Accessoriuslähmung 1893-022/1893
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    Accessoriuslähmung. Unter A. versteht man gemeinhin die Lähmung
    der beiden vom N. accessorius versorgten spinalen Muskeln (Sternocleidomastoi-
    deus und Cucullaris), obwohl derselbe Nerv auch (als Accessorius vagi) einen
    Antheil an der Innervation des Kehlkopfes, des weichen Gaumens und der Rachen-
    muskeln hat.

    Lähmung des M. sternocleidomastoideus wird daran erkannt, dass der
    Kopf leicht schief steht, das Kinn nach der kranken Seite gedreht und etwas
    gehoben ist, dass die willkürliche Beweglichkeit des Kopfes nach der anderen Seite
    eingeschränkt, während die passive Beweglichkeit erhalten ist. Nicht selten
    findet sich neben Lähmung des einen Muskels Contractur seines symmetrischen
    Antagonisten, was sich durch Hemmung der passiven Beweglichkeit kundgibt.
    Wenn die Haltung des Kopfes kein sicheres Zeichen abgiebt, prüft man an den
    erhabenen Enden des Kopfes bei liegender Stellung; bei Lähmung des Accessorius fehlt
    dann das characteristische Vorspringen des Muskelbauches. Bei ein wie bei doppel-
    seitiger Lähmung gibt übrigens auch die Adduction Auskunft.

    Die Lähmung des M. cucullaris wird an der veränderten Stellung des
    Schulterblattes erkannt. Der Acromionale dieses Knochens sinkt dann nach vor
    und abwärts herab, der innere Rand ist von der Wirbelsäule entfernter und steht
    schief, das Schulterblatt erscheint als Ganzes mit seinem inneren Winkel am
    M. levator scapulae aufgehängt. Bei doppelseitiger Lähmung ist der Rücken

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    ACCESSORIUSLÄHMUNG.  ACCOMMODATIONSKRAMPF.                                                     39

    durch das Herabsinken beider Schulterblätter in querer Richtung verbreitet. Es
    kommt häufig auch Lähmungen einzelner Portionen des Muskels vor, bei denen
    die Stellung des Schulterblattes eine etwas verschobene ist, aber welche zur Folge
    haben, dass bei activen Bewegungen dieses Knochens die Thätigkeit der erhaltenen
    Synergisten des Cucullaris auffällig hervortritt. Wenn die Clavicularportion allein
    erhalten ist, so ist noch eine leichte willkürliche Hebung der Schulter möglich,
    und bei tiefem Athmen hebt sich die kranke Schulter so gut wie die gesunde.
    Diese Erhebung der Schulter beim Athmen fällt auch bei isolirter Lähmung der
    Clavicularportion aus.

    Isolirte Lähmung des Sternocleidomastoideus (mit oder ohne Contractur
    des symmetrischen Muskels) ist zumeist Folge peripherischer (sog. rheumatischer)
    Erkrankung dieses Muskels oder des ihn versorgenden Nervenastes, kann aber
    auch Folge von Compression des Nerven durch benachbarte Drüsen, Exsudate u. s. w.
    sein. Sie kommt ferner congenital vor als eine Form von Caput obstipum und ist
    dann wahrscheinliche Folge eines bei der Geburt erlittenen Traumas.

    Isolirte Lähmung des M. cucullaris oder einzelner Portionen desselben,
    zumeist von erheblicher und auffälliger Atrophie begleitet, findet sich hauptsächlich
    als Theilerscheinung einer progressiven Muselatrophie, von welchem Leiden der
    M. sternocleidomastoideus ungleich seltener befallen wird.

    Die gleichzeitige Erkrankung beider Muskeln deutet auf eine Erkrankung
    des N. accessorius, welche verschiedene Ursachen haben kann. Es ist hier wichtig
    festzustellen, ob nebst der Lähmung der beiden spinalen Muskeln Symptome von
    Affection des Accessorius vagi vorhanden sind, wie: Heiserkeit, Gaumenparese,
    eventuell Pulsbeschleunigung, in diesem Falle betrifft die Schädlichkeit den Nerven
    in der Schädelhöhle und kann in entzündlicher Affection, Neubildung, Caries der
    Schädelbasis bestehen (multiple Hirnnervenlähmung). Fehlen solche Symptome, so
    hat man es nur mit Erkrankung des spinalen Accessorius zu thun. Dieselbe kann
    immer noch im Rückenmarkscanal begründet sein (Caries der Halswirbelscule)
    oder auf eine entzündliche, comprimirende oder traumatische Ursache längs des peri-
    pherischen Nervenverlaufes zurückgeführt werden. Lähmung durch Erkrankung
    der intracerebralen Bahn des N. accessorius verräth sich dadurch, dass willkür-
    liche Contractionen der beiden Muskeln unmöglich sind, während die automa-
    tische Mitbewegung der Schulter beim tiefen Athmen erhalten ist.

    Da die Diagnose der A. so vorwiegend auf der Stellungsveränderung des
    Kopfes und der Scapula begründet ist, liegt die Gefahr, falsche Stellungen
    durch Contractur anderer Muskeln mit den Folgen einer A. zu verwechseln. Man wird
    daher an dem für gelähmt gehaltenen Muskel auch eine Veränderung der electrischen
    Erregbarkeit (s. „Electrodiagnostik“) nachzuweisen bemüht sein.          Freud.