Varia [April 1913] /1913
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    Varia. 359

    Varia.

    Die Maus als Symbol der Seele,

    Dr. Wilhelm Stekel veröffentlicht in seinem jüngst erschienenen Werke:
    „Die Träume der Dichter“ (Verlag J. F. Bergmann, Wiesbaden 1912) auch die
    ihm vom Lyriker Viktor Blüthgen übergegebenen Darlegungen. In diesen heisst
    es u. a.: „Ich erinnere mich keiner sogenannten Wahrträume, träume fast nie von
    Tageseindrücken und mir nahestehenden Personen. So habe ich meinen Vater nur
    einmal im Traume gesehen, und da war er eine Maus, die aus einem Loche
    in der Stadtmauer kam, auf einem Holunderbusch sass und mit mir
    plauderte, leise und melancholisch.* Diesen Traum deutet Stekel in fol-
    gender Weise: ,. . . . Ferner die wunderbare Vorstellung des Vaters als Maus, der
    aus einem Loche kommt. Dieses Bild ist nicht schwer zu erklären. Kin toter Mensch
    ist ja nach dem Sprachgebrauch mausetot. Die Charakteristik des Toten als Maus
    gibt zugleich die Gewissheit, dass er sicher tot ist. Dann steckt ja der Tote in
    einem Loche in der Erde. Die Friedhofsmauer ist vielleicht — ich sage vielleicht —
    durch die Stadtmauer ersetzt.“

    Mit dem Hinweise auf Dr. Stekel's Worte in seiner Vorredo zu dem go-
    nannten Werke, „dass manches andere Erklärungsmäglichkeiten zulässt“ und „sich

    in den meisten Fällen mehrere Wahrheiten ganz gut nebeneinander vertragen“, er-
    laube ich mir meine Erklärung für das Erscheinen der Maus in Blüthgens Traum
    zu geben: Der Volksaberglaube gibt der Seele des Dahingeschiedenen die Gestalt
    einer Maus. Dies bestätigt Rudolf Kleinpaul in seinem Buche: „Die Leben-
    digen und die Toten in Volksglauben, Religion und Sage“ (Verlag
    Göschen, Leipzig 1898) mit nachstehender Ausführung: ,. . . Es gibt aber noch
    drei schlangenähnliche Seelentiere, die in unserer Brust wie in einer tiefen Hôhle
    wohnen und alle drei die Gewohnheit haben, zeitweilig aus ihrem Schlupfwinkel
    hervorzugucken und ihren Zufluchtsort zu verlassen, um auf Erden herumzustreifen,
    worauf sie sich wieder in ihrem Loch einstellen. Diese drei Tiere sind: die schlanke
    muntere Eidechse, die im Winter unter der Erde schlift, — das ebenfalls lang-
    gestreckte Wiesel, das bald in hohen Bäumen, bald in Steinhaufen, bald in altem
    Gemäuer nächtigt und in dem alle Nationen etwas Menschliches, zumeist etwas
    Weibliches, ein Fräulein, eine Gevatterin, ein Bräutchen entdecken 一 und das Tier-
    chen, das ob seiner Anmut, Heimlichkeit und Stille in hervorragender Weise zu dem
    Vergleiche passt, das jedermann kennt, das auch zufällig in seinem Loche singt und
    pfeift und ein auffallend langes Mäuseschwänzchen hat: die Maus, bezichentlich
    die Haselmaus, womit man den Siebenschläfer meint.“

    Wenn dem Lyriker Blüthgen also sein Vater im Traume als Maus erscheint,
    die mit ihm spricht, soll damit wohl die Seele des Verstorbenen gemeint sein.
    Ist sie doch im Volksglauben unsterblich, während der Körper in der feuchten Erde
    vollkommen vernichtet wird.

    Ich habe mich von dieser Symbolisierung durch folgenden Fall überzeugt:
    Eine leidende ältere Dame beschäftigt sich in ihrem Hausgarten mit der Rosenpflege,
    wobei sie von ihrer Begleiterin unterstützt wird. Plötzlich schreit sie erschrocken
    auf: „Um Gottes Willen, eine schwarze Maus“ und zeigt entsetzt nach einer Stelle
    am Boden. Die Begleiterin beruhigt sie, es sei nur Einbildung gewesen, da sie ja
    sonst die Maus auch hätte sehen müssen. Am nächsten Tage ordnet dieselbe Dame
    unter Beihilfe derselben Begleiterin ihren Wäscheschrank. Wieder erscheint ihr die
    schwarze Maus, springt aus dem Schrank, eilt über die am Boden sortierte Wäsche,
    um gleich wieder nach ihrem Versteck zurückzulaufen. Die Begleiterin, vor deren

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    360 Varia.

    Augen sich die Szene abgespielt haben müsste, hat nicht das geringste gesehen und
    trüstet die Jeichenblasse, bebende Frau. Kurz darauf war sie tot. Auch hier
    repräsentiert die Maus die Seele — diesmal die eigene —, die die Dame im Zustande
    der Halluzination zu sehen glaubt; mit anderen Worten: sie ahnt ihren Tod, der
    auch bald eintritt. stud. med. Erwin Fischl.

    Zum Thema des Inzestes.

    Mit Recht sammelt Rank Ereignisse des Tages, um sie psychologisch zu ver-
    werten. Ist die Inzestregung des Neurotikers nur ein Gleichnis, ein als ob, ist sie
    nur eine Form archaistischen Denkens? Die nachfolgende Begebenheit mag
    als ein kleiner Beitrag zum Problem gelten, Sie ist dem Neuen Wiener Abendblatt
    vom 30, November 1912 entnommen: ⑧

    „Eine merkwürdige Familientragödie spielte sich dieser Tage in New-York ab.
    Mrs. Griffin, eine sechzigjährige Dame, hat ihren 40jährigen Sohn Peter durch Leucht-
    gas getötet und nach vollbrachter Tat auf die gleiche Weise sich selbst den Tod
    gegeben.

    Mrs. Griffin war es nicht gelungen, den festen Vorsatz ihres Sohnes, zu hei-
    raten und einen selbständigen Haushalt zu gründen, zu erschüttern, und sie beschloss
    daher, lieber ihn und sich zu töten, als dass sie erlaubt hätte, dass eine andere Frau,
    sie ihres Rechtes, dem Haushalt ihres Sohnes vorzustehen, beraube.

    Seit je waren die Beziehungen zwischen Mutter und Sohn die
    idealsten. Beide waren einander in zärtlicher Liebe ergeben, und der
    Sohn, als er bereits die hervorragende Stellung des Direktors eines Telegraphen-
    bureaus erreicht hatte und von seinen Freunden zu einer Heirat gedrängt wurde,
    pflegte nur zu antworten, dass seine Mutter ihm mehr sei als die beste
    der Frauen. „Ich könnte nie erhoffen, verheiratet so glücklich und zufrieden zu
    sein, als ich es bin, ledig, unter der zärtlichen Fürsorge meiner Mutter.“

    Vor kurzem jedoch verliebte er sich in ein junges Mädchen, und als die Mutter
    das wachsende Interesse des Mannes für die Dame, die versprochen hatte, seine
    Gattin zu werden, bemerkte, erfasste sie rasende Eifersucht und Verzweiflung.

    Nachdem sie ihren Sohn ohne Erfolg gebeten und ihm Vorstellungen gemacht
    hatte, von der Heirat abzusehen, entschloss sie sich zu der entsetzlichen Tat. In
    der Nacht, als ihr Sohn schon schlief, nahm Mrs. Griffin den Gasschlauch und legte
    ihn, nachdem sie den Hahn geöffnet, auf ihres Sohnes Polster. Dann ging sie in
    die Küche und öffnete dort den Hahn des Gasherdes und legte sich auf den Boden,
    um zu sterben. Als man am nächsten Morgen in die Wohnung kam, waren beide,
    Mutter und Sohn, bereits tot.“ Stekel.

    Hervortreten der gegengeschlechtlichen Gesehlechtsmerkmale bei Abstinenz,

    Im Journal of Americ. Ass. 1912, Nr. 2 macht Baum darauf aufmerksam,
    dass bei abstinenten Frauen häufig Haarwachstum im Gesicht auftrete. Er beobach-
    tete einen solchen Fall, in dem nach Aufgeben der Abstinenz die Haare verschwanden
    und wieder auftraten, sobald die betreffende Frau gezwungen war, längere Zeit
    abstinent zu leben. Es können sogar die Haupthaare ausfallen, während im Gesichte
    eine reichliche Haarbildung eintritt. Diese Beobachtung ist sehr interessant und be-
    weist, wie stark die organischen Einflüsse beim Hervortreten der gegengeschlecht-
    lichen Merkmale sein können. Ich habe sehr häufig bei abstinenten Jiinglingen Fehlen
    des Bartwuchses konstatieren können, Wenn dann die Abstinenz aufgegeben wurde,
    so trat — oft in ziemlich hohem Alter — eine auffallende Verstärkung des Bart-
    wuchses zutage. Stekel.

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    Varia. 361

    Jacobsen, Frau Fons. Tn dieser Novelle ist die Wirkung, welche die beabsich-
    tigte Wiederverheiratung der Mutter auf ihre erwachsenen Kinder ausübt, mit ausser-
    ordentlicher Feinheit dargestellt.

    „Ich will mich wieder verheiraten“, sagte sie und erzählte ihnen, wie sie
    Thorbrógger geliebt, bevor sie ihren Vater gekannt; wie sie von ihm getrennt worden,
    und wie sie sich jetzt wiedergefunden.

    Ellinor weinte, aber Tage hatte sich von seinem Platz erhoben, gänzlich ver-
    wirrt; dann war er zu ihr getreten, war vor ihr auf die Knie gesunken und hatte
    ihre Hand ergriffen, die er schluchzend, vor Bewegung halb erstickt, an seine Wangen
    drückte, in jedem seiner Züge eine unsägliche Zärtlichkeit, eine vollständige Rat-
    losigkeit.

    O, aber Mutter, geliebte Mutter! was haben wir dir denn getan, haben wir dich
    nicht immer geliebt, haben wir uns nicht, wenn wir dir nahe waren und wenn wir dir fern
    waren, nach dir gesehnt wie nach dem Besten, was wir auf der Welt besassen. Unseren
    Vater haben wir nicht anders gekannt als durch dich, du hast uns ihn lieben gelehrt, und
    wenn Ellinor und ich so viel voneinander halten, so ist es doch, weil du unermüdlich Tag
    für Tag dem einen gezeigt hast, was an dem anderen liebenswert war — und ist
    es nicht so mit jedem Menschen gewesen, dem wir nahe getreten sind, haben wir
    nicht alles von dir! Alles haben wir von dir, und wir beten dich an, Mutter,
    wenn du wüsstest . . . o, du weisst nicht, wie oft unsere Liebe zu dir
    sich sehnt, über alle Grenzen und Schranken hinauszugehen, zu dir,

    aber du wieder hast uns gelehrt, sie niederzuhalten, und wir wagen
    nie, dir so innig nahe zu kommen, wie wir so gern möchten. Und
    jetzt sagst du, dass du ganz von uns fort willst, uns ganz beiseite
    schieben! Aber das ist ja unmöglich; der es am bösesten auf der Welt mit uns
    meint, könnte uns nichts antun, das so fürchterlich wie dies — und du meinst es
    ja gut mit uns, wie ist es da möglich! Sag schnell, dass es nicht wahr, sag, es ist
    nicht wahr, Tage, es ist nicht wahr, Ellinor.“

    „Tage, Tage, komm doch zu dir und mach es dir und uns nicht so schwer!

    Tage stand auf.

    „Schwer!“ sagte er, „schwer, schwer, o wäre es nichts weiter als schwer, aber
    es ist ja fürchterlich, — unnatürlich; es ist um wahnsinvig darüber zu werden!
    Ahnst du auch wirklich, was du mir zu denken gegeben? Meine
    Mutter der Liebe eines fremden Mannes hingegeben, meine Mutter
    begehrt, umfangen und wieder umfangend, o, das sind Gedanken für
    einen Sohn, Gedanken schlimmer als der ärgste Hohn, — aber es ist
    unmöglich, es muss unmöglich sein, es muss, denn sollten die Bitten eines Sohnes
    nicht so viel Macht haben! Ellinor, sitz nicht dort und weine, komm und hilf mir
    Mutter bitten, dass sie Mitleid mit uns habe.“

    „Ich wollte, ich wäre tot,“ sagte Ellinor, „aber alles, was Tage sagt, ist wahr,
    Mutter, und es kann nimmermehr recht sein, dass du uns in unserem Alter
    einen Stiefvater gibst.“

    An jedem Tage, der hinging, vergassen die Kinder mehr und mehr, was die
    Mutter für sie gewesen, so wie Kinder nun einmal, wenn sie glauben, dass ihnen
    Unrecht geschehen, tausend Wohltaten über ein einziges Unrecht zu vergessen pflegen.

    Tage war der weichste von ihnen, aber auch zugleich der, welcher am tiefsten
    verletzt war, weil er derjenige, der am meisten geliebt hatte. Er hatte lange Nächte
    hindurch über die Mutter geweint, die er nicht behalten konnte wie er wollte, und
    es gab Zeiten, wo die Erinnerung an ihre Liebe zu ihm jedes andere Gefühl in seiner
    Brust übertäubte. Eines Tages war er auch zu ihr gegangen und hatte gebeten und
    gefleht, dass sie nur ihnen gehören möge, ihnen allein und keinem anderen, und er

    Zentralblatt für Psychoanalyse. III*/. 24

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    362 Varia.

    hatte ein Nein bekommen. Und dieses Nein hatte ihn hart gemacht und kalt, eine
    Kälte, vor der er sich im Anfang gefürchtet, weil zugleich mit ihr eine so fürchter-
    liche Leere gekommen war.

    Mit Ellinor war es anders; sie hatte es seltsamerweise meist wie ein Unrecht
    gegen ihren verstorbenen Vater empfunden, und sie begann eine Fetischanbetung mit
    diesem Vater, an den sie sich nur dunkel erinnerte, und schuf ihn sich so lebendig,
    indem sie sich in alles vertiefte, was sie von ihm gehört; sie fragte Kastager nach
    ihm, und Tage, und küsste jeden Abend und jeden Morgen ein Medaillonporträt, das
    sie von ihm hatte, und sehnte sich mit hysterischem Verlangen nach Briefen von
    ihm, die sie zu Hause gelassen, und nach Dingen, die ihm gehört hatten.

    Tn demselben Verhältnis wie der Vater auf diese Weise stieg, sank die Mutter.
    Dass diese sich in einen Mann verliebt hatte, schadete ihr weniger in den Augen
    der Tochter; sie war nicht mehr die Mutter, die Unfehlbare, die.Klügste, Beste,
    Schönste, sie war eine Frau wie andere, nicht ganz so, aber gerade, weil sie es
    nicht ganz war, eine, die man kritisieren und beurteilen, an der man Schwächen und
    Fehler finden konnte.“

    Beachtenswert ist, dass die Tochter zu gleicher Zeit an einer unerwiderten
    Liebe leidet und der Sohn sich gerade verlobt hat. Dadurch wird die Hinwendung
    der Tochter zum Vater weiterhin motiviert und die Empórung des Sohnes über die
    Untreue der Mutter erhält einen Teil ibres Gewichtes aus dem verdrängten Bewusst-
    ein seiner eigenen Abwendung. Dr. Else. Voigtländer.

    Die Photographie der Symbole.

    Im wissenschaftlichen Klub in Wien hielt Herr Major Darget aus Paris einen
    Vortrag über seine Entdeckung der V-Strahlen. Er trachtete aus Bildern den Nach-
    weis zu liefern, dass der menschliche Körper Strahlen aussende, die sich auf einer
    photographischen Platte leicht fixieren lassen. Nachdem er so Bilder des Zornes
    und der Angst vorgestellt hatte, zeigte er eine Photographie, die er erhalten hatte,
    nachdem er seiner schlafenden Gattin eine lichtempfindliche Platte um die Stirne
    gebunden hatte. Am Morgen nahm er die umgebundene Platte ab und entwickelte
    das Bild. Sein Erstaunen war sehr gross, als er einen grossen adlerartigen
    Vogel auf der Platte fand. Würde der Yorlrag nicht stellenweise einen kindischen
    Eindruck gemacht haben, man wäre versucht der „Academie des sciences“ dazu zu
    gratulieren, dass sie die Angaben des Kommandanten Darget von einem Komitee
    prüfen lässt, Wir finden es begreiflich, wenn wir in den Gedanken der schlafenden
    Frau phallische Symbole finden können. Jedenfalls ist die Sache interessant, mag
    es sich um einen ,Bluff* oder um Wahrheit handeln . . . .

    Bei dieser Gelegenheit möchte ich mitteilen, wie die Kenntnis der Traum-
    symbole die Ursache eines schweren ehelichen Zwistes werden kann. Ein Arzt hort
    seine Frau wührend der Nacht aus dem Traume rufen: ,Du lieber Gott, warum
    machst du die W arste so verschieden!“ Von Eifersucht gequält, weckt er
    seine Frau und macht ihr bittere Vorwürfe, beschuldigt sie sogar der Untreue. Ich
    habe Mühe, ihn zu überzeugen, dass gerade die treuen Frauen am leichtesten auf
    vergleichende Gedanken kommen können. Solche Vorkommnisse machen die Angst
    der Neurotiker verständlich, im Traume ihre geheimen Gedanken zu verraten, Diese
    Angst wirkt als stärkster Widerstand gegen die Hypnose, welche bei Phobien nie-
    mals gelingt. Stekel.

    Ein schönes Beispiel von Versprechen.
    Ich erkläre einem Arzte, der bei mir in Behandlung steht, den Unterschied
    zwischen aktiver und passiver Kriminalität. Die Analyse lässt vermuten, er habe
    seinen Geschwistern den Tod gewünscht, um der einzige Erbe eines betrüchilichen

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    Varia. 363

    Vermögens zu werden. Die passive Kriminalität tobe sich in Todeswünschen aus,
    in denen das Schicksal die Rolle des Befreiers spiele. Ein Automobil überfährt den
    Rivalen, Man ist befreit und doch sehuldfrei, Auch eine Art Lust ohne Schuld!
    Der Analysan erinnert sich nicht an solche passive kriminelle Wünsche. Sein
    nächster Einfall bezieht sich auf den Wunsch, einem Erben sein Vermögen zu iiber-
    geben. Er erzählt die Geschichte einer beiderseitigen Epidydemitis und sagt
    zweimal Epidemitis. Ich mache ihn auf das Versprechen aufmerksam und er
    gesteht, er habe wiederholt den Gedanken gehabt, seine Geschwister mögen bei einer
    Epidemie alle hinweggerafft werden, so dass das Vermögen an ibn fallen müsste,
    Dr. W. B.

    Eine Symptomhandlung und ihre Erklirung.

    Derselbe Patient zeigte mir am vorhergehenden Tage eine Serviette, die er
    im Kaffechause eingesteckt hatte und meinte, die Psychoanalyse habe ihn ‏ספ‎ auf-
    gewühlt, dass er nun zum Diebe werden müsse. Sie habe die schlummernden,
    ewig begrabenen Instinkte in ihm geweckt. Er ist an diesem Tage im heftigsten
    Widerstand, ist um eine Viertelstunde zu spat gekommen, meint, er habe nichts zu
    berichten, er sei über die Krankheit des jungen Zaren so furchtbar aufgeregt. Ob
    nicht ein Attentat vorliege? Da fällt ihm plötzlich ein, als ich ihn aufmerksam
    mache, dass diese Erregung auf eine Phantasie seiner Kindheit zurückzugehen scheine :
    Ich wurde in der Kindheit vergiftet. Ein Apotheker gab mir Lysol statt Kindermeth.
    Ich nahm nur einen halben Kaffeelöffel und spuckte ihn sofort aus. Dann wurden
    viele Ärzte gerufen, ich soll bewusstlos gelegen sein und war aufgegeben. Ich
    wurde auch von Kråmpfen hin- und hergeworfen. (Wahrscheinlich ein hysterischer
    Zustand.) Da es hoffnungslos war, liess meine Mutter einige fromme Männer rufen.
    Sie erklärten, in mir sei ein „Böser Geist“, der ausgetrieben werden müsse. Diesen
    bösen Geist nannten sie den ,Diebek“. Es gelang ihnen bald den bösen Geist
    auszutreiben und ich wurde vollkommen gesund. Merkwiirdigerweise habe ich keinerlei
    Narbe oder Striktur zuriickbehalten. Doch was hat diese Erzählung mit meinem
    Diebstahl zu tun? Nun antwortete ich: Sie wollten eben beweisen, dass der 。Dieb ek"
    noch in ihnen lebt und der jüdische Exorzismus ohne Erfolg geblieben ist . . .

    In der Kindheit trug sich der Kranke mit allerlei aktiven kriminellen Ideen gegen
    seine Brüder herum. Die Vergiftung stiess auf einen empfindlichen Komplex und
    löste so den hysterischen Anfall aus. * Dr. W. B.

    Zur Frage „Objektwahi, Inzestliebeść.

    Artur Schnitzler, das Vermächtnis, I. Akt. Emmy (spricht von ihier
    Tochter). „Einer wird sie mir doch wegnehmen, Hugo ist jedenfalls
    der Beste. Es ist merkwürdig, wie er mich manchmal an meinen
    armen Mann erinnert.‘ Einerseits liebt die Tochter ihren Vetter, der an ihren
    Vater erinnert, andererseits hat die Mutter auf ihren Neffen übertragen und ver-
    wendet, wie so häufig, diese Neigung, mit der sie sonsts nichts anzufangen wüsste,
    dazu, ihre Tochter, die sie innig liebt, glücklich zu machen und will auch den Ge-
    liebten um so mehr an sich fesseln. — 2. Ebenda: Franziska: „Wenn er nicht
    mein Bruder wire, hätte ich mich wahrscheinlich selbst in ihn verliebt.“ 一
    3. Ebenda. Franzika ist, was ganz unmotiviert scheint, mit dem höchst unsympathi-
    schen Dr. Schmid verlobt, den sie auch gar nicht liebt. Es fällt allgemein auf, dass
    er genau die Stimme ihres Vaters hat. Marcus.

    Zur infantilen Sexualitit. Prévost, Cousine Laura, Moers du Theatre p. 53.
    Pour tout homme de structure sentimentale, il y a un nom de femme, — un
    seul entre les vingt noms de maîtresses ou d'amies disparues, — qui résume et

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    364 Varia.

    définit l'Amour. Certaines fois c'est un nom de grande jeunefilleentre-
    vue lorsqwon était petit; elle vous prenait alors sur ses genoux,
    vous baisant au front ou a la jone, ignorant le trouble presque cruel

    qui agitait, tout près de son coeur, un coeur d'enfant...
    E. Marcus,

    Ein Fall, der zu denken gibt.

    Unter diesem Titel erzählt Staatsanwalt Dr. Feisenberger, Magdeburg, in
    H. Gross’ Archiv vom 15. V. 1912, wie zwei Damen in einem Geschäft als Ge-
    schenk für ihren Vater einen Spazierstock kaufen und ihn nach ihrer Wohnung
    schicken lassen. Auf dem Rückweg, etwa 1'/, Stunden nachdem sie das Geschäft
    verlassen haben, bemerkt die eine der Schwestern plötzlich, dass sie über den linken
    Unterarm einen Stock an seiner gebogenen Kriicke hängen hat. Sie entsinnt sich,
    dass sie ihn im Geschäft versuchsweise über den Arm gehängt hat. Die Damen gehen
    sofort zurück, um den Stock unter Entschuldigungen im Geschäft zurückzugeben,
    wo sein Fehlen noch gar nicht bemerkt worden ist. Dr. Feisenberger erörtert
    die verschiedenen Möglichkeiten, die dazu führen konnten, dass die Dame dieses
    Vorkommnisses wegen als Diebin verurteilt worden wire.

    Das Unbewusste, das ihr einen Ersatz für den Vater an den Arm wünschte,
    hätte ihr mit dieser symbolischen Wunscherfüllung tatsächlich einen sehr schlechten
    Dienst leisten können, Bezeichnenderweise war der mitgenommene Stock wesentlich
    billiger als der fiir den Vater gekaufte, denn der Ersatz fiir den Vater kann für sie
    offenbar im Wert dem Vater nicht gleichkommen.

    Bei den strafrechtlichen Erôrterungen über die Möglichkeit, dass solche Fille
    zur Verurteilung kämen, wire zu bedenken, dass das Unbewusste wahrscheinlich
    nie verfehlen wird, den gespielten Streich rechtzeitig „entdecken“ zu lassen, sofern
    es sich wie hier, bei der Wunscherfiillung nicht um den Besitz des Gegenstandes
    handelt, sondern nur um eine symbolische Darstellung durch denselben. Es besteht
    aber wohl die Möglichkeit, dass ein Gegenstand um seiner selbst willen unbewusst
    mitgenommen würde, Marg. Stegmann.

    Aus den Papieren eines Fragmentisten. Von Dr. Fritz Kolisch.

    Parallel zur Gleichung: Das neurotische Symbol: eine Manifestation der
    Verdrängung einer Vorstellung bzw. eines ganzen Komplexes, deren Erfüllung man
    so sehnlich herbeiwünscht wie die fromme Seele die Vereinigung mit Gott:

    „Jede Fratze zeugt für den Gott, den sie entstellt.“ Richard Dehmel.

    Die Dichtung, ein Wachtraum: Die Widerspiegelung sublimer Erleb-
    nisse im „Reich der Tiefe“ (Freude „Tiefenpsychologie* [Bleuler: Die Psych-
    analyse Freud's S. 3):

    ュ ー Was ist Gedicht?

    — Nicht Wirklichkeit, aber mehr als Wirklichkeit —

    nicht Traum, aber wache Träume . . ..

    — Und die Menschen glauben, dass wir Dichter nur spielen — finden und
    erfinden !* Strindberg: Ein Traumspiel.

    Adnex: ,Die Sprache, die Gebriuche, die Gesten, die Gedanken sind mehr
    oder minder versteckte Symbolismen* (Stekel „Die Sprache des Traumes“ S. 2):

    »Jede Nation hat ein cigenes Vorratshaus ihrer zu Sprachzeichen gewordenen
    Gedanken; dies ist ihre Nationalsprache, ihr Idiotikon; ein Vorrat, zu dem die Jahr-
    hunderte zugetragen; ein Vorrat, der freilich oft durch Raub und Beute Nachbarn
    bereichert, aber, so, wie er ist, doch eigentlich der Nation zugehórt, die ihn hat und
    allein nutzen kann, der Gedankenschatz eines ganzen Volkes. Ein Philolog der
    Nation, was konnte er nicht in ihren Zeichen durch ihn erklåren. Herder.

  • S.

    Varia. 365

    Konträrer Sexualakt des Intellekts: Die französische Sprache denkt
    sich das Entstehen eines Gedankens ‘als eine weibliche leidende Handlung. Sie
    spricht: ,Concevoir une idée (empfangen). Die deutsche Sprache hingegen als eine
    männliche tätige Handlung. Sie spricht: einen Gedanken erzeugen,

    „Blumensprache des Orients“: (ebd.)

    „Birne — Gib mir Hoffnung, schönste Dirne,“

    Die vage Ähnlichkeit einer Birne und des Uterus,

    „Aster — fliehe das Laster!“

    Die vielen Blumenblätter — Flucht vom Stempel oder Griffel.

    dorńę = Stern.

    „Malve — Salve!“

    Auf Grund des blossen Reimklanges die Blume, die die Begrüssung symboli-
    sieren soll (Intimere Assoziation unmúglich, weil es sich nur um ein einziges Wort
    handelt).

    ,Resede — Steh mir Rede!“

    Assonanz Re 一 . . . Re 一

    „Kirschen — Ich möchte vor Wut mit den Zähnen knirschen.“

    Die Abzupfung des Fleisches vom Kern mit den Zähnen. Zu Kirsche setzt
    man gewöhnlich das Attribut rot 一 rot vor Wut.

    „Gurke — Entferne Dich, Schurke!“

    Gurke Symbol für den Penis, der eine Konkurrenz bedeutet — Gurke in Be-
    zug mit der Nase gebracht, bedeutet eine hässlich geformte Nase. Konkurrenten
    und Leute mit hässlichen Nasen hält man sich gern fern vom Leibe,

    „Zwiebel — nimm es nicht übel.“

    Eine Wunscherfüllung: Zwiebel: Erreger von Winden, die für den anderen
    unangenehm sind.

    Aus „Das Bildnis des Dorian Gray“. Von Oskar Wilde. Leipzig-Reclam. S. 30.

    Lord Henry sagt zu Dorian: „Dennoch glaube ich, dass, wenn nur ein
    Mensch sein Leben ganz ausleben, jedem Gefühl Form, jedem Gedanken Ausdruck
    geben und jeden Traum verwirklichen. könnte — ich glaube, dass die Welt dann
    einen so frischen Antrieb zur Freudigkeit erfahren würde, dass wir darüber alle
    mittelalterlichen Leiden vergessen würden und zurückkehrten zu dem hellenischen
    Ideal — und vielleicht noch zu einem feineren und reicheren Ideal gelangen würden.
    Aber selbst der Tapferste unter uns fürchtet sich vor sich selbst. Die Selbstver-
    stümmelung der Barbaren lebt in der Selbstverleugung, die unser Leben verdirbt,
    weiter fort. Wir werden für unser Entsagen bestraft. Jede Begierde, die wir er-
    sticken, brütet fort in uns und vergiftet unsere Seele. Der Mensch sündigt und ist
    damit seiner Sünde ledig, denn jede Tat ist eine Art Reinigung. Nichts bleibt zurück,
    als die Erinnerung an eine Wonne oder die Wollust des Schmerzes, Die einzige
    Möglichkeit, sich von der Versuchung freizumachen, besteht darin, dass man sich ihr
    ergibt. Widerstehe und deine Seele wird krank werden von dem Verlangen nach
    den Dingen, die du dir selbst verboten hast und die widernatürliche Gesetze wider-
    natürlich und gesetzwidrig gemacht haben.

    (Mitgeteilt von Dr. B. Dattner, Wien.)