Sitzung der Wiener Psa. Vereinigung. 19. November 1918 1918-510/1918
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    Sitzung der Wiener Ps. Vereinigung

    19. November 1918. 3h Nm.

    Anwesend Prof. Freud, Dr. Rank, Dr. Friedjung, Dr. Weiss, Dr.
    Steiner, Dr. Sadger, Dr. Tausk, Dozent Dr. Pötzl, Frau Dr.
    Hug-Hellmuth, Frau Dr. Sokolicka, Dr. Freund (Budapest), Dr.
    Hitschmann, Dr. Ferriere (Genf), Frau Dr. Deutsch, Dr. Reik,
    Dr. Fockschaner. Als Gäste. Dr. Bernfeld, Frau Dr. Bernfeld,
    Frau Dozent Pötzl, Dr. Karl Frank, Herr med. Fennichel, Fräulein
    Anna Freud.

    Prof. Freud begrüßt die Gäste, Dr. Rank kündigt die
    Übersiedelung der Bibliothek an, Dr. Reik berichtet über Ein-
    lauf der Bibliothek.

    Dr. Bernfeld hält einen Vortrag. „Die Dichtung der Jugend-
    lichen“.1

    Der Vortragende hat ein grosses Tatsachenmaterial gesam-
    melt. Er unterscheidet 2 Typen jugendlicher Dichter – beim er-
    sten ist nur zuweilen der Drang, Gedichte, Dramen etc. zu
    schreiben, der andere produziert unaufhörlich in der Zeit vom
    15. bis 19. Lebensjahr. Diese jugendlichen Dichter haben Tage-
    bücher, Kritiker, Publikum wenigstens unter Freunden, beschäfti-
    gen sich mit der Frage ihrer Produktion, betrachten sich als
    Dichter. Vortragender hat das Opus eines Jugendlichen aus der
    Zeit vom 15. bis 19. Lebensjahr analytisch untersucht. Dieser
    wählte zuerst Stoffe aus der Schule und der Lektüre, behandelt
    sie in Balladen und Dramen. Im 11. Monat des 14. Lebensjahres
    ist eine Zäsur in seinem Schaffen deutlich. Von der schulmässi-
    gen, erzählenden Form geht er zur Lyrik über. Schreibt keine
    lyrische Gedichte, die nicht fremde Stoffe, sondern eigene
    Stimmungen behandeln. Im 16. Lebensjahr wieder deutliche

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    Zäsur. Zug zur Objektivität und zum Künstlerischen. Grössere
    Themen werden selbst erfunden oder weitgehend modifiziert.

    Die Unterschiede zwischen den drei Perioden: in der ersten
    überwiegt die zwanghafte Lust zum Dichten, doch fehlt oft der
    Stoff. Hat er diesen, reflektiert er über die Form, das Vers-
    mass und bemüht sich einen Plan schulmässig auszuführen. In
    der zweiten Periode taucht die Lyrik als Gefühlsauslösung auf,
    nur das Dichten wird als subjektiv wertvoll empfunden, nicht
    das Produkt. In der ersten Periode werden die Dichtungen sorg-
    fältig aufgeschrieben, vom 15. Lebensjahr an herrscht weniger
    Sorgfalt. Lag ihm früher viel an der Beurteilung seiner Pro-
    duktion, so ist sie ihm jetzt gleichgültig. Die objektive Pe-
    riode durch geringe Stoffwahl charakterisiert. Die Ausführung
    gelingt im Gegensatz zu früher leicht, oft drängt sich ihm die
    Überzeugung auf, ein grosser Dichter zu sein. Der Unterschied
    zur vorigen Periode. Art und Umfang der Produktion nähern
    sich dem Künstlerischen. Der Entschluss, seine Dichtungen zu
    veröffentlichen, wird klar, sie werden nicht mehr in Heften ein-
    getragen, sondern druckfertig gemacht. – Der Wunsch, ein Dich-
    ter zu sein, geht in allen Perioden der Produktion voran. Der
    Vortragende behandelt die Beziehungen des Dichtens zu den Tag-
    träumen. Alle jugendlichen Dichter bezeihen sich als Tag-
    träumer. Dem lyrischen Gedicht liegt nicht ein Tagtraum, son-
    dern eine Stimmung zugrunde. Viele der jugendlichen Dichter
    wollen aber einen Gedanken ausdrücken. Die Elemente des Dich-
    tens sind aus Tagträumen, Stimmungen und zwanghaften Gedanken
    ableitbar. Jugend dichtet mehr als jedes Alter des Menschen.
    Die Pubertät ist den Tagträumen günstig. Am häufigsten dient
    die Stimmung als Unterlage der Dichtung, sie ist das Symptom

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    einer Affektverschiebung. Die Stimmungsdichtung hat die Ten-
    denz, eine Stimmung andauern zu lassen, den Affekt zeitlich zu
    verbreiten, durch das Wort zu fixieren. Die Dichtung aus Tag-
    träumen besteht wesentlich aus Mitteilungen von Tagträumen.

    Die Stimmungsdichtung ist aus heterosexuellem Erleben ableit-
    bar, das Moment der Versagung führt zum Stimmungserleben, aber
    auch das Dichten, aus Tagträumen entstehend, ist ohne der Würdi-
    gung der Tatsache des realen Verzichtes unvollständig. Eine
    Liebesversagung soll durch Erwerb andersgearteter Liebe kompen-
    siert werden (Ruhm, Ehre etc.). Dafür als Beispiel Erstlings-
    novellen der Jugendlichen, die alle nach einem Schema gebaut
    sind, der Autor steht im Mittelpunkt. Es wird sein Wunsch deut-
    lich, ein Anderer möge ihn so darstellen, er schildert darin
    seine gedachte oder gewünschte Zukunft. Besonders aufschluss-
    reich die Widmungen in den Dichtungen Jugendlicher. In den er-
    sten Romanen und Novellen an Vater, an Geliebte gerichtet.

    Überall die narzisstische Besetzung sichtbar. Vortragender
    weist auf den Sublimierungsprozess in diesen Dichtungen hin und
    legt seine Mechanismen dar. In den Dichtungen bevölkert eine
    narzisstische Komponente sexuelle Komponenten anderer Art.

    Dr. Weiss bezieht sich in der Diskussion auf seine Arbeit
    über Reim und Refrain, die unbewusste Übereinstimmung enthält.

    Dr. Tausk bemängelt, dass Inhalt und Formen des Dichtens
    in der Arbeit Dr. Bernfelds nicht scharf getrennt sind. Glaubt,
    dass das Drama die höhere Entwicklung sei als die Erzählung,
    sie ist die in der Dichtung vorgeschrittenere Überwindung des
    Narzissmus. Es ist richtig, dass Dichtung eine Kompensation für
    Verzicht ist, durch das Werk werde das Ich vergrössert. Das
    Verbrennen der Gedichte bedeutet Wegschaffen der Zeugen einer

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    alten Periode. Gibt ein Beispiel eines Dichters, der 17 Perio-
    den zählte und nach jeder seine Dichtungen verbrannte. Stim-
    mungsdichtung ist Erledigung des Affekts durch Bindung an das
    Wort.

    Dr. Hitschmann hält es nicht für gleichgültig, ob grosse
    oder kleine Dichter analytisch untersucht werden. Der Oedipus-
    Komplex sollte mehr betont werden. Was bedeutet es, wenn Ju-
    gendliche sagen, sie wollen Dichter sein oder werden – das ist
    eine wesentliche Frage.

    Herr Fennichel meint, dass Stimmung und Tagtraum kein ver-
    schiedenes Verhalten zur Realität haben. Erörtert drei Möglich-
    keiten der Objektivierung des Tagtraumes, vergleicht die Form-
    reflexionen und -erfordernisse des Jugendlichen mit zwangsneu-
    rotischen Zügen.

    Dr. Reik verweist darauf, dass der Vortragende den Begriff
    Sublimierung anders auffasse als die Ps. A. überhaupt, welche das
    Soziale und Höherwertige in diesem Prozesse betone. Die Dich-
    tungen Jugendlicher seien interessant wegen der Faktoren, die
    später zu anderen Zwecken verwendet werden.

    Dr. Rank. Das Wertvollste der Jugenddichtung für die ps. an.
    Untersuchung sei, dass in ihr alle jene primitiven Komplexe,
    die beim hochstehenden Dichter erst mühsam gesucht werden müs-
    sen, hier klar zu Tage liegen. Beispiele. Ein Jugendlicher
    schreibt ein Stück zum Geburtstag des Vaters, er selbst an
    Vater fixiert, spielt den Vater. Ein Bildhauer, der später
    berühmt sein würde, hat zuerst die primitiven Komplexe zum
    Verschwinden gebracht. Das Drama ein 11jähriges Mädchens be-
    handelt Tod ihrer Mutter. Alle Dichter beginnen mit Nachahmen.
    Bekenntnisse von Hebbel.

    Dichtung ist nicht nur Mittel, sondern auch Folge der

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    Verdrängung. Mitleidsfragen ist oft Motiv der Dichtung.

    Dr. Federn hält es für wertvoll, dass Dr. Bernfeld die
    Dichtung als Kompromiss gezeigt habe, welches sowohl das Fi-
    xieren als das Loswerden der Stimmung bezwecke. Der Dichter
    ist narzisstisch gegen seine eigenen Stimmungen eingestellt.
    Zum Dichten gehört übergrosse konstitutionelle Triebstärke.
    Jeder Künstler hat trotz weitgehender Realitätsanpassungen
    atavistisches Triebleben. Dazu gehört der Narzissmus, da das
    Schaffen basiert auf der Fixierung an Narzissmus, er wird mit
    den Mitteln der Objektlibido befriedigt. Künstler haben ausser-
    dem eine stärkere Fähigkeit sinnlicher Aufnahme. Dabei Selbst-
    zensur, so als wäre es nicht das eigene Werk. Schaffende und
    Psychologen betonen, dass zum grossen Künstler bisexuelle An-
    lage gehört. Das Verhältnis zum Werk kann ein extrem weibli-
    ches werden. Betonung der narzisstischen Libido und narzisstisch
    getragenen Objektliebe beim Künstler.

    Dr. Rank setzt hinzu, der grosse Dichter hat auch alles,
    was die jugendlichen Dichter haben, er hat nur ein Stück mehr.

    Dr. Friedjung führt die bewusste Absicht der Jugendlichen
    „Ich will ein Dichter sein“ auf Nachahmung zurück.

    Ein 11 jähriger Junge dichtet, nachdem er die Lyrik der
    Mutter gehört hat, ein anderer schreibt Dramen nach Besuch des
    Theaters. Es gibt 2 Typen von Dichter. Der eine ist mit Af-
    fekten fertig sobald sein Werk fertig ist, der andere kommt
    innerlich nicht durch Vollendung des Werkes davon los.

    Dr. Tausk führt zum Moment der Nachahmung in der Psycho-
    genese des Dichters an: bei einem 3 jährigen Jungen, der einen
    Klystier erhielt, wurde das zum Anlass zur Imitation des Arztes.

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    Betont Verhältnis zur Analerotik, Verhältnis eines Dichters
    zum Werk, bestimmt durch Grad der Analerotiküberwindung, Stel-
    lung des Kindes zu den
    ist sehr wichtig dafür.

    Prof. Freud. Das Hauptverdienst der Bernfeldschen Arbeit
    ist mit Kenntnis der Psa. aber unbefangen an sein Manuskript-
    ganzes Material gegangen und sieht dadurch unerwartet Bestäti-
    gung der psa. Resultate. Prof. Freud gibt die Assoziationen,
    die während des Vortrages über Einstellung des Dichters aufge-
    taucht sind. Das Problem zerfällt im Wesentlichen in 5 Teile.
    Die Motive, die Technik und die Wirkung des Dichtens sind zu
    untersuchen. Den Motiven nach darf man wahrscheinlich 5 Typen
    unterscheiden.

    1.) Illusionsmotivierung, diese Dichtung schafft Wunscherfül-
    lung, geht aus Tagträumen hervor. Ihr Produkt: idealistische
    Dichtung.

    2.) Dem 2. Typus kommt es darauf an, zu beschreiben. Das Motiv
    ist exhibitionistisch, der Dichter will zeigen, was er produzie-
    ren kann. Dieser Typus steht dem 5. nahe, ist Voyeur Wisser.
    Dichter will zeigen, was er gesehen hat. Die Situation ist der
    aus der Schule ähnlich, dort zeigt ein Kind dem anderen Uner-
    fahrenen Geheimnisse, Produkt, realistische Dichtung.

    4.) Die psychologische Dichtung will aufdecken was verborgen ist
    z. B. Dostojevski. 5.) Dichter triebbewegt werben um Mitleid,
    Sympathie, Liebe; Lyrik dafür typisch.

    In der Dichtung sind 2 Gesichtspunkte zu unterscheiden: ob
    das soziale Motiv von Anfang an dabei war oder erst später dazu
    kommt. Es ist z. B. am Anfang bei der Illusions- und Versehungs-
    dichtung. 2. Gesichtspunkt: Ob das Ich nur das Motiv oder auch
    den Inhalt der Dichtung gibt. Die Lyrik und die Illusionsdich

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    tung nimmt Inhalt aus Ich, die psychologische aus Verborgenen
    des Ich.

    Dr. Bernfeld dankt für Bemerkungen, hat Komplexbestimmung
    und Mechanik des Dichtens nicht behandelt, da bekannt. Die
    Erzählung ist älter als das Drama. Das Verbrennen von Gedich-
    ten bedeutet Kampf, gegen Weitergehen der narzisstischen Wege.
    Das Unterscheidende des grossen vom kleinen Dichter ist nicht
    die Quantität des Talents. Auch der grosse Dichter hat die
    narzisstische Einstellung im Zentrum. Grosse Werke dem Umfang
    nach bleiben der Dichtung Jugendlicher versagt. Ihre Romane
    haben 6–8 Seiten. Der Wunsch ein Dichter zu sein vor Produk-
    tion kann nur in einzelnen Fällen untersucht werden. Mitbestim-
    mend die hohe Bewertung des Dichters, die soziale Wertung die
    er geniesst. Neben der Rolle der Nachahmung ist die der Diffe-
    renzierung zu beachten. Die Tötung des Vaters steht oft im
    Mittelpunkt der Dichtung Jugendlicher.