Agraphie 1893-023/1893
S.

62                                                                          AGONIE.  AGRYPNIE.

 

Agraphie (αγειρω schreiben). A., Verlust der Fähigkeit zu schreiben,
im Sinne einer Aphasie, kann nur diagnosticirt werden, wenn keine Lähmung
der zum Schreiben verwendeten Hand besteht. Sie findet sich auch dann nur
selten als isolirte aphasische Störung, vielmehr zumeist als Begleiterscheinung
einer motorischen Aphasie, andermals in Abhängigkeit von aphasischen Störungen
sensorischer Natur. Eine gewisse Unabhängigkeit des Schreibvermögens von diesen
andersgearteten aphasischen Ausfallssymptomen findet sich bei manchen Personen
als individuelle Erwerbung.

Bei der Prüfung auf A. ist der Kranke entweder nicht im Stande, einen
einzigen Buchstaben zu schreiben, oder es gelingt ihm der eine und andere
(Schreiblähmung), den er dann in unberechtigter, hakenförmiger Verwachsung wiederholt. Dies ist die
Amnesie, das Vergessen der Handbewegungen, welche zum Schreiben der Buch-
staben erforderlich sind, ist das Hauptkennzeichen der A. Nicht selten ist es dem
Kranken möglich, seinen Namen als ganzen Zug zu produciren, obwohl er einzelne
Buchstaben darnach nicht zu schreiben vermag. Diese Abweichung von dem sonst
ganz analogen Verhalten bei motorischer Aphasie erklärt sich daraus, dass wir
unseren Namen so viel häufiger schreiben als aussprechen.

Während die Schreibbewegungen complet vergessen sind, können andere,
ähnlich hoch complicirte Leistungen der Hand vollkommen erhalten sein (z. B. Hand-
arbeiten, Zeichen). Auch die A. zeigt, die überhaupt nicht den blos symbolischen
Werth der Buchstaben haben, können bei A. Buchstaben erhalten sein. Das
Schreiben auf sensible Anregung (auf Dictat, auf Gelesenes) kann ebenso gestört
sein, wie das Spontanschreiben, oder es kann besser als dies von Statten gehen.
Wenn es nur gestört ist als das spontane Schreiben, so deutet dies auf eine
daneben bestehende sensorische Aphasie hin.

Für die Abhängigkeit der Schreibfähigkeit von den anderen Sprach-
leistungen gilt als ungefähre Regel, dass motorischer Ausfall meist auch A. mit
sich bringt, dass A. fast regelmässig bei acoustischem Ausfall besteht, und dass
optischer Ausfall die Schreibfähigkeit am wenigsten stört.

Geringere Grade von A. verrathen sich wie bei der Aphasie durch das
Vorwiegen der Paragraphie (s. d.) analog der Paraphasie. Nur für die isolirte A.
kann ein Versuch der Localisation gewagt werden (s. „Aphasie"). Die in Betracht
kommende Region ist der Ausläufer des Sprachfeldes gegen das Armcentrum, das
Wurzelstück der zweiten Frontalwindung.                                                               Freud.