Anarthrie 1893-027/1893
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    126                                                          ANÄSTHESIE.  ANARTHRIE.

    ähnlich wie bei der Alkoholneuritis. Bei der Diphtherieneuritis tritt die A. ge-
    wöhnlich gegen die Lähmung zurück. Die Häufigkeit der atactischen Störungen
    aber deutet hier auf A. tiefer Theile. Auch bei der Infectionskrankheit, die man
    schlechthin mult i p l e  N e u r i t i s oder r h e u m a t i s c h e  N e u r i t i s zu nennen pflegt, ist
    die A. der Lähmung untergeordnet, nicht findet man nur Schmerzen, Parästhesien,
    verhältnissmässig geringe Hypästhesie. Bei manchen Formen greift sich das Gift
    nur einen oder nur einige Nerven heraus. Dann besteht ungefähr das Bild einer
    N e r v e n q u e t s c h u n g = h e f t i g e r Schmerzen. So bei der Diabetisneuritis, die bald an
    den oberen, bald an den unteren Gliedern einen Nerven befällt, so bei der Neuritis
    puerperalis, die am häufigsten die Endäste des Nn. medianus und ulnaris ergreift,
    so beim Herpes zoster, wo Schmerzen und Analgesie in erster Reihe stehen. Alle
    diese Bemerkungen über Neuritisanästhesie haben nur relativen Werth, da das
    Stadium der einzelnen Formen durchaus nicht abgeschlossen ist.                    Möbius.

    Anakusie (ακουειν, hören), s. Taubheit und Taubstummbheit.

    Analgesie, s. Anästhesie.

    Anamnese, s. Diagnose.

    Anaphrodisie, s. Geschlechtsempfindungen, perverse.

    Anarthrie (αρθρον Gelenk). A. (Dysarthrie) bedeutet wie Alalie Articu-
    lationsstörung, d. h. Sprachstörung durch Störung der Lautbildung. Ist letztere eine
    Folge von Lähmung, so pflegt man für sie den Namen A. zu wählen, während
    die angeborenen Articulationsstörungen und die erworbenen mechanischen (durch
    Veränderung von Mundhöhle, Zunge, Rachen u. s. w.) als Alalie (respective Dys-
    lalie) bezeichnet werden.

    Hat man also bei einem bestimmten Falle von Articulationsstörung
    ausgeschlossen, dass dieses Verhalten von jeher bestand, und hat die Untersuchung
    keines der in Betracht kommenden mechanischen Momente aufgedeckt, so liegt
    eine A. vor, deren Symptomenbild noch einer Abgrenzung gegen die motorische
    Aphasie bedarf. Zur Unterscheidung der beiden Symptome wird Folgendes ver-
    werthbar: Der Aphasische zeigt Amnesie für das Wortbewegungsbild; er ist gern
    unbestimmt überhaupt nicht zu stande, oder setzt ein ähnlich klingendes oder sinn-
    verwandtes an die Stelle (Paraphasie); er hat zu dem Wortbewegungsbild keine
    andere Beziehung mehr, als dass er das zugehörige Klangbild erkennt. Diejenigen
    Worte aber, für welche er nicht amnestisch ist, producirt er mit correcter Laut-
    bildung. Der Anarthrische ist nicht amnestisch, er verfügt über das Wortbewegungs-
    bild (die „innere Sprache“, wie man sagt, ist bei ihm erhalten), er kann es aber
    nicht gut produciren; die Laute desselben gerathen ihm unordentlich oder un-
    deutlich. Der Anarthrische zeigt keine Verarmung seines Wortschatzes, wenn er
    noch so schlecht spricht; er zeigt doch Accent und Rhythmus seiner Rede die
    vollste Uebereinstimmung mit dem ihm vorschwebenden normalen Satze; die Störung
    der A. bezieht sich überhaupt mehr auf die Bildung der Laute, als auf die der
    Silben und Worte. Der Anarthrische behält die L i c h t h e i t der S i l b e n p r o b e, d. h.
    er kann von jedem verfügbaren Worte auf Unterlagen angeben, ob es lang oder kurz
    ist, wie viel Silben es hat u. dergl. Diese Silbenprobe lässt sich in vortheilhafter
    Weise für Trennung von A. und Aphasie bei der Diagnosestellung verwerthen.

    Motorische Aphasie und A. finden sich sehr häufig an denselben Kranken
    vereint. Hat man dann sowohl Amnesie, Wortverarmung, an- als unordentliche und
    unrichtige Lautbildung, die L i c h t h e i t h ' s c h e  P r o b e gelingt nicht mehr. Solche, der
    motorischen Aphasie ziemlich ähnliche Fälle pflegte man früher zur a t a c t i s c h e n
    Aphasie zu rechnen.

    Die diagnostische Bedeutung anarthrischer Symptome bei motorischer
    Aphasie lässt sich wahrscheinlich dahin bestimmen, dass die Läsion nicht mehr
    rein cortical ist, sondern das Mark unterhalb des motorischen Endes des Sprach-
     

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    ANARTHRIE.  ANASARKA.                                                                                     127

    feldes mit betrifft. Die A. ist die subcorticale Fortsetzung der motorischen Aphasie.
    Reine A. in Folge von Rindenerkrankung ist demnach selten. Je weniger die
    A. einer motorischen Aphasie ähnelt, desto weiter weg von der Rinde ist die
    Läsion zu verlegen. Dabei ändert sich der Charakter der A. Die Verwechslung
    der Laute tritt gegen die unvollkommene Lautbildung zurück, und es wird all-
    mälig möglich, die Articulationsstörung durch Parese der Zunge, von der durch
    Parese der Lippen, des Gaumens u. s. w. zu sondern. Dabei kann man indess
    immer beobachten, dass Buchstaben vereinzelt besser producirt werden, als in der
    Fügung eines Wortes.

    Diejenige Form der A., welche nicht mehr mit Aphasie verwechselt
    werden kann, wird durch einseitige Gehirnläsionen in der Regel nicht hervor-
    gerufen; sie findet sich darum nicht als Begleiterscheinung einer Hemiplegie,
    betrifft diese die rechte oder linke Körperhälfte. Die Sprachbahn ist nämlich von
    der Broca'schen Stelle doppelseitig ausgebildet, und bei Zerstörung ihrer einen
    Hälfte bleibt die andere zur Innervation aller bei der Articulation betheiligten
    Muskeln leistungsfähig. Es kommen indess individuelle Abweichungen vor, denen
    zufolge dann die eine, bald die andere subcorticale Sprachbahn überwiegende
    Bedeutung hat, so dass ihre Zerstörung zu anarthrischen Symptomen führt. Man
    darf darum nicht mit Bestimmtheit aus dem Symptom der A. auf doppelseitige
    Hirnläsion schliessen.

    Die Stätte des Verlaufs der Sprachbahn, durch deren Zerstörung A.
    hervorgerufen wird, sind innere Kapsel, Brücke und die Kernregion der Oblon-
    gata. In der inneren Kapsel und Brücke scheinen die Sprachbahnen in den innersten
    Bündeln der Pyramidenfaserung enthalten zu sein. A. ist ein Localsymptom für
    doppelseitige Erkrankung dieser Stellen, welches immer den Process der Erkrankung
    sehr günstig, der, wie immer von den klinischen Gegenständen des Falles erschlossen
    werden muss. Begleitender Weise findet sich A. von diesen Stationen aus in
    Gemeinschaft mit grober, bald ein-, bald doppelseitig ausgeprägter Lähmung der
    Process der sprachbildenden Musculatur, der Zunge, des Kehlkopfes, des Rachens
    und der Gesichtsmuskeln. Doch ist die A. das feinere Symptom, welches bereits
    auf eine Störung reagirt, wenn die groben Bewegungen dieser Organe noch
    erhalten scheinen. Die A. von der inneren Kapsel (doppelseitige Erkrankung der
    Ganglienzellen), die von der Brücke lassen sich von der bulbären A. trennen
    durch das Fehlen der Atrophie an den oben genannten Organen und durch die
    Steigerung der Reflexe (Masseterenreflexe). Sie werden auch als Pseudobulbär-
    paralysen (s. d.) zusammengefasst. Häufiger und meist hochgradiger ist die A. in
    Folge von Erkrankung der Kerne des Hypoglossus, Trigeminus, Vagus und
    Facialis in der Medulla oblongata, welche von Atrophie und Reflexentziehung in
    den entsprechenden Muskeln begleitet ist. Der häufigste dort vorkommende Process
    ist die chronische Bulbärparalyse (s. d.); doch kann meist auch für diese Localität
    der Process nur aus Nebenumständen des Falles (Verlauf, spinale Complicationen
    etc.) erschlossen werden.                                                                                            Freud.

    Anasarka. Unter A. versteht man das seröse Durchtränktsein des Zell-
    gewebes der Hautdecken. Entsprechend dieser Anschaung der Maschenung des
    Zellgewebes der Haut mit Serum, ist die Haut g e s c h w o l l e n, eigenthümlich bleich
    und transparent, bei hochgradigem A. p r a l l  g e s p a n n t und hat eine t e i g-
    a r t i g e  C o n s i s t e n z. Verdrängt man nämlich durch Fingerdruck die Flüssigkeit
    aus den Maschenräumen einer Hautstelle in die Umgebung, so bleibt der
    F i n g e r e i n d r u c k, längere Zeit in der Haut sichtbar, besteht bisweilen, was so
    wie in Thon, Wachs oder einer sonst leicht knetbaren Masse.
    Dieses Bestehenbleiben des Fingereindruckes ist das Hauptmerkmal, aus welchem
    man auf das Symptom A. schliessen kann. Ist der Erkenntniss einer A. ist aber
    zur Erlangung des sichteren Diagnose noch nicht viel geschehen, da dieses
    Symptom bei verschiedenen Krankheiten vorkommen kann.