Zehnter Vortragsabend am 11. Dezember 1907. Methodik der Dichterpsychologie. Dr. Graf 1907-528/1907
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    Zehnter Vortragsabend

    am 11. Dez. 1907.

    Methodik der Dichterpsychologie

    Dr. Graf.

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    Diskussion:

    Adler findet in Grafs Ausführungen manches anregend und not-
    wendig;
    doch glaubt er nicht, dass sich vorläufig irgendwelche Regeln
    aufstellen lassen, nach denen man Dichterpsychologie treiben könnte.
    Es liessen sich 
    leicht weitere Hinweise anschließen, die ebenso wichtig
    wären. So wäre besonderes Gewicht auf das Jugendwerk, natürlich
    im Zusammenhang mit den anderen, zu legen. – Mit der Technik
    komme man auf gewisse Grundbedingungen der Konstitution, der
    Entwicklung, der Charakteranlage.

    Es würde sich vielleicht empfehlen ohne künstlerische Qualifikation,
    beschränkt auf die Freudsche Technik, sich ein Gerippe zu, machen,
    das die Seelenströmung im Dichter darstellt.

    Schwerdtner schließt sich den Ausführungen Grafs an. –
    Pathographien lassen sich von den wenigsten Dichtern, Psycho-
    analysen von den meisten schreiben. – Die Briefe der Künstler
    müsse man dabei zu deren Werken zählen. –

    Prof. Freud hat schon voriges Mal seine prinzipielle Überein-
    stimmung mit
    Graf hervorgehoben und will sie nun aus-
    führend
    nach einer Seite ergänzen.

    Gegenstand der Pathographie kann jeder Dichter werden, der
    Neigung zum Abnormen zeigt. Die Pathogr. ist jedoch nicht 
    imstande, etwas neues zu zeigen. Die Psychoanalyse dagegen gibt
    Auskünfte über den Schaffens
    prozeß. Die Psychoanalyse ver-
    dient einen Platz vor der Pathographie.

    Wenige Anhaltspunkte und Voraussetzungen zu solcher Dichter-
    psychoa
    nalyse sind gegeben:

    Die Beziehungen von Schöpfung und Leben des Dichters.
    1. Satz (aus dem Vortrag: Der Dichter und das Phantasieren): die 
    dichterische Produktion teilt im allgemeinen den

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    Mechanismus des Tagtraums; die „herrschenden Motive “ (Grafs)
    sind die den Dichter beherr-schenden „durchlaufenden“ (Freud)
    Wünsche.

    Hinzufügen könne er einen

    2. Satz: das Prinzip der Umordnung der Elemente; das be-
    sonders bedeutsam für die Analyse der Mythen u Sagen sei – 
    Verhältnis zwischen dem Inhalt des Bewussten und Unbewusten:
    die Elemente sind dieselben, die Anordnung ist
    mannigfach verändert.

    3. Satz: die Heraushebung der Typen nach Grafs Andeutg.

    4. Satz: besondere Betonung des Jugendwerks nach Adlers „ .

    mit diesem Kapitel könne man versuchen aus den Werken auf
    den Prozess des Künstlerischen Schaffens zu schließen. –

    Anfechtbar sei Grafs Satz: die dichterische Produktion gehe aus dem
    Verdrängten hervor. Er verwechsele dabei Unbewusstes und
    Verdrängtes, was doch nicht identisch sei:

    Für die typischen Motive sei die Gradiva ein schönes Beispiel.
    In den beiden Novellen Jensens, auf die Jung aufmerksam machte 
    (Der rote Schirm und Im gotischen Haus) handelt es sich um
    nahe Verwandte die geliebt werden: Cousine, Halbschwester.
    Die Grundlage der ganzen Sache ist also Jensens Verhältnis zu
    einer kleinen Jugendgespielin, vielleicht einer Schwester.
    Eskönnte etwa so zugegangen sein, dass der Dichter einen
    mächtigen Eindruck hatte, der einen unbefriedigten Wunsch
    hinterlassen hatte (etwa der Verlust dieser Gespielin). Das
    Relief,  hatte das ihn an die Schwess
    ter erinnert, hatte nun
    plötzlich als er es sah eine neueErweckung dieses Wunsches
    hervorgerufen. Auf dieses Erlebnis hat er dann in ver-
    schiedener
    Weise reagiert; man könnte die drei Novellen
    durch drei Formeln ersetzen. 

    1. heißt übersetzt: Ich kann niemand mehr gern haben

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    seit ich sie verloren habe (ginge etwa auf ein Erkalten in der Ehezurück).

    2. Wenn sie auch am Leben geblieben wäre, hatte ich sie doch
    verlieren müssen: als Frau einem anderen Mann übergeben. –
    Er weist ihnen hier nach, daß sie keine Geschwister sind. –

    3. Ich werde sie wiedersehen; im tröstlichen Sinne. Auf-
    erstehungsglaube.

    Diese Gespielin (die er sich vielleicht wegen Mangels einer Schwester
    in der Phantasie zur Schwester erhoben hat, oder die es vielleicht
    wirklich war) dürfte ein kränkliches Kind gewesen sein. Diese
    Krankheit etwa wie ein Spitzfuß) – wäre verklärend von der
    Phantasie verwischt worden. Auf dem Relief hätte er nun
    gesehen, wie diese Krankheit auch zu einem
    Vorzug umge-
    deutet werden könne.

    Diese Lösung sei vielleicht zu einfach; sie könne aber doch
    vielleicht auf einem komplizierteren Wege recht behalten.
    Es könnesich um sein Kind handeln etc. –

    Shakespeare sei ein günstiges Objekt der psychol. Methode,
    um
    so mehr, als Brandes sehr gut vorgearbeitet habe. Im Hamlet
    lägen die Beziehungen zu den persönlichen Umständen im
    Leben des Dichters klar zutage. Die Dichtung sei die Reaktion
    auf den Tod seines Vaters und Sohnes.

    Die Zeit der Verbitterung lasse den Verdacht auf eine luetische
    Infektion aufkommen (Timon!). – Macbeth zeige was
    ein Dichter aus einem Gelegenheitsgedicht zu machen vermöge.

    Wittels hält diesen Weg, Dichterbiographien zu schreiben, nicht für
    den Richtigen. Denn man wäre leicht versucht, dieses unge-
    schriebene Lexikon der unbewussten Bedeutungen, das man
    im Kopf habe, anzuwenden. Es wä- re lohnender mit den
    Freudschen Lehren an das Leben selbst heranzutreten; den
    Leuten die sexuelle Not plausibel zu machen. Die Dichterpsychologien
    nutzen im gegenwärtigen Augenblick weder den Freudschen Lehren
    noch den Leuten.

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    Sadger polemisiert gegen die von Graf angedeutete Methode.
    Er schreibe Pathographien aus rein medizinischem Interesse
    und nicht um ¿¿¿¿¿ den Prozeß des künstlerischen Schaffens
    aufzuklären; der übrigens auch durch die psychoanalytische
    Deutung nicht klar werde. Grafs Methode sei nichts als
    die uralte der Literarhistoriker, die Leben und Dichtung ver-
    glichen, vermehrt um den Schlüssel, den uns Freud an
    die Hand gegeben hat. – Wie schwer und gewagt es ist, aus den
    Werken auf das Leben zu schließen, habe er schon voriges Mal aus-
    geführt.

    Das Rätsel wieso das Unbewußte des Dichters auf einmal
    vorbewusst wird sei auch durch Grafs Methode nicht zu lösen.

    Nach dieser prinzipiellen Polemik macht Sadger noch
    einige Einwendungen gegen einzelne Behauptungen Grafs.
    So dass die Dichter zweiten Ranges häufiger pathologische Züge auf-
    weisen als die ersten Ranges; er führt zum Gegenbeweis Kleist, Grillparzer
    u. a. an.

    Er kommt zum Schluss, dass die rein psychoanalytische Methode
    weiter auch gar nichts erkläre.

    Federn möchte zu Satz 1 des Professors vorschlagend erwähnen, dass 
    das, was den Künstler in Vorteil vor den Tagträumer setzt, der
    Umstand ist, daß die künstlerischen Tagträume viel mehr die
    Art des Spiels beibehalten. – Das Ehrgeizmotiv liesse sich
    dabei vielleicht mit dem Spielmotiv in eine höhere Kategorie
    vereinigen: in die der Herrschsucht, des Machtwunsches. Der
    Dichter kann die Personen darstellen wie er will. – Was Graf er-
    höhte Lebensenergie nenne sei eine höhere Form der Fähigkeit,
    das Unbewusste des psychisch arbeiten zu lassen. Das
    Unbewusste arbeitet richtig (niemals falsch) auf einer
    höheren Stufe von Außenweltsentsprechung. Er geht der Entwicklung
    voran und ist durchaus keine Degenerations-Erscheinung.

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    Der Künstler ist niemals – wie Sadger meint – durch die Gesetze des künstlerischen
    Schaffens gehemmt: sie sind keine Hemmung, sondern ein Analogon
    seiner künstlerischen Fähigkeiten.

    Hitschmann bemerkt, man müsste zunächst versuchen bei den großen
    Dichtern das Spezifische jedes einzelnen herauszubekommen. – Dann wäre
    zu untersuchen, warum ein produktiver Mensch sich gerade in dieser
    künstlerischen Form äussert (Graf erklärt diese Frage durch die Theorie
    der erogenen Zonen gelöst). – Bei Shakespeare weise Brandes
    ähnliche Figuren zu gewissen Zeiten nach (periodisch) was be-
    achtenswert sei. –

    Rank hebt zunächst hervor, dass Graf unser aller Standpunkt, die
    wir anknüpfend an die Methode von Prof. Freud uns mit dem Seelen-
    leben der Dichter beschäftigen, präzisiert habe. Einzelne per-
    sönliche Meinungsver- schiedenheiten und Abweichungen seien
    ja von verschiedenen Seiten vorgebracht worden. –

    Es interessieren uns vorläufig gar nicht die Erlebnisse des
    Dichters (sein äußeres Leben), sondern ihre Verarbeitung (das
    Innenleben).

    Prof. Freud rügt die Hereinziehung des viel größeren, umfang-
    reicheren Problems, des Verhältnisses zwischen Bewusstem und Uba.
    durch Sadger. Dieses Problem könne nur die Theorie lösen.

    Graf wendet sich in seinem Schlußwort hauptsächlich
    gegen Sadgers Ausführungen, der allein ernstlich polemisiert
    habe. Er nimmt zunächst die Literarhistoriker in Schutz, die
    uns gleichsam die „Tagesreste“ bringen. Die Frage Sadgers, wie man
    aus den entstellten Werken die Psyche des Dichters erklären soll 
    erledige sich mit dem Hinweis, dass die Wissenschaft überhaupt
    nichts erklären solle; sondern sie solle sich bemühen lücken-
    lose Beschreibungen zu liefern. –