Varia B [März 1914] /1914
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    316 Aus Vereinen und Versammlungen.

    tionellen Zurückhaltung allzu geneigt war zu vernachlässigen. In Zukunft wird man
    die übertriebenen Verallgemeinerungen und die abenteuerlichen Symbolismen vergessen,
    welche heute diese Arbeiten zu charakterisieren und von anderen zu trennen scheinen ;
    und man wird sich nur daran erinnern, dass die Psychoanalyse der psychologischen
    Analyse gute Dienste geleistet hat.“

    Über Psychoanalyse.

    „Bericht von Doktor C. G. Jung, M.D.L.D. (Küsnach-Zürich) Resumé: In
    den verschiedenen Ausserungen der kindlichen Sexualentwicklung und den entsprechen-
    den Phantasien sehe ich nicht die wirkliche Ätiologie einer Neurose, Die Tatsache,
    dass sie in der Neurose iibertrieben und in den Vordergrund geriickt werden, ist eine
    Folge der Energieaufspeicherung oder Libido. Die psychischen Störungen in der
    Neurose und die Neurose selbst müssen als ein gelungener Anpassungsakt an-
    gesehen werden. Diese Formulierung kann gewisse Meinungen von Janet und
    Freud, dass eino Neurose — in einem gewissen Sinn — einen Selbstheilungsversuch
    bedeutet, versöhnen; das ist eine Auffassung, welche auf viele Krankheiten ange.
    wendet werden kann und auch angewendet wurde.

    Es ergibt sich hier die Frage, ob es hernach noch einen Sinn hat, alle Phan-
    tasien des Kranken durch Analyse an’s Tageslicht zu ziehen, wenn wir sie gegen-
    wårtig als nicht von åtiologischer Bedeutung ansehen. Die Psychoanalyse ist bis
    jetzt so vorgegangen, dass sie diese Phantasien aufgedeckt hat, weil sie dieselben
    als von åtiologischer Bedeutung angesehen hat. Meine abweichende Auffassung be-
    züglich der Neurosentheorie verändert nicht das psychoanalytische Verfahren. Die
    Technik bleibt die gleiche. Wir bilden uns nicht mehr ein, durch diesen Vorgang
    die Endwurzeln der Krankheiten blosszulegen, aber wir miissen die Phantasien des
    Kranken ans Tageslicht ziehen, weil die Energie, die der Kranke zu seiner Gesund-
    heit, d. h. zu seiner Anpassung benötigt, an Sexualphantasien gebunden ist.

    Mittels der Psychoanalyse werden wir das Band zwischen dem Bewussten
    und der Libido, dem Unbewussten, wieder herstellen. In dieser Weise werden wir
    diese unbewusste Libido unter die Leitung einer bewussten Absicht bringen. Durch
    dieses Mittel allein wird die gebrochene Energie auf die Vollendung der im Leben
    notwendigen Leistungen wieder anwendbar. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet,
    scheint eine wohlverstandene Psychoanalyse eine Aufgabe von hoher Sittlichkeit
    und von ungeheurem erzieherischen Werte,“ stud. med. M. R.

    Varia.
    Zur Psychologie der Schreibfehler.

    Alle Geschehnisse des Lebens gehorchen den Gesetzen, und nichts geschieht
    sinnlos und zufillig. Auch die Fehler, die wir beim Ab- und Nachschreiben begehen.
    sind keine Zufälligkeiten, sehr sie auch danach aussehen. Sie sind auch nicht An-
    zeichen eines mangelhaften Intellektes, da sie auch von den Gebildeten gemacht
    werden. Vielmehr werden sie durch einige wenige psychische Akte bedingt. Die
    Erkenntnis dieser Tatsache ist ja nicht neu, dennoch bleibt es ein grosses Verdienst
    Jakob Stolls, sie durch interessante Experimente, die er in Marbes 。 Fort-
    schritten der Psychologie“ soeben zusammenfassend veröffentlicht hat, in ein
    helleres Licht gesetzt zu haben. Der Untersucher liess eine Gruppe von Semina-

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    risten, also sprachlich und orthographisch durchgebildete Leute, vier vorgelegte
    Texte nachschreiben. Von diesen war der eine aus sinnlosen Silben zusammengesetzt,
    Es durfte nichts korrigiert und redigiert werden. Bei diesem Verfahren ergaben sich
    auf 44533 Silben 1308 Fehler, das sind 2,94 %. Dabei war die Qualität der Leistung
    annähernd die gleiche, ob es sich um langsam oder schnell Schreibende handelte,
    Die Schreibfehler bestanden nach der Stoll’schen Einteilung in Auslassungen, Zu-
    såtzen, Umstellungen von Worten oder Wortteilen und in Fälschungen, bei denen
    ein anderes Wort oder ein anderer Laut an Stelle des betreffenden Textes gesetzt
    wurde. Auslassungen und Fälschungen waren die häufigsten Fehler, Während je-
    doch in dem sinnvollen Text die 45% Auslassungen vor 35% Fälschungen standen,
    tibertrafen diese mit 53,5% die 25% Auslassungen im sinnlosen Texte. Was sind
    nun die Ursachen dieser Fehler? Zunächst rühren einige wenige Irrtümer von einer
    sogenannten reproduktiven Nebenwirkung her, auch Mischwirkung beim Versprechen
    genannt. Der Mechanismus ist der, dass zugleich mit der Auffassung des Textwortes
    ein ähnlich klingendes einfällt, das dann mit ersterem verschmolzen wird. So etwa,
    wenn aus der Vorlage Intuition durch Dazwischenkommen von Institution Instuition
    wird. Eine viel ausgiebigere Quelle fiir Schreibfehler stellt die Tendenz unserer
    Psyche dar, geläufigere Vorstellungen und Assoziationen an Stelle weniger geläufiger,
    seltenerer zu setzen, Die entstandenen Worte sind die sprachhäufigeren, wie aus
    dem Vergleiche im Hiufigkeitswúrterbuch festgestellt werden konnte, In 70% der
    Fehler handelte es sich hier um den Ersatz durch ein geläufigeres Wort. Dabei
    wurde in der Mehrzahl, besonders wenn eine Auslassung in Betracht kam, dasselbe
    Fehlwort niedergeschrieben, So war ein allgemeines Bestreben vorhanden, altertüm-
    lich klingende Worte zu modernisieren. Auch im sinnlosen Texte spielte die Ge-
    låufigkeit eine störende Rolle. Im ganzen wurden aus dem Motiv der Sprachgeläufig-
    keit von 1308 323 gemacht. Die Auslassungen aber, die in sinnvollen Texten am
    håufigsten vorkamen, haben aber noch einen anderen Grund in der Hemmung, die
    gleiche aufeinander folgende Elemente aufeinander ausiiben. Schon aus Memorier-
    übungen weiss man, dass sinnlose Silbenpaare um so schwerer eingeprägt und um
    so schlechter behalten wurden, je gleichartiger sie waren. Dieselben Verhältnisse
    lassen sich auch bei der Entstehung der Schreibfehler konstatieren. Bei diesen zeigt
    sich die Hemmung sowohl in einer Auslassung von Worten, Silben und Silbenteilen,
    als auch bei der Auslassung von Buchstabenteilen. So wird ein gleich oder ähnlich
    klingendes Wort, ein „Das“, welches auf ein „Dass“ folgt, ausgelassen; so wird
    statt „zuzugestehen* und statt „Wirklichkeit“ ,zugestehen“ und „Wirlichkeit* ge-
    schrieben. Durchgehend enthielt das Fehlwort immer weniger gleichartige Buch-
    staben als das Textwort. Auch nicht ganz gleiche, aber doch ähnliche Elemente
    zeigten Hemmung, wenn auch nicht in dem grossen Umfange. Die Ähnlichkeit kann
    als Ahnlichkeit des Schriftbildes — visuell — oder als des Klangbildes — akustisch
    auftreten. — Der allergrosste Anteil an der Entstehung der Falschleistungen rührt
    gewissermassen von dem Beharrungsvermägen der Seele her, einem Spezial-
    falle des Gesetzes der Trägheit. Jeder Wahrnehmung oder Vorstellung, die ins Be-
    wusstsein gelangt ist, wohnt die Tendenz inne, dort zu verharren. Dieses Beharren
    in einer Vorstellung kann beim Schreiben vorwirkend oder rückläufig sein.
    Letzteres ist uns geläufiger. Es tritt ein, wenn ein vorangegangener Wortteil
    akustisch oder ein Buchstabe visuell stark im Gedächtnis haftet. Auch die Móglich-
    keit ist gegeben, dass eine besonders. geläufige Bewegung des Armes, die einen
    Buchstaben produziert, sich zu ungunsten eines neuen und seltenen einschiebt und
    wiederholt. So wird ,konsekquent“ statt „konsequent“ geschrieben, oder in einem
    Satz statt „müssen Chinesen“ „müssen Chinessen“, Ein Beharren durch Vorwirkung
    stellt der Fall vor, wenn dominierende Buchstabencharaktere, die tiber und unter die
    Zentralblatt für Psychoanalyse, IV */*, 21

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    Zeile hinausragen, den Blick und das Interesse an sich ketten. Dann tauchen alle
    Formen der Fehler auf: Auslassungen, Umstellungen: gehlert statt gelehrt, Zusätze.
    Zunkunft; Fälschungen: „der Zur Zeit“. Stoll bezeichnet die grösste Zahl der Fehler
    in den Abschriften, nämlich 324 = 249, als aus der Beharrungstendenz heraus ent-
    standen, Dazu gesellen sich dann noch als grosse Gruppe die Fehler hinzu, deren
    Auftreten durch das Zusammenwirken zweier oder mehrerer Ursachen bedingt ist,
    oder deren eigentliche Ursache nicht ermittelt werden kann. Eine Abhängigkeit der
    gemachten. Schreibfehler von der Intelligenz der Versuchspersonen lässt sich
    nicht erweisen. Im Gegenteil, es waren die intelligentesten Seminaristen Stolls,
    die die meisten Fehler begingen. Die Fehler sind weder vom Zufall diktiert, noch
    durch Nichtwissen entstanden. Vielmehr enthüllt sich in ihnen der Typus der Per-
    sonlichkeit in der Richtung der visuellen, akustischen und motivischen Vorstellung.
    Normal geht wohl das Abschreiben so vor sich, dass zuerst die optische Vorstellung
    sich geltend macht, um beim Niederschreiben der Klangvorstellung oder der Sprach-
    bewegungsvorstellung Platz zu machen. Das Innere spricht das Wort vor. Aus
    dieser Erkenntnis lassen sich wohl praktische Folgerungen fiir die Didaktik des
    Orthographieunterrichtes ziehen. Eine lautreine, getreue Aussprache, die sich nach
    Möglichkeit dialektischer Fürbungen enthält, ist als Vorbedingung für richtiges
    Schreiben anzuseben. Dr. W. B.

    Analyse eines Erlebnisses,

    Patientin steigt in ihrem Hause die Treppe hinauf. Da kommt ibr ein
    Schlächtergeselle entgegen, der höflich grüssend an ihr voriibergeht. Sie antwortet
    nicht und hat ein starkes Gefühl des Hasses und Abscheus.

    Einige Tage vorher war sie Zeugin, wie ein Kind überfahren wurde. Eine
    Wut packte sie gegen den Kutscher, und im ersten Impuls wollte sie sich auch bei
    dem Schutzmann, der den Tatbestand feststellte, als Zeugin gegen den Kutscher
    notieren lassen. Doch wurde ihr noch rechtzeitig klar, dass sie gar nicht beobachtet
    hatte, ob er schuldig war. Sie drängte den Hass zurück, und die Erregung über den
    Anblick machte sich Luft in Weinkrämpfen, bei denen ihr ein gewisses Gefühl der
    Freude gar seltsam zum Bewusstsein kam. Nach der Begegnung auf der Treppe fiel
    ihr plötzlich ein, dass der Kutscher ein Schlåchtergeselle gewesen war.

    An zwei Punkten ist die Affektbesetzung so reichlich stark, wie es das Ereig-
    nis nicht erfordert. Diese sind:

    Das tiberfahrene Kind,

    der Kutscher.

    Das Kind ist ihr das Symbol des eigenen Genitale. Das wird überfahren,
    kommt unter die Råder. Die Patientin, die eine sichere Grossstädterin ist, kann in
    Zeiten пегубвег Abgespanntheit Jange Zeit am Strassenübergang warten, aus Angst,
    überfahren zu werden, selbst wenn gar keine Aussicht dazu vorhanden ist. Dann
    gesellt sich die Vorstellung hinzu, man könnte „fallen“ und dann überfahren werden.
    Die Symbolik ist klar. Die Angst ist der verdringte Wunsch, zu fallen, der Wunsch
    nach sexueller. Hingabe. Von Kindheit an war ihr oft gesagt worden: Du bist iiber-
    gefahren (verrückt). Das setzte sich in ihr fest und verband sich mit späteren Ein-
    drücken des Verriicktseins. Als sie als Kind den Sexualakt der Eltern belauschte,
    erschien ihr das als Wahnsinn. Ein junges Mädchen der Bekanntschaft wurde wahn-
    sinnig durch ein Liebeserlebnis. Da erlebte das Kind wieder die Verknüpfung, aus
    der ihm die ldentifizierung wurde: Liebe — Wahnsinn. Als erwachsenes Mädchen
    hatte sie viele Irrenhausphantasien. Die Angst vor dem Wahnsinn liess sie nicht

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    mehr los. Dahinter verbarg sich der Wunsch, wahnsinnig zu werden, denn Wahn-
    sinn war ihr ja identisch mit Liebe, war ihr das Bild rasender Leidenschaft.

    So ist ihr das überfahrene Kind Wunscherfüllung in übertragener Bedeutung.
    Sie ist übergefahren — wahnsinnig — voll rasender Leidenschaft, und das Kind, das
    ihr Genitale bedeutet, wird in Besitz genommen. .

    Wie erklären sich dann aber die sich loslösenden Affektmassen, die in Hass
    gegen den Kutscher bestehen?

    Auch das greift tief in die Kindheit zurück, Der Sexualakt der Eltern erschien
    ihr nicht nur als Wahnsinn, sondern auch als Roheit. Der bis dahin heissgeliebte Vater
    wurde ihr das Bild eines rohen Menschen, den sie zu hassen begann. „Sexualität —
    Roheit“, so identifizierte und fixierte es sich in ihrem Innern. Alles Sexuelle erregte
    Abscheu und Ekel. Es wurde so stark verdrängt, dass es nur symbolisch verkleidet
    ins Bewusstsein drang. Jeder Schlächter war dem Kinde das Bild der Roheit, un-
    bewusst die personifizierte Sexualität. Es fürchtete sich vor seinem langen Messer,
    das ihm das männliche Glied bedeutete. Es hasste ihn, weil er im blutigen Fleische
    wühlte, es hatte ein Grauen vor seiner blutbefleckten Schürze. Ein Kind verschwand
    spurlos, mit dem es öfters gespielt hatte. Es war eine Schlächtertochter. Man
    munkelte: Sollte ein Schliichtergeselle im Spiel sein? — Lustmord? Da war es
    wieder das Grausige, Geheimnisvolle. Lustmord? Was konnte das sein? Und
    immer wieder in Verbindung mit dem Schlächtergesellen. Die sexuelle Wissbegierde
    wurde verdrängt und äusserte sich nur negativ in Ekel und auf übertragenem Ge-
    biet. Das kraftvolle Mädchen bekam Ohnmachtsanfälle, wenn es einen Blutstropfen
    sah, auf den Anblick rohen Fleisches reagierte sie mit Erbrechen und das Messer
    spielte eine Rolle in zahllosen Phantasien. Als das Mädchen 20 Jahre alt war,
    fürchtete sie sich vor Einbrechern und legte nachts ein langes — Tranchiermesser
    ans Bett. Um diese Zeit wurde der Konflikt mit dem Vater unerträglich. Sie konnte
    die Liebesenttäuschung durch ihn nicht verwinden und rang hart um die Liebe zu
    ihm, die sich fast nur noch negativ in Hass äusserte. Da erschien sie öfter nachts
    an seinem Beit mit — dem langen Messer und stiess die Worte hervor: Du hast
    meine Seele ermordet, hier töte auch meinen Körper, Ich will hier nicht näher ein-
    gehen auf die Symbolik von Tod und Leben und auf die Inzestphantasien, sondern
    nur hinweisen auf die Fixierung: Liebe — Roheit. Den Glauben an sich, den
    Glauben an die Liebe hatte der verständnislose Vater in ihr ermordet. Gedanken
    wie diese: Er treibt mich auf die Strasse, er lässt mich achtlos unter die Räder
    kommen, liessen den Hass wachsen.

    Ein Mann begehrte in wilder, fast brutaler Weise ihren Körper. Sie reagierte
    natürlich mit Abscheu und Ekel. Da er sie lange verfolgte, so setzte sich endlich
    doch der verdrängte Wunsch durch. Sie sagte: Nimm einen Dolch und erstich
    mich. Die tiefere Symbolik ist der Wunsch, in Besitz genommen zu werden,
    indem der Dolch, das Messer wieder das männliche Glied‘ bedeutet. Jedoch
    hier liegt wohl mehr nur die Bedeutung nahe: So will ich denn die Liebe kennen
    lernen, aber Liebe ist ja Roheit — Lustmord, Sie war ganz erstaunt, als der Mann
    ihr sagte, dass ein Mord ihm keine Lust verschaffen würde. So war er nicht schlecht?
    Kein Schlächter? (Interessant ist hier auch die Identifizierung durch den Gleich-
    klang: Kein „schlechter“ — kein Schlichter.) So waren alle Männer Schlächter,
    denn die Roheit blieb bestehen. Roh hatte er sie begehrt, mit Gewalt sie nehmen
    wollen. Br nahm ihr den Glauben an alle Männer, Achtlos liessen sie die Frau
    unter die Räder kommen, liessen sie sie bluten. Das war die Sexualität, wie sie sie
    in der Kindheit erlebt hatte und nun wieder erlebte. Und alle Männer waren Schlächter,
    denn die Schlåchter waren ihr ja die personifizierte Sexualität, Sie erkrankte an
    einer heftigen Männerangst, ME

    21*

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    320 Varia.

    Das Mädchen sieht in dem Vorfall ein Bild ihrer ganzen, in Wirklichkeit und
    in der Phantasie erlebten Sexualität. Der Kutscher ist ihr das Symbol des Vaters,
    den sie hasst, da er sie in ihrer Liebe enttäuschte und ihr den Glauben an die Liebe
    nahm, indem er sie die Liebe als Roheit erleben liess, Der Kutscher bedeutet ihr
    auch der Mann, den sie hasst, da er ihr den Glauben an alle Männer nahm und sie
    auch die Liebe als Roheit erleben liess, Schliesslich bedeutet er ihr die personi-
    fizierte männliche Sexualität. Sie erlebt ihre Kindheitsphantasie: der Mann, ein
    Schlächter, lässt achtlos das weibliche Genitale unter die Rider kommen. Sie erlebt
    den Sexualakt so blutig und roh, wie sie ihn in der Phantasie oft erlebt hat. Sie
    reagiert mit Hass und Abscheu auf den Kutscher (den Vater, den begehrenden Mann,
    die Männer) und mit starker Erregung und Weinkrampf auf das Kind (das achtlos
    unter die Räder gekommene Genitale). Das seltsame Freudegefühl bei dem Wein-
    krampf zeigt uns die Wunscherfüllung des In-Besitz-genommen-werdens.

    Hedwig Schulze.

    Die Bedeutung der siebenjåhrigen Periode fiir das Vererbungsproblem.

    Dr. Hermann Swoboda hielt in der Abteilung fir Anthropologie einen
    interessanten Vortrag über dieses Thema.

    Dass die durch 7 teilbaren Lebensjahre des Menschen von besonderer Wichtig-
    keit sind, war schon den Pythagoräern bekannt. Man beobachtete, dass in ihnen
    die Entwicklung des Organismus ruckweise vor- oder zurückschreitet, und deshalb
    wurden sie in der älteren Medizin, welche an ihnen festhielt, Stufenjahre genannt.
    Diese Jahre haben nun aber eine weit grössere Bedeutung, als sich die kühnsten
    Zahlenspekulanten früherer Jahrhunderte träumen liessen, so vor allem, wie sich bei
    meinen eingehenden Untersuchungen herausgestellt hat, für die Vererbung. Das Ge-
    setz, auf welches ich gekommen bin, lautet in seiner allgemeinsten Formulierung:
    Jeder Mensch setzt die Ahnen fort, von denen er um ein Vielfaches von sieben
    Jahren im Alter absteht. Wie jedermann in seinem individuellen Dasein alle sieben
    Jahre eine Renaissance erlebt, so feiert er auch im selben Rhythmus eine Auf-
    erstehung in Nachkommen. Nach diesem Gesetze erklären sich vor allem die Ähn-
    lichkeitsbeziehungen zwischen Kindern und Eltern. Ein Kind, das der ganze Vater
    ist, stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit aus dessen ②⑧。 35., 42 usw. Lebensjahre,
    ein Kind, das die ganze Mutter ist, aus „Siebenjahren“ der Mutter. Bestätigungen
    sind leicht zu erbringen. Auch historische Beispiele gibt es in Menge; so sind, um
    einige anzuführen, die Philosophen Fichte und Herbart Ebenbilder ihrer Mütter in
    jeder Beziehung, in deren 21. Jahre geboren; der Dichter Björnson, seinem Vater
    zum Verwechseln ähnlich, in dessen 35. Jahre geboren, Manzoni im 49, Jahre des
    Vaters, Siegfried Wagner im 56. Richards. Ein schönes Beispiel für Vererbung ist
    Bismarck. Nach der Meinung aller Biographen lassen sich in Bismarck zwei Ele-
    mente erkennen, die von verschiedener Seite herzuleiten sind. Von den Junkern
    Bismarck hatte er die gewaltige Körperkonstitution, durch seine Mutter, Wilhelmine
    Mencken, die Ausläuferin eines Juristen- und Gelehrtengeschlechts, die hohen Geistes >
    gaben; die Liebe zur Natur, zum Land- und Forstleben, sowie das hohe Alter wird
    als drittes Element von Kekule von Stradonitz auf die Försterfamilie Boeckel zurück-
    geführt, welche zu den Ahnen von Bismarcks Mutter gehört. Als geistiger Vorfahre
    aber kommt vor allem in Betracht der mütterliche Grossvater Anastasius Ludwig
    Mencken, der Geheime Kabinettsrat Friedrich des Grossen, der es nur dank seiner
    grossen Fähigkeiten zu dieser hohen Stellung brachte und nach dem Urteile eines
    Historikers an noch grösseren Leistungen nur durch seine körperliche Schwäche ver-

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    hindert wurde, Was ihm fehlte, das kam also bei Bismarck von der väterlichen
    Seite hinzu. Bismarck war eine ausserordentlich glückliche und wertvolle Synthese
    aus den erwähnten zwei Elementen. Was nun aber diesen Fall für die Perioden-
    theorie so wichtig macht, ist folgendes: Bismarck ist ein Vielfaches von 7 Jahren
    nach den Ahnen geboren, aus denen er zusammengesetzt sein soll: 63 Jahre nach
    dem Kabinettsrat Mencken, 120 Jahre (Abweichung von 1 Jahr) nach dem Dragoner-
    oberst und 91 Jahre nach der Frau Forstmeister Boeckel auf Selchow. Und was
    besonders bemerkenswert ist: von den letzten vierzehn Ahnen vor Bismarck haben
    nur die erwähnten drei einen solchen Abstand. Es war ein glückliches Zusammen-
    treffen, aber vom Augenblicke des Elternbundes an kein zufälliges mehr. Man hätte
    auf Grund der Periodentheorie voraussagen können, welche Ahnen bei der Entstehung
    Bismarcks konkurrieren werden; allerdings nicht so sicher, wio diese Konkurrenz
    ausgehen, ob Bismarck nur einem einzigen dieser Ahnen nachgeraten, oder in welcher
    Art er aus ihnen gemischt sein würde, wer den Körper und wer den Geist beistellen
    würde. Hier versagt die Periodentheorie, wenigstens vorläufig. Die durch 7 teil-
    baren Lebensjahre sind diejenigen, in welchen jemand wirklich sich fortpflanzt. Wenn
    daher jemand mit einer vererblichen Krankheit oder einem Defekt behaftet ist, so
    wird er diese pathologischen Eigenschaften in seinen Siebenjahren weitervererben,
    eben als Bestandteil seiner Gesamtpersónlichkeit. Die Kinder eines Tuberkulösen
    aus seinem 28., 85. usw. Lebensjahre werden mit grosser Wahrscheinlichkeit auch
    tuberkulös werden, während umgekehrt, wenn etwa die Frau tuberkulös und der Mann
    gesund ist, nur die Kinder aus seinem 28,, 35. Lebensjahre Aussicht haben, gesund
    zu bleiben, vorausgesetzt, dass nicht der kranke Elternteil durchwegs dominiert.
    Dri WEB;
    Aphorismen über das Kind.

    In des Kindes Seele leuchten kristallene Testamente der Menschheit. Ein Kind
    ist darum wie eine Miniaturausgabe einer vollendeten Legende von allem Gewesenen
    und Gewordenen. Sein eines Händchen hält die Vergangenheit, das andero langt
    nach der Zukunft.

    Aufhören, kindlich zu sein, heisst: aus dem Paradies vertrieben werden. Nur
    ist das Flammenschwert des Erzengels zum — Federhalter geworden. Wer hat ohne
    heisse Schmerzen sein Kind nach dem ersten Schultage über die Fibel gebückt ge-
    sehen: diesem kleinen vom Spiel vertriebenen Engel mit verwirrtem Blick und der
    langsam steigenden Flut der Tränen im Auge?

    Kindlich zu sein, bedeutet: alle Werte umwerten können. Dem Kinde nur
    kann ein Stuhl zur Pferdebahn, ein alter Hut zur Krone werden. Es sind seine kleinen
    Phantasieflammen, die das kalte Eeben so warm machen.

    Wir können vielleicht vom Kinde ebensoviel lernen, wie ein kleiner Schelm
    von uns. In mehr als einem Sinne wird niemand wieder so klug, wie er als Kind
    war. Das Kind hat vor allem den Mut des Egoismus ohne Schuld, das ist: des
    Glückes ohne Reue.

    Wem die Kindersehnsucht das erwachte Bewusstsein überflutet, wie die See
    den Damm: der wird ein Genie. Genie sein heisst: Sehnsuchten der Kindheit wahr
    machen.

    Wie verblüffend tiefsinnig kann ein Kindermund plaudern! Als ich meinem
    Nichtchen vor Jahren den Tod ihrer Grossmutter mit stillen Worten begreiflich zu
    machen suchte, sagte diese kleine Prophetin einer ganz neuen Weltanschauung:
    „Weiss schon, Grossmama ist einfach zurückgeboren!“ So geschehen am 5. März 1905,

    Eltern sollten die frappierenden Fragen und die geplapperten Drolligkeiten
    ihrer Kinder sorgsam aufzeichnen und sie erst den Zwanzigjährigen überreichen,
    Man könnte daran mehr profitieren, als aus allen Philosophien zusammengenommen,

    Prof. Dr. Carl Ludwig Schleich.

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    322 Varia,

    Die Verpflichtung des Namens,

    Wir verdanken bekanntlich Stek 6 1 die ersten Mitteilungen über die Zusammen-
    hünge zwischen Beruf und Namen. Ich musste in den letzten Tagen daran denken,
    als ich die grandiose Mutterleibsphantasie las, die sich in dem Roman ,Der Tunnel*
    manifestiert. Und wie heisst der Autor, der sich immer unter der Erde bewegt?
    Kelllermann.

    Einen lustigen Beitrag zur determinierenden Kraft des Namens liefert folgende
    lustige Notiz, die in einem Tagesjournal zu lesen war.

    (Deutschlands Oberschaffner,) Unter diesem Titel veröffentlicht Peter
    Scher in der „Morgenpost“ die folgenden lustigen Verse:

    Der Oberschaffner Schmidt in Briefen (Westpreussen)
    wurde durch die Geburt des 30. Kindes erfreut.

    Dem Oberschaffner Schmidt in Briefen
    Sei dankbar dieses Lied geweiht,

    Denn keinen sah'n wir so wie diesen

    Zu stolzer Vaterschaft bereit.

    Er hat zu neunundzwanzig Kindern

    Jetzt noch das dreissigste erzielt,

    Und Deutschland kann es kaum verhindern;
    Dass Frankreich schon nach Schmidten schielt.

    Drum also, zwitschernd zu der Laute
    Besingt.man Vater Schmidt im Vers:
    Heil! Was ihn seinerseits erbaute
    Vermehrt zugleich die Kraft des Heers!

    Fürwahr, man müchte hier bemerken:

    Wer zeigt im schaffenden Beruf

    So wie Herr Schmidt mit seinen Werken,

    Dass ihn ein Gott zum Schaffner schuf? Dr WB.

    Ein Traumbild des Benvenuto Cellini.

    Als Cellini sehr schwer. krank war, tråumte er, ein alter weisshaariger
    Mann komme, um ihn in einem Nachen abzuholens Wie er die Augen öffnete, setzte
    sich der Traum als Halluzination fort, Er flehte seinen jungen Diener Felice an,
    ihn festzuhalten, da allein weiche der Alte. .. Seine Freunde meinten, er kónne
    Seinen Dante gut und verwiesen auf eine Stelle, in der der Tod als alter Führmann
    dargestellt wird. Sich an die Jugend zu klammern, um nicht zu sterben, entspricht,
    einem uralten Aberglauben, der noch heute im Volke lebt. Cellini liebte alle seine
    Diener und wühlte sich nur bildhübsche Burschen aus. Doch scheint ihm damals
    diese homosexuelle Triebkraft nie bewusst gewesen zu sein. Denn er spricht an
    einer Stelle seiner Memoiren von der Homosexualität als einer verabscheuungs-
    würdigen Ausschweifung. (Spüter wurde er wegen homosexueller Akte strenge be-
    straft.) - Derartige Traumbilder, die den Tod symbolisieren, sind bei Künstlern und
    Menschen von reger Phantasietütigkeit sehr häufig. Ich habe einige dieser Hallu-
    zinationen in meinem Buche ,Die Trüume der Dichter* mitgeteilt. Die Gabe zu
    halluzinieren, macht überhaupt einen Teil der künstlerischen Kraft aus. So sehen
    Cellini und seine Begleiter bei einer Zauberei Millionen von Teufeln, die um sie

  • S.

    Varia, 323

    herumtanzen. Ähnlich dürften die Erlebnisse der Spiritisten 一 so weit sie nicht
    Schwindel sind 一 aufzufassen sein. Massenhalluzinationen werden hervorgerufen
    durch die gemeinsame Erwartung wunderbarer Ereignisse. Stekel.

    Zur Psychologie des Referates.

    Das „Neurologische Zentralblatt“ bringt in Nr. 22, 1913 einen Bericht über
    die Jahresversammlung des Internationalen Vereins fiir medizinische Psychologie
    und Psychiatrie in Wien und erwähnt auch meine Diskussionsbemerkungen in einer
    mich låcherlich machenden entstellenden Darstellung. So findet sich der Satz: ,Herr
    Stekel hält sie (die Verdrängung!) fir etwas Ungedachtes, der Kranke will etwas
    nicht sehen, weil es für ihn ,unlustig* ist.“

    Wie lächerlich! Als ob die Menschen alle unlustigen Dinge nicht sehen
    wollten. Es sollte heissen: Aus Motiven der Unlust. Das ist aber nicht dasselbe.
    Durch solche Kleinigkeiten entwertet man einen Autor. Quod erat demonstrandum!

    Stekel.

    Nachtrag
    zu dem Aufsatz von Dr. В. A. Reddingius-Haag (Holland): „In welcher Richtung
    die unterrichteten Tiere noch geprüft werden müssen.“

    In der dritten Nummer der Mitteilungen der Gesellschaft fiir Tierpsychologie
    schreibt Dr. H. Haenel: „Man verlangte mit Recht Aufgaben, deren Lösung dem
    Fragesteller mit Sicherheit unbekannt war . . . . Am 9. September 4. Js. hatte ich
    nun bei einem neuen Besuche in Elberfeld Gelegenheit, diese Lücke in der Schlüssig-
    keit der bisherigen Beweise auszufüllen . . . . Herr Krall... ・ selbst war an
    dem Tage nach auswärts verreist. Ich liess mir also den Hengst Muhamed . . .
    vor das Tretbrett führen, schickte den Pfleger wieder fort . . . . und unterhielt mich
    mit dem Pferde völlig allein. Ich nahm einen Packen Kartonblätter,
    auf denen die Zahlen 1 bis 9 gross aufgemalt waren, mischte sie durcheinander,
    schrieb mit Kreide auf die Mitte der Wandtafel ein 十 -Zeichen und stellte dann,
    ohne hinzusehen, zwei auf’s Geradewohl aus dem Packen gezogene Zahlen zu
    beiden Seiten des -—-Zeichens gegen die Tafel.“ (Versuche.) „Ich mache aus dem
    + ein x.“ (Versuche.) „Zu diesen 12 richtig gelösten Aufgaben kamen nun noch
    7 ähnliche Aufgaben, die nicht richtig gelöst wurden.“

    Wer, wie Haenel, telepathische Hilfen mit Sicherheit ausschliessen will, hat
    mit der Arbeit von Dr. Naum Kotik!) zu rechnen. Man liest dort: „Angesichts
    dessen halte ich den Schluss für berechtigt, dass die Übertragung von Ge-
    sichtseindrücken von meinem Unterbewusstsein zu dem Lydias fast
    ohne jegliche Mitwirkung unseres Oberbewusstseins sich vollzieht.
    Um diesen Schluss auf seine Richtigkeit zu prüfen, stellte ich folgende Versuche
    an: Aus einem Päckchen in meiner Tasche untergebrachter Postkarten, deren Aus-
    wahl ich beständig erneuerte, langte ich die erste beste hervor und näherte sie ohne
    sie zu betrachten, d. h. ohne sie mit meinem Blick zu fixieren, für 2 bis 3 Sekunden
    meinen seitwärts gerichteten Augen, um sie sofort wieder in die Tasche zu stecken.
    Unter diesen Umständen kannte ich nicht im geringsten den Inhalt der Postkarte,
    die vor meinen Augen aufgetaucht war, — nichtsdestoweniger war in Lydias auto-

    り Dr. Naum Kotik: Die Emanation der psychophysischen Energie. (Berg-
    mann 1908.) pag. 71 u. 72.

  • S.

    324 Varia,

    matischer Antwort das Bild richtig beschrieben. Hier wurde demnach die Postkarte
    von meinem Unterbewusstsein gesehen, das sie ohne Mitwirkung meines Oberbe-
    wusstseins dem Unterbewusstsein Lydias übermittelte,“ .
    Haenel sagt weiter: „Jetzt schreibe ich eine vierte Wurzel an, die mir Krall
    am Abend vorher nebst einigen anderen aus einer Aufgabensammlung gegeben hatte,

    die Lösung dazu in verschlossenem Umschlag: 17890481. Muhamed schlägt ohne
    langes Besinnen 53.“

    Die Worte: — nebst einigen anderen 一 hiitten gesperrt gedruckt werden
    sollen, denn darauf kommt es an, wenn man z. B. daran denkt, was de Jong!)
    schreibt: ,Besonderes und berechtigtes Aufsehen erregten die Versuche, welche 1885
    und 1886 Pierre Janet und Gibert, zum Teil in Anwesenheit anderer hervor-
    ragender Forscher, wie Paul Janet, F. W. H. Meyers, A. T. Meyers, Ochoro-
    wicz, in Havre mit Md. В. anstellten. Bei diesen Experimenten, aus einer Ent-
    fernung von 1/1 bis ① englischer Meile, ist nicht nur die grosse Anzahl Treffer (19 von
    25 Proben), sondern auch der Umstand bemerkenswert, dass Md. B. auch gewöhnlich
    unterscheiden konnte, von wem sie beeinflusst wurde, und dass sie den Befehlen,
    die ihr wihrend des Somnabulismus aus der Entfernung durch den Experimentator
    gegeben wurden, Folge leistete."

    Versuche, wie der letztgenannte Haenels konnen also die telepathische
    (sensu strictiori) Übertragung ausschliessen. Es bleibt dann nur noch übrig, das
    mit der Telepathie eng zusammenhüngende Hellsehen auszuschliessen, womit u. a.
    die Fühigkeit, Briefe in geschlossenen Kuverts zu lesen gemeint ist. Darüber schreibt
    Kotik?): ,Derartige Fille sind bereits in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben
    worden, die einen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit nicht auftauchen lassen kónnen.
    Solche Fülle waren Gegenstand der Verhandlung in der Londoner Gesellschaft für
    psychische Forschungen: sodann nahmen in Paris Janet und Richet eine Reihe
    von Experimenten vor, die das Vorhandensein des Hellsehens bei einem jungen
    Mädchen bewiesen und in der Pariser Gesellschaft für physiologische Psychologie
    in den Jahren 1886--1888 mitgeteilt wurden. In der russischen wissenschaftlichen
    Literatur ist ein im höchsten Grade überzeugender und wertvoller Fall niedergelegt,
    der von Dr. A. Chowrin, Oberarzt der Irrenanstalt in Tambow, vortrefflich be-
    schrieben wurde . . . . Als ich nun?) meine Untersuchungen an Lydia W. anstellte,
    beschloss ich meine Voraussetzung betreffend die nahe Verwandtschaft zwischen den
    Erscheinungen des Hellsehéns und denen der Gedankenübertragung und die Identität
    der Energie, die bei diesen Erscheinungen die Hauptrolle spielt, nachzuprüfen. Vor allen
    Dingen hatte ich die Frage zu entscheiden, ob Lydia W. bei der geschilderten Ver-
    suchsanordnung den Inhalt verschlossener Briefe, die ich von ihr günzlich fremden
    Personen erhalten, mitzuteilen vermag. Um die Möglichkeit mentaler Suggestion
    vollständig auszuschliessen, nahm ich die Briefe von Personen, die Lydia gänzlich
    unbekannt waren, wobei auch ich natürlich den Inhalt der Briefe nicht kannte.*

    Diese Versuche gelangen, und sie gelangen auch, wenn Kotik den Briefbogen
    nicht Lydia in die Hand gab, sondern an das Ende eines durch das Schlüsselloch
    der geschlossenen Tür hindurchgehenden isolierten Drahtes anlegte, und Lydia in
    einem anderen Zimmer das andere ebenfalls entblósste Ende anfasste.

    Man bedenke wohl, dass man hier nicht die Wahrscheinlichkeit solchen Hell-
    sehens zu beurteilen hat, sondern dass es gilt, bei den Elberfelder Pferden telepathi-

    3) Dr. K. H. E. de Jong: Das antike Mysterienwesen. (Brill, Leiden 1908.)
    pag. 249.

    ?) 1. e. p. 80.

    3) 1. c. p. 88.

  • S.

    Varia. 325:

    sche oder hellseherische Hilfen auszuschliessen, und dass man, in Unkenntnis des
    wirklichen Geschehens, nicht sagen kann, dass Muhamed deshalb nicht hellsehen
    konnte, weil er keinen Draht umfasste, der ihn mit dem geschlossenen Umschlag
    Krall's verband,

    Hat also Haenel mit seinen Versuchen die Selbstståndigkeit der pferdlichen
    Denkleistungen — auch wo dieselbe uns unbegreiflich bleibt, wie bei den sofortigen
    Lösungen der vierten Wurzeln — wahrscheinlicher gemacht, ich bleibe dabei, dass,
    um sicher zu gehen, man die Fragen in unberechenbarer Weise durch eine Maschine
    stellen lassen muss. Dr. Redingius.

    Berichtigung.

    In unseren letzten Kongressbericht haben sich einige Irrtümer eingeschlichen,
    was ja bei der Fülle des Materials nicht anders möglich ist. Dr. v. Hattingberg
    ersucht uns um Aufnahme folgender zwei Berichtigungen:

    Berichtigung I.

    Zur Psychologie des kindlichen Eigensinns.
    Dr. von Hattingberg — München.

    Eigensinn als Mechanismus ist eine typische Verhaltensweise, keine genetische,
    sondern nur eine Einheit für eine Psychologie von aussen,

    Das Verhalten des Eigensinnigen ist nur ihm scheinbar auf die Realisierung
    eigener Wunschziele oder die Nichterfüllung der Forderung des Anderen gerichtet.
    In Wirklichkeit kommen ihm unbewusst, daher unkontrolliert von seinem Intellekt
    andere Tendenzen zur Geltung und fixieren ihn in seiner Haltung, selbst wenn das
    nachteilige Folgen hat.

    Die Organisation des eigenen Ichs ist beim Eigensinnigen mangelhaft; Eigen-
    sinn ist ein Anpassungsfehler und verliert sich deshalb oft mit dem Heranreifen
    der Persönlichkeit.

    Die individuelle Motivierung des Eigensinns ist ausserordentlich mannigfaltig
    und oft mehrfach determiniert. "Trotzdem ist eine Gruppierung nach Typen möglich,
    die zwar oft untereinander kombiniert vorkommen, deren Unterscheidung jedoch das
    psychologische Verständnis sowohl des gesamten Phänomens wie des Einzelfalles
    wesentlich erleichtert.

    Bei dem vorwiegend aktiven Eigensinn wird der Inhalt des schon primår
    vorhandenen eigenen Wollens nach dem Entschluss zum Scheinziel. Es wird deshalb
    am Entschluss festgehalten, weil das Umwollen, die Aufgabe des Entschlusses die
    Schätzung der Umwelt und damit die Selbstschätzung zu gefährden scheint.

    Beim reaktiven Eigensinn erzeugt erst die Forderung von aussen eine
    Orientierung gegen dieses Soll, die auch hier dazu dient, andere fast immer unbe-
    wusste Tendenzen zur Geltung zu bringen,

    Diese können sein feindlich aggressive beim Trotz, Herrschtriebe, ein Bedürfnis
    des Selbstschutzes — die Furcht vor der eigenen Suggestibilität, aber auch Liebes-
    tendenzen, manchmal sogar masochistische etc.

    Der wesentlich passive Eigensinn, der sehr oft mit dem reaktiven kombi-
    niert auftritt, kommt dann zustande, wenn die Angstlust die Ursache ist, dass die
    eigensinnige Situation nicht aufgegeben wird.

  • S.

    326 Varia.

    Die Angstlust entsteht bei disponierten Personen, wenn über einen konsti-
    tutionell begründeten, wohl physiologischen Zusammenhang die ängstliche eine meist
    subliminale sexuelle Erregung mit auslöst und mit ihr zu einem Mischaffekt verschmilzt,

    Die einzelnen Eigensinnstypen können auch Äusserungsformen des eigen-
    sinnigen Charakters darstellen, der fiir eine dynamische Betrachtungsweise eine
    genetische Einheit sein kann.

    Aus einer primären Schwäche des Persönlichkeitsgefühls entsteht ein unab-
    lüssiges Ringen um den „eigenen Sinn“, der stets gefährdet erscheint von einer als
    übermächtig empfundenen Umwelt. Ihr gegenüber müssen deshalb immer wieder
    von neuem die Ichgrenzen festgelegt und gewahrt werden.

    Berichtigung IL

    Zu 8. 203. Frage, ob Verdrängung existiert. ^

    Vogt (nicht Hattingberg) leugnet die Verdringung und behauptet, die
    Hysterischen litten an „Dysamnesieen*. (Ähnlich klingt Freud's Wort: sie leiden
    an. Reminiszenzen).

    Vogt meint weiter, wenn die Verdrängung schon vorkomme, dann könne sie
    deshalb nicht das pathogene Moment sein.

    Zu S. 205. Hattingberg wendet sich gegen Franks Auffassung der Affekte
    als Manifestationen spezifischer Energien, die ganz analog zu elektrischer Energie bei
    der Verdrängung gleichsam gespeichert wurden.

    Diese Auffassung verträgt sich unter anderm auch nicht mit der Tatsache,
    dass viele Neurotiker ganz freie Zeiten haben, sowie damit, dass ohne Abreaktion
    z. B. bei der Analyse nach Freud dieselben Neurosen geheilt werden.

    Weiters spricht gegen die Heilwirkung speziell des Abreagierens im Sinne
    einer Entladung oder eines Abflusses gespeicherter Energie, die Tatsache, dass der
    psychotherapeuthische Effekt selbst bei sehr häufiger Wiederholung dieser Prozedur
    nach Franks eigener Angabe dann ausbleibt, wenn nicht nachher mit dem Patienten
    die Szene besprochen wurde.

    Frage: Aus welcher psychischen Sphäre wird verdrängt?
    Auch Material von Eindrücken, die nie bewusst geworden sınd, kann genau
    so wirken, wie wirklich „aus dem Bewusstsein verdrängtes.“

    Widerstand.

    Freud verwendet den Begriff zur Bezeichnung von 2 Tatbeständen, deren
    Identität nicht feststeht. Einmal, wenn sich der Patient gegen die Analyse des Er-
    forschtwerdens wirklich wehrt, halb bewusst, halb unbewusst — weil er z. B., wie
    Freud sagen würde, seinen Vater — Komplex auf den Analysator überträgt, anders
    aber, wenn ihm trotz grosser Bereitwilligkeit nichts einfällt, wenn er sich nicht an
    ein Traumdetail besinnen kann, das er vielleicht selbst zuvor zu identifizieren suchte.

    Zur Pathogenität der Verdrängung.

    Nach Freud wirkt‘ die unvollkommene Verdrängung pathogen. Das kann
    nur die halbe Wahrheit sein, denn trotz eklatanter unvollkommener Verdrängung
    (Freude an homosexuellen Bildern bei Ehemännern) braucht keinerlei Neurose zu
    entstehen.