeutische Wirkung auf ganz anderen Wegen. Schwerer ins Ge-
    wicht fällt aber, dass der Autor die Vorzüge seines Vorbildes, Takt und
    sittlichen Ernst, nicht erreicht, und dass er beim Vortrag der psycho-
    analytischen Lehren häufg in hohle Deklamation verfällt, auch manches
    unrichtig angibt. Immerhin ist vieles geschickt und zutreffend gesagt;
    man kann die Schrift als populäre Lektüre gelten lassen. In einer
    ernsten, wissenschaftlichen Darstellung hätte der Autor mit grösserer

  • S.

    DU Referate, Kritiken und Grenzgebiete.

    Gewissenhaftigkeit auf die Quellen seiner Anschauungen und Behaup-
    tungen hinweisen miissen. Freud.

    Professor Ed. Clunuréde und die Psychoanalyse. Im letzten
    Heft des „Archives des Psychologie (Nr. 36) präzisiert Claparéde,
    im Anschluss an eine Mitteilung von ihm selbst über die Salzburger
    Vereinigung und von Maeder über die Nürnberger Vereinigung,
    seinen Standpunkt zur Psychoanalyse folgendermassen: „Was mich
    an den Freudschen Erklärungen anlockt, ist das, dass sie einer
    biologischen Auffassung psychischer Vorgänge entsprechen. Freud
    zeigt uns, wie das Bewusstsein sich gegen bestimmte unangenehme
    Vorstellungen wehrt; dieser Gedanke erscheint mir sehr richtig. Ich
    bewundere auch den Versuch des erninenten Wiener Neurologen, die genaue
    Deterruinierung der Zwangsgcdankcn und anderer pathologischen Er-
    scheinungen festzustellen, indem er auf die individuelle Geschichte des
    Kranken eingeht. Wenn auch gewisse Auffassungen der Anhänger
    Freuds mir als sinnreich und wahrscheinlich richtig erscheinen, muss
    ich auf der anderen Seite sagen, dass viele mir sehr gekünstelt vorkommen.
    Es ist hier nicht der Ort, über diese Fragen zu diskutieren. Mit
    einem Wert. ich habe zur zeit noch keine feststehende Ansicht über
    den Wert der verschiedenen Theorien Freude, ich finde aber, dass
    sie verdienen unparteiisch betrachtet zu werden.“ Ref. beabsichtigt ge-
    legentlich auf den biologischen Standpunkt des Genfer Psychologen
    näher einzugehen, Viele seiner Begriffe lassen sich ohne weiteres in

    die Sprache der Psychoanalytiker übersetzen.
    A. Maeder.

    Maeder Alt., La langue d‘un aliéné (Archives de Psychologie.
    Genéve. Tome IX. 1910).

    Verfasser hat die Kunstsprsche („sekundäre Sprache“) eines
    Persnoiden durch Psychoanalyse untersucht. Patient ist 41 Jahre
    alt, seit 15 Jahren interniert; die Kunstsprache hat sich im Laufe der
    letzten 17 Jahre entwickelt und scheint beim ersten Blick sinnlos.
    Eine eingehende Untersuchung konnte Verf. das Gegenteil lehren.
    Patient musste auf jedes einzelne Wort frei assoziieren, Verf. liess
    ihn auch verschiedene Gegenstände, Bilder beschreiben, vorgelesene
    Fabeln wieder erzählen. Es wurde so möglich, den bestimmten
    fixierten Sinn einer grossen Anzahl von Neologis’men festzustellen,
    einen Wortschatz der Sprache des Kranken zu erhalten uch dadurch
    den Inhalt des Wahnes zu erfahren. Wortneubildungen haben nur
    bei gefühlsbetonten Vorstellungen (Komplexen) stattgefunden, sie
    beziehen sich auf die Wunscherfiillungen, Grössenideen, Befürchtungen,
    Verfolgungen des Patienten. Die Sprache selbst heisst die „Saiisjodr“
    („im Deutschen Exzellenzsprache“), von dem schweizerischen udeligen

  • S.

    iNST!TUTEIh>\ _
    OF ‘
    PSYCHO—ANALYSIS