Victor Tausk † 1919-052/1928
  • S.

    277

    VICTOR TAUSK

    Erschien – gezeichnet von der „Redaktion“ – 
    in der „Internationalen Zeitschrift für Psycho-
    analyse“, Bd. V (1919), Heft 3.

    Zu den glücklicherweise nicht zahlreichen Opfern, die der Krieg in den 
    Reihen der Psychoanalytiker gefordert hat, muß man auch den ungewöhnlich 
    begabten Wiener Nervenarzt rechnen, der – noch ehe der Frieden zum 
    Abschluß gelangte — freiwillig aus dem Leben geschieden ist.

    Dr. Tausk, der erst im zweiundvierzigsten Lebensjahre stand, gehörte 
    seit mehr als einem Jahrzehnt dem engeren Kreise der Anhänger Freuds 
    an. Ursprünglich Jurist, war Dr. Tausk bereits längere Zeit als Richter in 
    Bosnien tätig, als er unter dem Eindruck schwerer persönlicher Erlebnisse 
    seine Laufbahn aufgab und sich der Journalistik zuwandte, zu der ihn seine 
    umfassende allgemeine Bildung besonders befähigte. Nachdem er längere 
    Zeit in Berlin journalistisch tätig gewesen war, kam er in derselben Eigen-
    schaft nach Wien, wo er die Psychoanalyse kennen lernte und bald beschloß, 
    sich ihr ganz zuzuwenden. Bereits als gereifter Mann und Familienvater 
    scheute er nicht vor den großen Schwierigkeiten und Opfern eines neuer-
    lichen Berufswechsels zurück, der eine mehrjährige Unterbrechung in seinem 
    Erwerbsleben bedeuten mußte. Sollte ihm das langwierige Studium der 
    Medizin doch nur ein Mittel sein, um die Psychoanalyse praktisch ausüben 
    zu können.

    Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges hatte Tausk das zweite Doktorat 
    erworben und etablierte sich als Nervenarzt in Wien, wo er nach verhältnis-
    mäßig kurzer Zeit im Begriffe war, sich eine ansehnliche Praxis zu schaffen, 
    in der er schöne Erfolge erzielte. Aus dieser Tätigkeit, die dem ehrgeizigen 
    jungen Arzt volle Befriedigung und Existenzmöglichkeit verhieß, wurde er 
    durch den Krieg plötzlich gewaltsam gerissen. Sofort zur aktiven Dienst-
    leistung einberufen hat Dr. Tausk, der bald zum Oberarzt avancierte, auf 

  • S.

    278

    den verschiedenen Kriegsschauplätzen im Norden und auf dem Balkan (zuletzt 
    in Belgrad) seine ärztlichen Pflichten mit Aufopferung erfüllt und dafür 
    auch offizielle Anerkennung geerntet. Es muß hier rühmend hervorgehoben 
    werden, daß Dr. Tausk während des Krieges mit Einsetzung seiner ganzen 
    Persönlichkeit und mit Zurücksetzung aller Rücksichten gegen die zahl-
    reichen Mißbräuche offen aufgetreten ist, die leider so viele Ärzte still-
    schweigend geduldet oder sogar mitverschuldet haben.

    Die mehrjährige aufreibende Felddienstleistung konnte an dem äußerst 
    gewissenhaften Menschen nicht ohne schwere seelische Schädigung vorüber-
    gehen. Schon auf dem letzten psychoanalytischen Kongreß im September 1918 
    in Budapest, der die Analytiker nach langen Jahren der Trennung wieder 
    zusammenführte, zeigte der seit Jahren körperlich Leidende Zeichen be-
    sonderer Gereiztheit.

    Als Dr. Tausk dann bald darauf, im Spätherbst vorigen Jahres, aus dem 
    Militärdienst schied und nach Wien zurückkehrte, stand der innerlich Er-
    schöpfte vor der schwierigen Aufgabe, sich zum drittenmal – diesmal unter 
    den ungünstigsten äußeren und inneren Verhältnissen – eine neue Existenz 
    zu gründen. Dazu kam, daß Dr. Tausk, der zwei herangewachsene Söhne 
    hinterläßt, denen er ein fürsorglicher Vater war, vor einer neuen Ehe-
    schließung stand. Den vielfachen Anforderungen, welche die harte Wirk-
    lichkeit an den Leidenden stellte, war er nun nicht mehr gewachsen. Am 
    Morgen des 3. Juli machte er seinem Leben ein Ende.

    Dr. Tausk, der seit dem Herbst 1909 Mitglied der Wiener Psycho-
    analytischen Vereinigung war, ist den Lesern dieser Zeitschrift durch vers-
    chiedene Beiträge bekannt, die sich durch scharfe Beobachtung, treffendes 
    Urteil und eine besondere Klarheit des Ausdrucks auszeichnen. In diesen 
    Arbeiten kommt deutlich die philosophische Schulung, die der Autor 
    glücklich mit den exakten Methoden der Naturwissenschaft zu verbinden 
    wußte, zum Ausdruck. Sein Bedürfnis nach philosophischer Fundierung 
    und erkenntnistheoretischer Klarheit zwang ihn, die so schwierigen Probleme 
    in ihrer ganzen Tiefe und umfassenden Bedeutung zu erfassen, aber auch 
    bewältigen zu wollen. In seinem ungestümen Forscherdrang ist er vielleicht 
    manchmal in dieser Richtung zu weit gegangen; vielleicht war es auch 
    noch nicht an der Zeit, der im Werden begriffenen Wissenschaft der Psycho-
    analyse eine allgemeinere Grundlage dieser Art zu geben. Die psychoana-
    lytische Betrachtung philosophischer Probleme, für die Tausk eine besondere 
    Begabung bewies, verspricht immer mehr fruchtbar zu werden; eine der 
    letzten Arbeiten des Verstorbenen, über die Psychoanalyse der Urteilsfunktion, 

  • S.

    279

    die – bisher noch unveröffentlicht – auf dem letzten psychoanalytischen 
    Kongreß in Budapest von ihm vorgetragen wurde, beweist diese Richtung 
    seines Interesses.

    Neben seiner philosophischen Begabung und Neigung zeigte Tausk auch 
    ganz hervorragende medizinisch‑psychologische Fähigkeiten und hatte 
    auch auf diesem Gebiete schöne Leistungen aufzuweisen. Seine klinische Tätig-
    keit, der wir wertvolle Untersuchungen über verschiedene Psychosen (Melan-
    cholie, Schizophrenie) verdanken, berechtigte zu den schönsten Hoffnungen 
    und gab ihm die Anwartschaft auf eine Dozentur, um die er in Bewerbung 
    stand.

    Ein ganz besonderes Verdienst um die Psychoanalyse hat sich Dr. Tausk
    der über eine glänzende Rednergabe verfügte, durch die Abhaltung von 
    Vortragskursen erworben, in denen er, mehrere Jahre hindurch, zahlreiche 
    Zuhörer beiderlei Geschlechtes in die Grundlagen und Probleme der Psycho-
    analyse einführte. Seine Zuhörer wußten die pädagogische Geschicklichkeit 
    und Klarheit seiner Vorträge ebenso zu bewundern wie die Tiefe, mit der 
    er einzelne Themata behandelte.

    Alle, die den Verstorbenen näher kannten, schätzten seinen lauteren 
    Charakter, seine Ehrlichkeit gegen sich und andere und seine vornehme 
    Natur, die ein Bestreben nach dem Vollendeten und Edlen auszeichnete. 
    Sein leidenschaftliches Temperament äußerte sich in scharfer, manchmal 
    überscharfer Kritik, die sich aber mit einer glänzenden Darstellungsgabe 
    verband. Diese persönlichen Eigenartigkeiten hatten für viele eine große 
    Anziehung, mögen aber auch manche abgestoßen haben. Keiner jedoch 
    konnte sich dem Eindruck entziehen, daß er einen bedeutenden Menschen 
    vor sich habe.

    Was ihm die Psychoanalyse – bis zum letzten Augenblick – bedeutet 
    hat, davon zeugen hinterlassene Briefe, in denen er sich rückhaltlos zu ihr 
    bekennt und die Hoffnung auf ihre Anerkennung in nicht allzu ferner 
    Zeit ausspricht. Der allzu früh unserer Wissenschaft und dem Wiener 
    Kreise Entrissene hat gewiß dazu beigetragen, daß dieses Ziel erreicht werde. 
    In der Geschichte der Psychoanalyse und ihrer ersten Kämpfe ist ihm 
    ein ehrenvolles Andenken sicher.