Zur psychoanalytischen Bewegung [Mai 1917] 1917-762/1917
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    Zur psychoanalytischen Bewegung.

    Am Montag den 26. März 1917 starb Dr. Rudolf Reitler, der der
    Wiener psychoanalytischen Vereinigung seit ihrer Begründung angehört hatte,
    erst 52 Jahre alt; schon drei Jahre vorher hatte die schwere Krankheit, der
    er nun erlegen ist, ihn aus seiner ärztlichen und wissenschaftlichen Tätigkeit
    gerissen. Wir verzeichnen darum ein Bild der Persönlichkeit des Verstorbenen
    zu entwerfen, dem Wesenszüge – unbehindeste Lauterkeit der Gesinnung und
    echte, aus dem Herzen geschöpfte Liebenswürdigkeit – jedem, der zu ihm
    in Beziehung trat, den unvergenglichen Eindruck einer höchst kultivierten
    und doch natürlich gebliebenen Menschlichkeit hinterließen. Doch die für einen
    einzelnen fast allzu große Zahl der Begabungen und Fähigkeiten, die er in
    sich vereinigte, dürfen wir nur kurz erwähnen: seine künstlerische Veran-
    lagung, die ihm noch in der letzten schweren Krankheit treu blieb, so daß
    er der sonst als Zeichner und Landschaftsphotograph nicht mehr als Dilet-
    tisches geleistet hatte, die mikroskopischen Zeichnungen zu den bakteriologi-
    schen Veröffentlichungen seines Sohnes trotz der zitternden Hand mit zartester
    Genauigkeit der Beobachtung und Linienführung ausführte, können wir er-
    kennen durch sein Klavierspiel und seine Liedkomposition, in welchen
    Tagen sich und seiner Umgebung Aufheiterung schenkte. Seine Beobachtungs-
    gabe wird wohl am besten durch den kleinen Aufsatz in dieser Nummer er-
    wiesen, der die scharfsinnige Aufdeckung einer Kette von Fehlhandlungen in
    einer Skizze Leonardo da Vincis zum Inhalt hat. Hoffentlich finden sich unter
    den Aufzeichnungen, die er in den leidensfreien Zwischenräumen seiner Krank-
    heit verfaßte, noch zur Veröffentlichung geeignete Fragmente.
    Die Seite seines Wesens, die vor allem anderen unserer Würdigung ver-
    dient, in der auch sein Charakter und seine Intellektualität am deutlichsten
    zum Ausdruck kam, ist seine Stellung zur **Psychoanalyse.** Als unsere
    Wissenschaft noch in den ersten Anfängen stand und in Fachkreisen besten-
    falls Hohn und Spott, meistens aber nur ein stummes, verächtliches Achsel-
    zucken hervorrief, hat Dr. Reitler die Richtigkeit ihrer Beobachtung, die
    Tragweite ihrer Grundsätze erkannt und sich entschlossen, ihr sein Leben
    ganz zu widmen. Er gehört zu jenen wenigen ersten Schülern, die sich um
    Prof. Freud sammelten und deren unerschrockenen wissenschaftlichen Eifer
    wir nächst dem Entdeckergenie Freuds am meisten für die Grundlegung der
    Prinzipien und Methode der Psychoanalyse zu Dank verpflichtet sind. Seit-
    dem er jenen ersten Schritt getan hatte, ist er in unwandelbarer Treue trotz
    aller Anfechtungen, denen die Psychoanalytiker in ihren ärztlichen Beruf
    sowohl, als als wissenschaftliche Forscher ausgesetzt waren, unbeirrt bis zu
    seinem Ende hat er den überraschenden inneren und äußeren Entwicklungs-
    gang unserer Wissenschaft mitgemacht, jeder Erweiterung, jedem wissenschaft-
    lichen Fortschritt willig folgend, ohne doch je einem ihrer Grundgedanken
    aufzugeben oder abzuschwächen. Die volle Bedeutung seiner Persönlichkeit
    kann in weiteren Kreisen wohl nie ganz gewürdigt werden: die therapeutischen
    Erfolge des Psychoanalytikers, die gerade bei ihm besonders groß waren,
     

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    Zur psychoanalytischen Bewegung.

    bleiben infolge der hier erübrigt geltenden ärztlichen Diskretion meistens im
    Dunkel und seine Veröffentlichungen, so inhaltlich und anregend sie auch sind,
    haben, wohl infolge seiner Bescheidenheit, der aller Vordrängen und Erfolg-
    haschen fremd war, nicht jene Zahl und jenen Umfang erreicht, der dem
    Gewicht seiner wissenschaftlichen Tätigkeit entspräche. Wir aber, die als seine
    langjährigen Mitarbeiter in den Vereinssitzungen seinen ungewöhnlichen Scharf-
    sinn, den so seltenen psychoanalytisch geschulten Blick, einer geborenen Psycho-
    logen, den unermüdlichen Forschungseifer, die Kombinationsgabe und das
    Gedächtnis, mit denen er über sein Beobachtungsmaterial verfügte, die geist-
    voll regelgefülltene und doch so liebenswürdig humorvolle Form seiner Rede,
    mit der er in die Debatte eingriff, kennen und würdigen gelernt haben, werden
    ihn nicht nur als lieben Freund und Kollegen, sondern als einen der ersten
    und bedeutendsten Vorkämpfer der Analyse im Gedächtnis bewahren und ihm
    den verdienten Ehrenplatz in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
    sichern.
     

    * * *

    Am 19. Mai 1917 starb in Amsterdam Dr. Johan Stärcke, Sekretär
    unserer neu gegründeten Ortsgruppe in Holland. Wir werden das verdienst-
    volle Wirken unseres verstorbenen Mitarbeiters in einem Nachruf würdigen
    und verweisen einstweilen nur auf den interessanten Aufsatz aus seiner Feder,
    der in Nr. 1 und 2 dieses Jahrganges erschienen ist.
     

    * * *

    Gründung einer neuen Ortsgruppe der internationalen psycho-
    analytischen Vereinigung in Holland.
    Die Schriftleitung erhielt folgendes Schreiben, das sie mit Genugtung
    über die durch den Krieg nicht völlig gehemmte internationale Ausbreitung
    der Psychoanalyse veröffentlicht:
     

    Amsterdam, 31. März 1917.

    Sehr geehrter Herr Kollege!
    Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß auf der Versammlung im
    Februar dieses Jahres beschlossen wurde, daß von jetzt an die P. A. Gesell-
    schaft (die schon seit 3 Monaten monatlich ihre Versammlung hielt) die Form
    einer Vereinsorganisation annehmen solle. Deshalb ist der **„Nederlandsche
    Vereeniging voor Psychoanalyse“** (Niederl. Verein f. Psychoanalyse)
    jetzt errichtet. Er ist eine Abteilung der Internat. psychoanalyt. Verein.
    Zu Funktionären wurden gewählt: Dr. A. W. van Renterghem, Präsident,
    Dr. J. Stärcke, Sekretär, Dr. A. van der Ghys, Kassier. Weitere Mitglieder
    sind: Dr. J. E. G. van Emden, Dr. A. H. W. van Ophuijsen, Dr. Ad.
    P. Meijer (den Haag), Prof. G. Jellgersma (Leiden), Dr. A. Stärcke
    (den Dolder), Dr. W. H. Cox (den Dolder), Dr. F. Muller (Haarlem),
    Dr. B. van de Linde (Hilversum), Prof. K. H. Bouman (Amsterdam),
    Dr. J. H. van der Hoop (Amsterdam).
    Mit kollegialer Hochschätzung Ihr ergebener
     

    J. Stärcke m. p.

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    Zur psychoanalytischen Bewegung.

    Nunmehr ist der dritte und abschließende Teil der „Vorlesungen
    zur Einführung in die Psychoanalyse“ von Prof. Freud, welcher
    die Neurosenlehre behandelt, im Verlage von Hugo Heller & Cie. erschienen.
     

    * * *

    Herr Pfarrer **Dr. Oskar Pfister** aus Zürich hielt in Berlin im
    Christlichen Verein für junge Männer zwei Vorträge; er sprach am Mittwoch
    den 11. und Donnerstag den 12. April vor Psychologen, Theologen und
    Pädagogen über das Thema: „Was leistet die Psychoanalyse den
    Seelsorger?“ und am Mittwoch den 11. April, abends, vor einem weiteren
    Kreise psychologisch interessierter Erzieher über „Das gefährdete Kind
    und seine psychoanalytische Behandlung“.
     

    * * *

    Im April 1917 hielt Dr. Hanns Sachs in Wiener Monistenbund einen
    Vortrag über „Die Traumtheorie Freuds“.
     

    * * *

    In Boston erschien die englische Übersetzung einer Sammlung psycho-
    analytischer Aufsätze von **Dr. S. Ferenczi** unter dem Titel: **Contributions
    to Psycho-Analysis.** By Dr. S. Ferenczi (Budapest). Authorized
    translation by Ernest Jones, M. D. (London). Contents: The Analytic
    Interpretation and Treatment of Psychoses; Introjection, Introjection, and
    Transference; The Psychological Analysis of Dreams; On Obscene Words;
    On the Part Played by Homosexuality in the Pathogenesis of Paranoia; On
    *Anadiem*, Transitory Symptoms, Constructions during the Analysis; Stages
    in the Development of the Sense of Reality; A little Chanticleer; Symbolism:
    I. The Symbolic Representation of the Pleasure and the Reality Principles
    in the Oedipus Myth, II. On Eye Symbolism, III. The Ontogenesis of Symbols;
    Some Clinical Observations on Paranoia and Paraphrenia; The Nosology of
    Male Homosexuality (Homo-Erotism); The Ontogenesis of the interest in Money.
    R. G. Badger, Publisher, Boston.
     


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