S.
Zur Einleitung.
Die Diskussionen in der „Wiener psychoanalytischen Vereinigung“
verfolgen niemals die Absicht, Gegensätze aufzuheben oder Entschei-
dungen zu gewinnen. Durch die gleichartige Grundauffassung der
nämlichsten Tatsachen zusammengehalten, getrauen sich die einzelnen
Redner der schärfsten Ausprägung ihrer individuellen Variationen ohne
Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit, den anders denkenden Hörer
zu ihrer Meinung zu bekehren. Es mag dabei viel vorbereiſtet und
vorbeigeführt werden; die Einwirkung ist doch, dass jeder Einzelne den
klarsten Eindruck von abweichenden Anschauungen empfangen und
selbst anderen vermittelt hat.Die Diskussion über Onanie, von der hier eigentlich nur Bruch-
stücke veröffentlicht werden, dauerte mehrere Monate und spielte sich
in der Weise ab, dass jeder Redner ein Referat erstattete, an welches
sich eine ausführliche Debatte anschloss. In diese Publikation sind
nur die Referate aufgenommen worden, nicht auch die Anregung
reichen Debatten, in denen die Gegensätze ausgesprochen und ver-
fochten wurden. Dies Heft hätte sonst einen Umfang annehmen
müssen, das seiner Verbreitung und Wirkung sicherlich im Wege
gestanden wäre.Die Wahl des Themas bedarf in unserer Zeit, in der endlich der
Versuch gemacht wird, auch die Probleme des menschlichen Sexual-
lebens wissenschaftlicher Ergründung zu unterziehen, keiner Entschul-
digung. Mehrfache Wiederholungen derselben Gedanken und Behaup-
tungen waren unvermeidlich; sie entsprechen ja Übereinstimmungen.
Die vielen Widersprüche zwischen den Auffassungen der Vortragenden
zu lösen konnte ebensowenig eine Aufgabe der Redaktion sein wie einS.
IV Zur Einleitung.
Versuch, sie zu verheimlichen. Wir hoffen, dass weder die Wieder-
holungen noch die Widersprüche das Interesse der Leser abstossen
werden.Unsere Absicht war diesmal zu zeigen, auf welche Wege die
Forschung über die Probleme der Onanie durch das Auftauchen der
psychoanalytischen Arbeitsweise gedrängt worden ist. Wieweit uns
diese Absicht gelungen ist, wird sich aus dem Beifall und vielleicht
noch deutlicher aus dem Tadel der Leser ergeben.Wien, im Sommer 1912.
Die Redaktion
der „Wiener psychoanalytischen Diskussionen“.
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