Amnesie 1893-026/1893
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    98                                                 AMMONIAKVERGIFTUNG.  AMNESIE.

    Der Verlauf hängt ab von der Menge, dem Concentrationsgrade der
    eingeführten Flüssigkeit und von der Dauer der Einwirkung derselben und pflegt
    meist ein pro trahirter zu sein (s. o.).

    Der unter Umständen schwierige c h e m i s c h e  N a c h w e i s wird geführt durch
    die Untersuchung der Luft jenes Raumes, in welchem die Intoxication stattfand,
    auf erhöhten NH3-Gehalt, oder der Speisereste, respective des Mageninhaltes, des
    Ebrochenen oder einzelner Körpertheile (selten). Nachgewiesen wird NH3 durch
    den Geruch, durch Bläuung von feuchtem rothem Lackmuspapier, durch Ent-
    wicklung von weissen Salmiakdämpfen an einem in Salzsäure getauchten und
    über die fragliche Substanz gehaltenen Glasstab, durch Bläuung der Nessler-
    schen Reagens, durch Destillation organischer Substanzen u. s. w.    NEUMANN.

    Amnesie (αμνησια, Erinnerung) bedeutet in der Sprache der heutigen
    Medicin das eine Mal Mangel der Erinnerung (für einen bestimmten Sinneseindruck,
    eine Handlung) überhaupt, das andere Mal findet der Terminus eine besondere
    Verwendung in der Lehre von der Aphasie. Der A. in ersterem Sinne kommt
    eine grosse Bedeutung zu. Wenn ein Mensch für einen Sinneseindruck, den er
    empfangen oder eine Handlung, die er ausgeführt, hinterher amnestisch ist, dürfen
    wir schliessen, dass diese Eindrücke und Handlungen einem Zustande seines
    Bewusstseins angehört haben, welcher nicht sein normaler ist. Eine Art von A.,
    welche auch beim Gesunden Menschen angetroffen wird, ist die für das im Schlaf
    Erlebte, für die Träume. Der Bewusstseinszustand des schlafenden Menschen ist
    ein anderer als der des wachenden, und Eindrücke des einen Zustandes werden
    in der Regel nicht mit in den anderen hineingezogen, sie werden nicht mit Ein-
    drücken des anderen Zustandes associirt, nicht aber unter einander. Wie wir beim
    Erwachen an die Erlebnisse des vorigen Tages anknüpfen, so setzt auch häufig
    der Traum einer Nacht das Träume einer früheren fort. Doch beweist gerade
    nicht der Umstand, dass wir von letzterer Thatsache Kenntniss haben, dass diese A.
    nicht immer eine vollständige ist, dass die Träume beider Bewusstseinszustände
    häufig durchbrochen wird. Tritt beim normalen Menschen der Schlaf bewusstsein
    so sehr gegen das Wachbewusstsein zurück, so wird in seltenen Fällen beobachtet,
    dass Menschen in zwei nahezu gleich gut ausgebildeten Bewusstseinszuständen
    existiren, die in regelmässiger oder unregelmässiger Folge Abwechseln und von
    denen je einer für Eindrücke und Thätigkeiten des anderen A. bekundet (der
    berühmte Fall von Dr. Azam); hier ist die A. vom Schlaf unabhängig. Den
    Uebergang zur A. unter pathologischen Bedingungen findet man bei jenen Personen,
    die auf der Höhe des Affectes (Zorn) amnestisch werden. Die pathologischen
    Bedingungen, unter denen A. vorzugsweise zu Stande kommt, sind Trauma,
    Intoxication, Status epilepticus und Hysterieus. Es sind mit Sicherheit Fälle ver-
    zeichnet worden, in denen der Kranke nach einem Trauma des Schädels mit
    Gehirnerschädigung für eine jüngere Periode seines Vorlebens (aber immer nur für
    eine r e c e n t e, bis zum Trauma reichende) amnestisch wurde, so dass er oft unter
    erheblicher Charakterveränderung eine zusammenhängende Gehirnthätigkeit ent-
    wickelte, welche von den Eindrücken der vergessenen Lebensperiode absah. In
    einigen Fällen wurden diese Eindrücke wieder erweckt, nachdem eine von dem
    Trauma herrührende Schädigung des Gehirnes beseitigt war. Andeutungen dieses
    leichter merkwürdigen Verhaltens kann man nach jedem Trauma beobachten. Es
    ist sehr gewöhnlich, dass ein Kopfverletzter, ehe er die Besinnung verliert, Worte
    spricht und Handlungen verrichtet, für die ihm nach seiner Genesung jede Er-
    innerung fehlt. Die A. nach Intoxication und die meist unvollkommenere bei acuten
    fieberhaften Erkrankungen sind bekannter.

    Eine ganz besondere diagnostische Bedeutung gewinnt die A., wenn sie sich
    bei einer Person für eine anscheinend planmässig ausgeführte Handlung oder Reihe
    von Handlungen, für ein Verbrechen, einen Todesunfall oder sonstige Geistes-
    störung von kurzer Dauer erweisen lässt. Diese Handlungen werden hierdurch

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    AMNESIE.  AMPHORISCHES ATMUNGSGERÄUSCH.                                                                               99

    als Aequivalente epileptischer Anfälle und die Person als Epileptiker gekenn-
    zeichnet. Man wird dann, um den Verdacht zur Diagnose zu erheben, auf here-
    ditäre Belastung, Fransenanfälle im frühen Kindesalter, Degenerationszeichen,
    Intoleranz gegen Alkoholica und das Vorkommen vereinzelter Anfälle von
    allgemeinen Convulsionen oder von deren Aequivalenten (nächtliche Haut-
    incontinenz u. s. w.) prüfen haben. Auch die Anknüpfung solcher Krankheits-
    zeichen an eine in der Jugend überstandene acute Infectionskrankheit ist charakte-
    ristisch (s. „Epilepsie").

    Die A. nach einem Anfalle von Convulsionen ist wenig characteristisch,
    da sie sich genau so bei echten Epileptikern wie bei hysterischen Anfällen und bei
    solchen findet, die man als „epileptiform“ (vereinzelnte symptomatische Epilepsie)
    bezeichnet. Diagnostisch bedeutsamer ist das Fehlen der A. nach solchen Anfällen.
    Wenn z. B. Jemand plötzlich mit schnelleren Blicken stürtzt, ohne für die Details
    dieses Anfalles A. zu zeigen, so schliesst dieser Umstand die Diagnose der
    Epilepsie aus und deutet auf eine At t a q u e  v o n  M E N I È R E ' s c h e r  E r k r a n k u n g.
    Nur bei halbseitiger Epilepsie kann die A. fehlen. Bei Hysterie kommen Anfälle
    mit und ohne A. vor. Die A. ist aber hier immer nur eine scheinbare. Der
    hysterische Anfall geht in einem besonderen Zustande des Bewusstseins vor sich,
    dessen Erinnerung jedesmal durch eine Anstrengung zur Innervation ent-
    stehenden, weil er sich auf die Zunge beschränkt und durch die allgemeine
    Leistungsfähigkeit des Sprachapparates hervorgerufen ist, der hier nur mit
    dem Sprachverständnis verbunden sein soll.

    In der Lehre von der Aphasie spielt die A. als eines der Grundthatsachen
    der Sprachstörung eine grosse Rolle. Man unterschied früher (nach Kussmaul)
    amnestische und atactische Aphasie als die beiden Hauptgruppen der corticalen
    Sprachstörung. Nähere Analyse zeigt, dass A. in jedem Falle von Aphasie vorhanden
    sein muss. Was man atactische Aphasie genannt, das stellt sich als eine Mischform
    von motorischer Aphasie und Anarthrie dar (vergl. „Aphasie“, „Anarthrie“).       Freud.

    Amphorisches Athmungsgeräusch (αμφορεύς, Krug). Es ist ein von
    m e t a l l i s c h e m  K l a n g e, respective Nachklange begleitetes Athmungsgeräusch,
    dessen Grundcharakter gewöhnlich das bronchiale Geräusch ist, aber auch das
    unbestimmte Geräusch sein kann. Es entsteht in g r o s s e n  L u n g e n h ö h l e n
    und bei P n e u m o t h o r a x, also unter denselben pathologischen Bedingungen,
    welche auch dem Percussionsschall den metallischen Beiklang geben. Es kann
    sowohl bei der Inspiration als bei der Exspiration gehört werden, doch pflegt es
    bei der Exspiration lauter zu sein.

    Die diagnostische Bedeutung des A. A. ist durch sein auf Lungenhöhlen
    und Luft im Pleuraraum beschränktes Vorkommen gegeben, es handelt sich also
    im Einzelfalle nur darum, diese beiden Zustände von einander trennen zu können.
    Eine solche Trennung ist sehr einfach bei Berücksichtigung folgender Umstände:
    Bei einer Lungenhöhle ist das A. A. nur in den s p i t z e n Thoraxpartien hörbar,
    weil nur dort, also im Oberlappen, die sehr grossen, zur Production des Metall-
    klanges fähigen Höhlen vorkommen, und zwar ist es v o r n e, wegen des günstigeren
    Schalleitungsverhältnisses, mitunter lauter als an der correspondirenden hinteren
    Partie des Thorax wahrnehmbar, obwohl es ebendaselbst häufig half ist und
    niedrigeren Grades von Athmungsgeräuschen als in der
    Höhle führenden Bronchien, kann die Deutlichkeit des A. A. vermindert sein, wird
    aber wieder hergestellt werden, sobald nach Hustenstössen mit Expectoration die
    Bronchien mit der Höhle wieder frei communiciren. Der Hustenstoss erzeugt
    natürlich durch Erschütterung der Höhlenluft ebenfalls Metallklang, und noch
    stärker als die Athmungswellen bei der Exspiration jedes a. a. in Lungenhöhlen
    ist, wenigstens bei jeder stärkeren Athmung, von klingenden Rasselsgeräuschen
    begleitet, weil jede Höhle ausser Luft auch Unterhalt hat, bei Hustenstössen
    namentlich wird Zahl und Deutlichkeit der Rasselsgeräusche sehr vermehrt. Die
    lauten Rasselsgeräusche sind bei Hustenstössen auch von verstärktem Hustenschall,
     

    Diagnostisches Lexicon, I.                                                                                                                          7