S.
Varia. 509
Bossi: Meine Ansichten über die reflektorischen Psychopathien und
die Notwendigkeit der Verbesserung des Irrenwesens. (Wien. klin.
Wochenschr. Nr. 47. 1912.)Der durch seine letzten Arbeiten bekannte Autor wendet sich in diesem Artikel
an das deutsche Publikum und sucht seine bekannten Thesen zu beweisen.Wagner Jauregg: Bemerkungen zu dem vorstehenden Aufsatze des Herrn
Prof, Bossi (ibidem).Wagner wendet sich in scharfer Weise gegen Bossi, dessen Behauptungen
einen entschieden provokatorischen Charakter aufweisen. Er sagt u. a.:»Der Spezialist ist immer geneigt zu einer optimistischen Beurteilung seines
therapeutischen Handeln; auch der Gynäkologe. Und es wird daher gut sein, wenn
der Gynäkologe seine Behandlungserfolge bei Geisteskranken der kritischen Beur-
teilung des Psychiaters unterwirft, besonders, wenn er in das Gebiet der Psychiatrie
so wenig eingedrungen ist, wie das hei Herrn Prof. Bossi, nach seinem Aufsatze
zu urteilen, der Fall ist.Denn es gibt Psychosen, von denen der Satz gilt: „Die letzte Kur hilft.“ Und
es gibt viele Psychosen, in denen der Psychiater dem Gynäkologen mit Bestimmtheit
oder Wahrscheinlichkeit voraussagen kann, dass sie in Heilung übergehen werden,
ob sie gyn&kologisch behandelt werden oder nicht: und anderen, in denen er mit
Bestimmtheit oder Wahrscheinlichkeit voraussagen kann, dass sie rezidivieren werden,
ob nun eine behobene gynäkologische Erkrankung wieder auftritt oder nicht.Ich sage das nicht, etwa um zu bestreiten, dass man in manchen Fällen von
Geistesstórung durch einen gynäkologischen Eingriff einer kausalen Indikation ge-
nigen kann. Wenn aber Herr Prof. Bossi der Ansicht ist, dass man durch eine
häufigere Beachtung solcher Indikationen der Überfüllung der Irrenanstalten abhelfen
kønne, so macht er sich einer kolossalen Übertreibung schuldig. Diese Ansicht spricht
er aber wirklich aus. Nicht nur dass er, sogar an zwei Stellen, in einer anders
nicht verständlichen Weise auf die Überfüllung der Irrenanstalt Quarto dei Mille
bei Genua hinweist, die 1450 Irre beherbergt statt 650, fiir die sie gebaut ist. Er
sagt es an einer Stelle ganz ausdriicklich, dass der zuriickgebliebene Zustand der
Psychiatrie an diesem Ubelstande, der Überfüllung der Irrenanstalien nämlich, schuld ist.So kann nur jemand sprechen, der von Irrenwesen und Psychiatrie eine höchst
oberflichliche, laienhafte Kenntnis hat. Für den gilt ein altes, lateinisches Sprich-
wort: ,Sutor, ne supra crepidam.“ Stekel.Varia.
Die Macht erster Kindheitserinnerungen
und des ersten Milieus zeigt uns Ibsen in seiner Tragödie „Brand.“ Brand, dem Priester
der Eiskirche fehlt die Liebe, Selbst seinem Weibe, das er liebt, vermag er nicht
Liebe zu zeigen. Als Erbfehler, als Schuld drückt ihn dieser Mangel. Es fehlt ihm
an dem, woran es im Elternhause gebrach: er ist das Kind einer liebeleeren Ehe.
Die Umwelt seiner ersten Kindheit bestimmt seinen Charakter, ist sein Geschick
und wird sein Verhängnis. Die Mutter liebte den armen Kätnerssohn, nahm aber
gehorsam den alten Mann. Der erwartete Wohlstand bleibt aus. Da wird sie zur
Geizigen, die gierig alles zusammenkratzt, in der Angst, auch das noch zu verlieren,
wofür sie ihre Liebe hingab. Das Gold besitzt jetzt ihre Liebe, die sie Mann und
Kind verweigerte. Durch die trostlosen Verhiltnisse im Elternhause wird Brand,S.
510 Varia.
was er ist. Von einer entsetzlichen Kindheitserinnerung wird er nie frei. „Herbst-
abend wars, der Vater tot.” Einem gierigen Tiere gleich sah er die Mutter das
Sterbelager durchsuchen und den Leichnam roh hin- und herstossen, um verborgenes
Geld zu finden. In jener Stunde verlor sie die Liebe ihres Kindes, aber auch er
verlor damals für Lebenszeit die Fähigkeit warmer Menschenliebe. Auch im Peer
Gynt, dem Gegenstück zu Brand, zeigt uns Ibsen die Macht erster Kindheitserinnerungen
und die lebenbestimmende Kraft der Umwelt der ersten Kindheit. Peer Gynt ist der
typische Neurotiker, der ohne den Mut zum Verbrechen und ohne die Fähigkeit sich
von lastenden Gemiitsstimmungen durch künstlerische Ausprägung dieser Stimmungen
zu befreien, ewig hin- und herschwankt zwischen den zwei Seelen in seiner Brust,
der romantisch-phantastischen und der ganz materiell angelegten. Er wird daher
weder für Himmel noch Holle tauglich erfunden, sondern fiir den Löffel des Knopf-
giessers, um dort umgegossen, wieder ins Leben geschickt zu werden, damit er in
Heiligung oder Siinde zu seinem wahren Selbst komme. Wie fiir Brand, so war
auch fiir Peer Gynt das Milieu seiner ersten Kindheit von entscheidender Bedeutung
fiir sein ganzes Leben. Wir finden den kleinen Peer zwischen den Zechgenossen des
Vaters. Wie ein Kaiser erschien dem Knaben der reiche prassende Vater, der von
seinen Zechgenossen wie ein solcher geehrt wurde und der dem kleinen Peer, wenn
er um ein Stückchen Zinn zum Spielen bat, prahlerisch einen Silbertaler schenkte.
Da erwachte die Sehnsucht in dem Knaben, an Stelle des Vaters zu sein, der alles
besass: Reichtum, Gut und Ansehen und — seine Mutter. Eine innige Liebe verband
Mutter und Sohn. Die Zechgenossen des Vaters verhütscheln ihn, rühmen seine
Gaben und trinken auf sein Wohl.
Du bist vom Grossen gekommen
Und was Grosses wirst Du einmal.So wird im Kindergemiit die Meinung fixiert, er sei zu etwas Besonderem be-
stimmt. Als der Vater alles vertrunken und verspielt hat, ist auch das hohe An-
sehen bei den Leuten dahin. Da leitet die Mutter den Knaben an, aus der wirklichen
Welt in eine erdichtete zu fliehen. Der erwachsene Peer spielt noch immer die
Rolle des Knaben. Da niemand seine Anspriiche einer glinzenden Ausnahmenatur
anerkennt, greift er zu Erfindungen, um sich dadurch auszuzeichnen: er dichtet, er-
zählt Märchen, wie seine Mutter ihn gelehrt. Aber auch er selbst geht träumend
durch das Leben, durchdrungen davon, dass ihm eine Ausnahmestellung zukäme,
und dass seine Taten anders beurteilt werden müssten als die gewöhnlicher Sterb-
licher. Dieser Irrwahn seiner ersten Kindheit bestimmt sein ganzes Leben. Als die
Stimme seines Gewissens ihn mahnt an die Werke, die er nicht getan, an die Ge-
danken, die er nicht gedacht, da entschuldigt sich Peer: Gab mein Leben fort an einen.
Das ist die Kindheitsphantasie. Er geht durch das Leben als der heimliche Kaiser,
der sich zu etwas Besonderem bestimmt glaubt und sich iiber alle hoch erhaben
fühlt, und vieles bei sich als sein Recht anerkennt, was er bei anderen hart ver-
urteilen wiirde. Hedwig Schulze.Extrakt aus einem Vortrag über „Der nervôse Faktor in der Gesundheit
der Frau“, gehalten am 17. November 1913 von Dr. T. Claye Shaw im Institute
of Hygiene, London,„Frauen haben unzweifelhaft während der letzten Jahre Fortschritte in ihrer
physischen Entwicklung gemacht. Ist aber auch eine Wechselbeziehung zwischen
der geistigen und körperlichen Entwicklung zu verzeichnen? Der Frauentypus hat“sich geändert: die Frau hat härtere und runzligere Gesichtszüge erhalten; ihre
Gesichtsfarbe ist beeinflusst worden durch Sportspflege; sie ist unabhängiger; sie
hat weniger Achtung vor der Autorität, hat weniger Wirtschafts- und Familien-S.
Varia. 511
interessen und hat bis zu einem gewissen Grade ihre sexuelle Organisation in vielen
Fällen invertiert.Wenn, wie es der Fall zu sein scheint, der Wunsch vieler Frauen dahin geht,
das zu sein, was die Männer sind, und das zu tun, was die Männer ausführen, dann
lässt sich leicht eine Erklärung finden für den gegenwärtigen Schnitt der Frauen-
kleidung: kurz und sehr anschliessend, um die muskuløse Figur zur Schau zu stellen.
Ich halte es fiir meine Pflicht, auf diesen Irrtum hinzuweisen, der geeignet ist, das
Geheimnisvolle in der Frau zu beseitigen.Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Frauen jede Art Sport in ge-
wissem Sinne ausüben können; sie haben indes nicht die Stärke der Männer und
können nicht mit ihnen in Wettbewerb treten, es sei denn vielleicht beim Croquet-
and Ping-pong-Spiel! Aber in bezug auf grazióse Modifikation sind sie ausgezeichnet.Sport ist ein schlechter Heiratsmarkt; ein Mädchen, das dem Sport ergeben
ist, wird dem Manne allzu ähnlich und stellt ihren Charakter vor ihm zu sehr bloss,
Ein solches Mädchen lässt sich leicht erkennen an ihren plumpen, meist beschmutzten
Schuhen, ihrem bukolischen Gesichtsausdruck und an der athletischen Sorglosigkeit
in der Haltung.Geeignete Entwicklung der Geschlechtscharaktere ist notwendig fiir die volle
geistige Entwicklung, und jede Hemmung dieser Entwicklung kann zu verhängnis-
vollen körperlichen und geistigen Schädigungen führen, die zu einem Fluch werden
können, wenn nicht noch beizeiten vorgebeugt wird,Eine Frau, die glücklich verheiratet ist, erhält notwendigerweise einen tieferen
Rinblick ins Leben durch die Übung und Pflege von Altruismus, Patriotismus, Selbst-
verleugnung und Verantwortlichkeit. Vergleichen Sie das Leben einer Frau, die sich
von ihren natürlichen Pflichten absichtlich zurückzieht, mit dem einer ärmeren Frau,
die nie störend einwirkt auf den natürlichen Lebensplan und die deshalb auch nie
an ihren Nerven oder an Neurasthenie leidet! Vergessen Sie auch nicht die Gefahren,
die dem einzigen Kinde drohen, dessen Mutter der Natur Gewalt antun will. —Sind Frauen affektiver als Männer? Ich denke, die Frage muss bejahend be-
antwortet werden, weil die Frauen seit Generationen an Unterwiirfigkeit und Sehmeichelei
gewöhnt gewesen sind, und weil das dahin geführt hat, dass sie in Rivalitit gelebtund der Notorietät gehuldigt haben. Da Affektivität für die Verbreitung neuer Ideen -
und eigener Propaganda notwendig ist, so musste das Gefühl natürlich zunehmen ;
aber die Zunahme erfolgte nicht in einer gesunden Richtung, insofern als sie dazu
neigte, die Frauen härter, runzliger und mehr den Männern gleich zu machen,
während sie der zarten Gefühle weit mehr bedürfen Sind sie ebensogut in der
Kunst-Malerei, Architektur, Musik, Skulptur und Dichtkunst? Ja, ich denke, dass
sie grosse Möglichkeiten in dieser Richtung haben, aber dass ihnen bisher noch
nicht die gleichen Gelegenheiten geboten worden sind.Tennyson sagte: Die Sache der Frau ist die des Mannes — sie stehen und
fallen zusammen. Was ist die Sache der Frau? Bleiben Sie der Tatsache eingedenk,
dass Sie niemals Männer sein können, und dass Ihre wesentliche Funktion verschieden
und in der Hauptsache mit der Erziehung der Kinder verbunden ist. Die Ideale der
beiden Geschlechter sind verschieden: das Ideal des Mannes ist sein Beruf, das der
Frau ist die Familie. Versuchen Sie nicht zu streiken um deswillen, weil Sie
nicht in jeder Beziehung den gleichen kommerziellen Wert besitzen — fiir manche
Dinge haben Sie unzweifelhaft einen höheren Wert, aber wieder fir andere haben
Sie nicht dieselbe Stårke, die Sie gleich machen wiirde — Sie haben kein Monopol,
das eine Trotzeinstellungrechtfertigte, denn die Männer, rightly or wrongly,
denken, dass sie ihre eigenen Domänen haben, und wollen sie nicht aufgeben.
Spielen Sie die Rolle, die Ihnen zugedacht ist....* Alfred Appelt.S.
512 Varia.
Ein Traum von Goethe,
„Es träumte mir, ich landete mit einem ziemlich grossen Kahn an einer frucht-
baren, reich bewachsenen Insel, von der mir bewusst war, dass daselbst die schönsten
Fasanen zu haben seien. Auch handelte ich sogleich mit den Einwohnern um solches
Gefieder, welches sie auch sogleich häufig getötet herbeibrachten. Es waren wohl
Fasanen, wie aber der Traum alles umzubilden pflegt, so erblickte man lange farbig
beaugte Schweife, wie von Pfauen oder seltenen Paradiesvôgeln. Diese brachte man
mir schockweise ins Schiff, legle sie mit den Köpfen nach innen, so zierlich gehäuft,
dass die langen bunten Federschweife, nach aussen hüngend, im Sonnenglanz den
Lerrlichsten Schober bildeten, den man sich denken kann und zwar so reich, dass für
den Steuernden und die Rudernden kaum hinten und vorn geringe Räume verblieben,
So durchschnitten wir die ruhige Flut, und ich nannte mir indessen schon die Freunde,
denen ich von diesen bunten Schützen mitteilen wollte. Zuletzt in einem grossen
Hafen landend, verlor ich mich zwischen ungeheuer bemasteten Schiffen, wo ich von
Verdeck auf Verdeck stieg, um meinem kleinen Hahn einen sicheren Landungsplutz
zu suchen.An solchen Wahnbildern ergótzen wir uns, die, weil sie aus uns
selbst entspringen, wohl Analogie mit unserm übrigen Leben und
Schicksal haben müssen.* M. P.Arthur Symons’ Buch „The symbolist movement in literature“ (London 1908),
das in mehr als einer Hinsicht dem Psychoanalytiker fruchtbare Anregungen bietet,
finde ich in dem Aufsatz über Gérard de Nerval einige bemerkenswerte Stellen.
Verf. weist auf die stündige Wiederkehr einer Person (Adrienne) im ganzen Lebens-
werke Nervals hin, die später ganz zum Symbol wird. Die Bedeutung einer Schau-
spielerin (die auch in Nervals Gedanken- und Vorstellungskomplex eine bedeutende
Rolle spielt) im Liebesleben des Neurotikers scheint mir bisher noch nicht genüzend
gewürdigt zu sein. Die sonderbare Transfiguration des menschlichen Wesens im
Lichte der Rampe, in dem sich Wirklichkeit und Eingebildetes mit so phantastischer
Regelmässigkeit verbinden, hat und wird noch manchen imaginativen Geist aus der
Realität auf den schwanken Boden des Autismus ziehen. Die Bedingungen für eine
Katastrophe in menschlicher oder künstlerischer Hinsicht sind damit bereits gegeben.
— Die Stelle aus dem Roman ,Sylvie*, die mir leider nicht im Original zugüngig
war (die Übersetzung ins Deutsche ist aus dem Englischen), lautet: , Diese unbestimmte
und hoffnungslose Liebe zu einer Schauspielerin, welche mich Nacht für Nacht zur
Zeit der Aufführung ergriff, und die mich nur verliess, wenn der Schlaf sein Recht
forderte, hatte ihren Ursprung in der Erinnerung an Adrienne, die Blume der Finsternis,
die sich unter den bleichen Strahlen des Mondes entfaltete, an das blonde und rosige
Phantom, das nachts über das grüne Gras schwebte, umflossen von weissem Nebel...
Eine Nonne unter der Form einer Schauspielerin zu lieben! und wenn es dieselbe
wäre. Das genügt, um einen wahnsinnig zu machen!“Daun noch eine andere Stelle aus demselben Roman, die geeignet ist, auf die
Symbolbildung ein Licht zu werfen; sie steht aber auch mit obiger Stelle in engem
Zusammenhang :„Während ich schlief hatte ich einen wunderbaren Traum. Es war mir, als ob
die Gottheit vor mir erschien und sprach: ,lch bin dieselbe wie Mary, dieselbe
wie deine Mutter, und auch dieselbe, welche du, unter allen Formen,
immer geliebt hast. Und doch habe ich bei jeder deiner Heimsuchungen durch
mich eine der Masken fallen lassen, mit denen ich mein Antlitz verhülle, und bald
sollst du mich sehen, wie ich wirklich bin!“ Horst-Witt, Berlin.S.
Varia. 513
Ein instruktiver autoexperimenteller Traum.
Der Wunsch ist der unbestimmte Ausdruck der psychischen Zielstrebigkeit
— ein Pleonasmus. So verschieden der kindliche Wunsch von den Wünschen eines
Forschers ist, so verschieden sind die Triume — Neurosen — von Kindern und
Philosophen. In den Schriften von Tschuang-tse (Annales du musée Guimet XX,
261) wird von diesem grossen Taoisten berichtet; (fingierte Träume folgen den Ge-
setzen der wirklichen Traumbildung!)Tschuang-tse sah eines Tages — fast ohne dabei irgend etwas zu empfinden —
einen leeren Schädel, der ganz des Fleisches entblósst war, aber noch seine ganze
Form hatte. Er schlug ihn mit seinem Reitstocke und sprach zu ihm, als wollte er
an ihn eine Frage stellen: „Bist du ein reicher Mann gewesen, der die Gerechtigkeit
vergewaltigt hat, dass du dies geworden bist? Hast du den Untergang eines Staates
verursacht? Und bist du darum durch die Streitaxt gefallen? Hast du ein schünd-
liches Leben geführt und deinen Eltern, deiner Frau, deinen Kindern nur Schande
als Erbteil hinterlassen? Bist du vielleicht vor entsetzlicher Kälte oder Hunger ge-
storben, um in einen solchen Zustand zu geraten oder durch die natürliche Folge der
Zeit und des Lebensalters ?Nachdemer dies gesprochen hatte, nahmer den nackten Schädel,
legte ihn wie ein Kissen auf die Erde und legte sich darauf. (Vorbe-
reitung zum autoexperimentellen Traum.)Mitten in der Nacht erschien ihm der Schädel in einem Traume und sprach
zu ihm: ,Deine Worte sind die eines gebildeten Literaten, der die Kunst der Rede
versteht; aber alles, was du sagst, bezieht sich auf das Verhalten der Lebenden,
Nach dem Tode jedoch ist all dies ohne Erklärung. Möchtest du, dass ich dir die
Dinge des Todes erkläre?“„Gewiss“, erwiderte Tschuang-tse, worauf der Schädel wieder zu sprechen anhub :
„Unter den Toten gibt es keinen Herrscher und keine niedrigen Untertanen. Dort
gibt es keine vier Jahreszeiten. Das ganze Weltall formt die Jahreszeiten, Das
Vergnügen des grössten Herrschers der Welt, der auf dem Throne sitzt, können die
dieses Staates nicht übertreffen.Tschuang-tse aber glaubte seinen Worten nicht und entgegnete: „Wenn ich
den Herrn der Geschicke bestimmen wollte, dir das Leben wiederzugeben, dein Gebein
und dein Fleisch neu zu formen, dich in das Leben neben deine Eltern, neben deinem
Weib und deine Kinder und in deine Heimat zurückzuversetzen, würdest du nach all
dem, was du jetzt weisst, damit einverstanden sein?"In den weitgeöffneten Augenhöhlen lagen die Augen des Schädels tief ein-
gesunken, der die Stirne runzelte und antwortete: „Wie könnte ich auf diese Freunden
verzichten, die des Königs auf dem Throne würdig sind, und in das Elend der
Menschheit wiederkehren ?“* 5 *
Die Psychologie der Todessymbolik im Traum ist wenigstens zum Teil zu be.
gründen in dem „Wunsch“ nach Eiaweihung in die geheimnisvollen Freuden der
postmortalen Psyche, die schon im „irdischen“ Bestande der Seele Erlebnis werden
sollen. Das Mysterium des Todes wird durch die archatische Tempeleinweihung ge-
löst, sagt die philosophische Tradition, dadurch dass der Adept lernt, schon im Körper
zu sterben. Der einweihende Tod als Sjiva heisst der Gärtner der Natur,(Secret Doctrine I, 495). wie in modernen Träumen der Gärtner sich auch als
Todessymbol bewährt hat. Die Kathopanischad erzählt uns die Geschichte von
Nachiketas und seine Initiation in die heilige Wissenschaft durch Yama, den Tod,
das heisst durch ein Wesen, das von allen subjektiven DaseinszuständenS.
514 Varia.
zwischen zwei Erdenleben Kenntnis hat. (Meadond Chatts padhyaya. Upanischads
I, 36.) Vaivatsoato Manu, der legendarische Gründer der früharischen Mysterien wird
in der Secret Doctrine von H, P. Plawatsky der Sohn Yamas genannt (Il. 644). In
der Astrologie wird das achte Tierzeichen, Skorpion (23. Oktober bis 22. November)
das Haus des Todes und der Einweibung genannt, sowie Mars, der Herrscher von
Skorpion, der Herr des Todes in der archaischen Symbolik heisst. (Secret Doctrine
2, 410 usw.) Das Studium der Todessymbolik in der Mythologie, im Folklore und
in den Träumen kann uns über die Bedeutung der subjektiven Daseinszustiinde
zwischen zwei Erdenleben in der Haushaltung der irdischen Psyche belehren (A utismen,
Symbolgeist, Trance, Tagtriume, Telepatie, Psychometrie usw.) und das Problem der
psychischen Zielstrebigkeit leichter nachfihlbar machen, als es das starre naive
„Urmensch*dogma erlaubt. So kann erst das gewaltige, aber chaotische psychische
Material, das uns in den alten theosophischen Schriften, besonders in denen aus China,
Indien, Chaldäa und Ägypten stammenden, sowie ferner auch in der neuzeitlichen
Gnosis, Kabala und Alchemie überliefert ist, erst durch die strenge methodologische
Zucht der modernen Wissenschaften bewiiltigt werden, ohne dass wir die alten
königlichen Hierophanten, wie Echnaton, als moderne bleichsiichtige Neurotiker ab-
fertigen müssten. A.J. Resink.Geistiges und psychisches Hellsehen,
Die wissenschaftliche Bearbeitung der theosophischen Psychologie ist heute
erst ein frommer Wunsch. Neben dem theosophischen Begriffsmaterial wird man
die Psyche des Thesophen als Objekt zu untersuchen haben, um zu einer klaren
Vorstellung zu gelangen, wie die theosophische Weltanschauung zu lebendiger Kraft
verarbeitet wird. Die theosopische Literatur der älteren und der neueren Zeiten
stellt uns ein ungemein reichhaltiges Material von interessanten psychologischen
Daten zur Verfügung.Eine klassische Illustration zu der theosophischen Lehre von der geistigen
(aktiven) und psychischen (passiven) Clairvoyance gibt uns folgende Erzählung: aus
den Schriften Tschuang-tses (nach der Übersetzung von С. de Harlez in Annales
du musée Guimet XX 243/4).Im Reiche Tschengs gibt es einen Magier namens Tschi-Han, der das Leben
und den Tod aller Menschen kennt, die Dauer und den Fall, das Glick und das
Missgeschick, das lange und das kurze Leben und die Frist nach Jahren, Monaten
und Tagen wie ein Geist festsetzt. Wenn die Leute Tschengs ihn sehen, fliehen sie
aus Angst. Litse sah ihn einst und das Herz von Angst erfüllt, kehrte er um, um
dies seinem Herrn Hu-tse anzuzeigen und sprach zu diesem: „Ich glaubte, dass der
Tao eurer Herrlichkeit der höchste wire; nun aber sehe ich, dass es einen noch
höheren gibt. Ich habe dich nämlich noch nicht gelehrt, entgegnete Hu-tse, dass
das Åussere nicht das wirkliche Wesen ausmacht. Den Menschen dieser Welt, die
dem Tao sich widersetzen, muss man verschiedene Mittel besitzen, um ihnen das
Vertrauen einzuflússen. Führe diese Person herbei. damit ich mit ihr spreche. Am
nächsten Morgen kam Li-tse mit dem Magier. Als Hu-tse wogging, sprach Tschi-han
zu seinem Schüler: Dein Herr ist tot; er wird keine zehn Tage mehr leben. Ich
sehe in ihm ausserordentliche Zeichen der nassen Asche.Li-tse kehrte schluchzend heim und wiederholte diese Worte Hu-tse, der ihm
sagte: Ich habe mich ihm gezeigt wie die Erde ihr Ausseres zeigt, in voll-
kommener Ruhe, als gäbe es in ihr weder eine Kraft der Bewegung noch eine Kraft
derRuhe; dagegen habe ich ihn nicht mein Prinzip der inneren Handlung gezeigt. Komm
noch einmal mit ihm zu mur.S.
Lesefriichte. 515
Tag sahen sich diese Personen wieder. Beim Fortgehen sprach
Tschi-han zu Li-tse. Es ist gut fiir deinen Herrn, dass er mit mir zusammengekommen
ist; es geht ihm besser, er wird sich wieder erholen und wird leben. Jetzt habe ich
die Kraft gesehen, mit der er dem Ubel Widerstand leisten kann.Li-tse wiederholte diese Worte und Hu-tse antwortete: Ich habe mich diesem
Manne gezeigt, wie Mächte zwischen dem Himmel und der Erde, die sich nicht voll-
kommen verbergen; eine geheime Tugend ist aus meinen Fersen hervorgegangen,
und er hat meinen inneven Wert und meine innere Macht geschaut.Am dritten Tag wiederholte sich die gleiche Szene. Tschi-han sprach zu Li-tse:
Dein Herr ist nie der gleiche, und ich kann ihm nicht helfen; er möge sich bemühen
zu bleiben was er ist, dann werde ich im helfen können,Tschi-han kam abermals, aber diesmal entfloh er, ohne dass Li-tse ihn hätte
einholen können. Darauf sprach Hu-tse: Ich habe mich ihm gezeigt, wie mein erstes
Prinzip, ehe es sich getiussert hat. Ich war für ihn wie der leere Raum, unabhängig
von allem. Er konnte nicht wissen, wer ich war. Dies hat ihn vollkommen nieder-
geschlagen, dies hat ihn beschimt, so dass er die Flucht ergriffen hat. Da begriff
Li-tse, dass er noch nichts verstand; drei Jahre lang verwandte er seine ganze Auf-
merksamkeit auf die Pflege seines Hauses und seiner Schweine; dann kehrte er zur
Natur zurtick, er wurde wie ein Schatten, er wurde unerschiitterlich gegen alle Dinge
und lebte so fort bis zum Ende seiner Tage.“Das gewaltigste Beispiel speziell passiver Hellsichtigkeit ist in der modernen
philosophischen Literatur in den zahlreichen Schriften der Thesophen A. Besant,
C. W. Leadbeater und Dr. R. Steiner zu finden.Der „köinische Blick“ ist eine schwache Form passiver psychischer Clairvoyance.
Vielleicht muss man auch im künstlerischen Schaffen und im ,neurotischen Schau-
spieler“ Formen und Verirrungen der „aktiven Clairvoyance" sehen.Н. J. Resnik.
Am nächsten
Lesefriichte.
Im,Satyrikon* vonPetronius’) findet sich folgende Stelle: „Nach einigem
Hin- und Herreden über die glückliche Schiffsreise, sagte Lycas, sich an Tryphoena
wendend: „„Mir ist während meines Schlafes Priapus erschienen, der also herum-
redete: Wisse, dass dieser Encolpis, den du suchst, von mir auf dieses Schiff geführt.
ward.** — Die Dame schauerte zusammen: „„Man konnte meinen, dass wir zusammen
geschlafen haben. Denn mir schien die Statue Aphroditens, die ich in dem Tetrastylon
zu Baiae bemerkt habe, sagen zu wollen: In dem Schiffe von Lycas wirst du Giton
finden ** — „„Wisse dadurch, sagte Eumolpus, was fiir ein überaus góttlicher Mensch
Epikur war, der diese Art von Phantasmen mit sehr eleganter Redewendung verdammt,
indem er sagt:
Die Träume, welche unsere Geister mit ihren flüchtigen Schutten wiegen,
Nicht die Hallen der Götter, nicht Kräfte des Athers schicken
uns ihren Schein zu,
Sondern jeder lisst sie in sich entstehen. Denn, wenn wir durch den Schlaf
bezwungen,
Wenn unsere Glieder durch die Ruhe gestreckt sind, dann schweift der Gedanke
frei jeden Gewichts herum.
Was in der Sonne bestand, ersteht in der Finsternis wieder. Wer feste
Plåtze zerstortり Le Satyrikon de Pétrone. Trad. Laurent Tailbade. 一 „Les Maîtres du
Livre.“ George, Crès & Cie. Paris 1913. p. 223.
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