Zur psychoanalytischen Bewegung [November 1913] 1913-772/1913
  • S.

    Zur psychoanalytischen Bewegung.

    Unser geschiitzter Mitarbeiter Prof. J. J, Putnam in Boston hat sich
    von seiner Klinik und Lehrtätigkeit zurückgezogen, aus welchem Anlaß die
    Neurologische Abteilung der Harvard Medical School in Boston einen mit dem
    wohlgetroffenen Bild des Gelehrten geschmückten Sammelband herausgibt,
    der die verstreuten Abhandlungen desselben vereinigt. Der stattliche Band enthält
    auch eine Reihe von psychoanalytischen Aufsätzen, die den Lesern der Zeit-
    Schrift größtenteils bekannt sein dürften,

    Das „British Medical Journal“ bringt in der Nummer vom
    5. Juli 1913 außer dem an anderer Stelle (S. 585) angezeigten Artikel von
    Forsyth überPsychoanalyse noch einen redaktionellen Artikel über dasselbe
    'Thema, der sich in teils anerkennender, teils kritischer Weise mit den Lehren
    Freuds auseinandersetzt.

    Dr. T. Hatherley Pear (London) sprach in einem ,Meeting of the
    Psychology Subsection of Physiology“ über „Current Theories of Dream
    Interpretation“, wobei er hauptsächlich die Fr e u d sche Lehre darstellte. (Auszug
    bringt die „Times“ vom 17. September 1913.)

    In der Zeitschrift „Grundfragen der Psychologie und Pädagogik“, III. Jahr-
    gang, Nummer 10, schreibt Prof. Dr. Dürr über Gemiitsbilding. Er
    schildert, wie die HaB- und Rachetriebe durch gewaltsame Unterdrückung zu
    verdrängten Komplexen führen. Dann fährt er fort: „Der überwiegend
    und auf ungenügende (d. h. für normale Menschen nicht genügende) Ver-
    anlassung hin in negativen Gemütsstimmungen lebende Mensch leidet an einer
    kranken Seele. Er bedarf vor allem der Heilung und kann mit anderen
    Arten der erzieherischen Beeinflussung wenig oder nichts anfangen. Be-
    sonders Versuche der sittlichen Selbsterziehung pflegen einer solchen -armen
    Seele klüglich zu miflingen. Um so erfreulicher sind die Erfolge, die Seel-
    sorger, Ärzte und Erzieher mit Hilfe der psychoanalytischen Methode der
    Behandlung der an verdrüngten Komplexen Leidenden aufzuweisen haben,
    und es ist begreiflich, daß Pädagogen, die gerade auf dem Gebiete der Ge-
    mütsbildung bisher kaum anderes zu lehren wußten, als die billige und oft so
    unfruchtbare Weisheit der Moralpüdagogik, sich mit groDer Begeisterung der
    neuen Riehtung anschlieen, Aber so wichtig die Heilpüdagogik und speziell
    der auf psychoanalytische Forschung gegründete Teil derselben innerhalb des
    Ganzen der Erziehungslehre ist, so darf man doch nicht vergessen, daB Bil-
    dung doch etwas anderes ist als Heilung.‘

    In Nummer 11 (vom 1. August 1913) nennt Dürr das eben erschienene
    Werk von 0. Pfister „Die psychoanalytische Methode“ „eine der bedeut-
    samsten Erscheinungen der püdagogischen Literatur der letzten Jahre, ja man
    kann sagen der letzten Jahrzehnte“,

    Prof Dr. Dürr, Ordinarius der Berner Universitüt, ist Verfasser einer
    vortrefflichen „Einführung in die Pädagogik“. (Seit Einsendung dieser Notiz
    hat die Wissenschaft den allzu frühen Tod des ausgezeichneten Forschers zu

  • S.

    Zur psychoanalytischen Bewegung. 608

    beklagen. Wir bringen in der nächsten Nummer eine Würdigung seiner
    Leistungen mit besonderer Rücksicht auf sein Eintreten für die Psychoanalyse
    aus der Feder von Dr. Oskar Pfister.)

    Dr. Vietor Tausk hilt auch in diesem Semester einen Kurs über
    Elemente der Psychoanalyse (mit Übungen) für Ärzte und Studierende. Der
    Kurs findet jeden Donnerstag, von 8 bis 10 Uhr abends, im ,Institut für nervüse
    Gehstürungen“ des Herrn Dr. Karl Weiß, Wien, IV, Schwindgasse 12 statt.

    Herr Dozent C. G. Jung hat seinen Namen von der Mitarbeiterliste
    dieses Blattes zurückgezogen.

    Vom akademischen Komite für Schulreform, einer Vereinigung von
    Studenten z. Z. der Hochschulen Berlin, Freiburg, Greifswald, Heidelberg,
    Jena, Leoben, München, Prag, Wien, wird die Gründung eines „Archivs für
    Jugendkultur“ angestrebt, dessen Aufgabe u, a. ist, „Materialsammlungen zur
    Erforschung des Problems der Gemeinschaftsbildung der Jugend, des Problems
    der jugendlichen Produktivität und des Problems des jugendlichen Geschlechts-
    lebens“, Der gegenwärtige Arboitsleiter Siegfried B e rnfel d, Wien, XIII/9 Suppée-
    gasse 10, „bittet die Leser dieser Zeitschrift, dem Archiv gelegentlich Material
    zuzusenden, Besonders wenden wir uns an psychanalysierende Ärzte und
    Pädagogen mit der Bitte um Überlassung von Analysenprotokollen und Kran-
    kengeschichten Jugendlicher, und um die Überlassung jener Teile aus den
    Analysen Erwachsener, die für die Kenntnis der jugendlichen Psyche auf-
    klärend sind“.

    Seit März 1912 erscheint ein neues psychologisches Archiv in französi-
    scher Sprache unter dem Titel Études de Psychologie publ. par
    A, Michotte, Prof. de Psych, à 1'Univ. de Louvain.

    Von Prof. Freud erschien die ,Dritte Folge“ der „Sammlung
    kleiner Schriften zur Neurosenlehre (im Verlage Deuticke, Wien)
    mit folgendem Inhalte :

    I. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben.
    II. Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose.
    III. Pychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschrie-
    benen Fall yon Paranoia (Dementia paranoides).
    IV. Nachtrag zu dem autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia
    (Dementia paranoides).
    V. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens,
    VI, „Uber den Gegensinn der Urworte.“
    VII. Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie.
    VIII, Über „wilde“ Psychoanalyse,
    IX. Über neurotische Erkrankungstypen.
    X. Die psychogene Sehstórung in psychoanalytischer Auffassung.

    Ferner erschien von Freud: Totem und Tabu. Einige Uber-
    einstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neuro-
    tiker (im Verlag H. Heller & Cie., Wien) mit folgendem Inhalte :

    T. Die Inzestscheu.
    II. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen.
    III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken.
    IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus.
    Die ,Scientia“ bringt eine Abhandlung von Prof. Freud: „Das
    Interesse an der „Psychoanalyse“, deren erster Teil im Band XIV, Jahr-
    gang 7, 1913, Nr. XXXI-5, seeben erschienen ist.

  • S.

    604 Zur psychoanalytischen Bewegung.

    Freuds ,Psychopathologie des Alltagslebens“ erschien

    soeben in polnischer Übersetzung von Dr. L, Jekels und Helene Ivánka.

    Vom „Jahrbuch fiir psychoanalytische und psychopathologische For-
    schungen“ enthält der kürzlich erschienene erste Halbband des V. Jahrganges
    (1913) folgende Beiträge:

    Itten: Beiträge zur Psychologie der Dementia praecox,

    Jones: Einige Fälle von Zwangsneurose.

    Pfister: Kryptolalie, Kryptographie und unbewußtes Vexierbild bei
    Normalen.

    Sadger: Über den sado-masochistischen Komplex.

    Stärcke: Neue Traumexperimente im Zusammenhang mit älteren und
    neueren Traumtheorien,

    Jung: Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie.

    Bleuler: Der Sexualwiderstand.

    Maeder: Zur Frage der teleologischen Traumfunktion.

    Das Oktober-Heft (Nr. 5 des II. Jahrganges, 1913) von , Imago enthält :

    Lou Andreas-Salomé: Von frihem Gottesdienst.

    Prof. Ernest Jones: Andrea del Sartos Kunst und der EinfluB
    seiner Gattin.

    Dr. Oskar Pfister: Die Entstehung der künstlerischen Inspiration.

    Kinderseele redigiert von Dr. H. v. Hug-Hellmuth,

    Von Dr. Rank und Sachs erschien: Die Bedeutung der
    Psychoanalyse fir die Geisteswissenschaften (Grenzfragen des
    Nerven- und Seelenlebens, herausgegeben von Hofrat Lüwenfeld, Nr. 93) mit
    folgenden Abschnitten :

    I. Das Unbewufite und seine Ausdrucksformen,
    II. Mythen- und Mårchenforschung.
    III. Religionswissenschaft.
    IV. Ethnologie und Linguistik.
    V. Ästhetik und Künstlerpsychologie.
    VI, Philosophie, Ethik und Recht.
    VII. Pådagogik und Charakterologie.